Das Geschenk des Glaubens in den Herausforderungen des Lebens

Predigttext: 1. Johannes 5,1-4
Kirche / Ort: Herborn
Datum: 2. 05. 2004
Kirchenjahr: Jubilate (3. Sonntag nach Ostern)
Autor/in: Probst Michael Karg

Predigttext: 1. Johannes 5,1-4 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)

Wer glaubt, daß Jesus der Christus ist, der ist von Gott geboren; und wer den liebt, der ihn geboren hat, der liebt auch den, der von ihm geboren ist. 2 Daran erkennen wir, daß wir Gottes Kinder lieben, wenn wir Gott lieben und seine Gebote halten. 3 Denn das ist die Liebe zu Gott, daß wir seine Gebote halten; und seine Gebote sind nicht schwer. 4 Denn alles, was von Gott geboren ist, überwindet die Welt; und unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat.

Exegetische und homiletische Hinweise

I. Der erste Brief des Johannes bietet keine systematische Entfaltung der Lehre des christlichen Glaubens, sondern will die Gemeinde in ihrem Glauben gegenüber Irrlehrern und irregeleiteten Christen und Christinnen stärken. Es geht nicht um die Frage, ob man sich zu Christus, sondern zu was für einem Christus man sich bekennt. Die vermutlich gnostischen Gegner erheben den Anspruch, Gott in besonderer Weise zu kennen (2,4). Das hebt sie hoch über die normalen Gemeindechristen empor. Indem sie aber in ihrem Dualismus Christus als Geistwesen verstehen, der seine Anhänger vom Irdischen befreit und sie in himmlische Sphären entführt, verleugnen sie den ins Fleisch gekommenen Christus und die an seinem Vorbild orientierte Lebensweise seiner Nachfolger. Wer wirklich an Christus glaubt, glaubt an Jesus als den messianischen Erlöser, der das irdische Leben bis zur letzten Konsequenz mit allen Menschen geteilt hat. Dieser Glaube ist nicht abtrennbar vom Tun der Gerechtigkeit. Christologie und Orthopraxie sind untrennbar verbunden, ebenso wie Christus nicht ohne seine leibliche Existenz zu denken und zu glauben ist: Der ganze Christus ist der Erlöser, nicht nur der zum Himmel erhobene. Diese Auseinandersetzung durchzieht den ganzen Brief. Sie wird in immer neuen Gedankengängen parallel entwickelt, wobei die parallelen Aussagen sich gegenseitig ergänzen und vertiefen. Der Predigttext 1 Joh 5, 1-4 fasst die grundsätzlichen Aussagen noch einmal zusammen: Wer an Christus in diesem Sinn (s.o.) glaubt, der ist in ein neues Leben geboren, der ist „Gottes Kind“. Dies wiederum verbindet ihn mit den anderen Gotteskindern und bindet ihn an den Willen (die Gebote) Gottes. Das aber ist keine (zusätzliche) Leistung, sondern Folge der „neuen“ Geburt. Die Kraft dazu kommt aus dem Glauben, in dem die Welt (und ihre Anfeindungen bzw. Irrwege) schon überwunden ist. II. Wir erleben in unserer Zeit eine Abkehr von Kirche und eine nicht zu übersehende Hinwendung zum „Religiösen“. Die Kirchen werden leerer, volkskirchliche Bräuche funktionieren allenfalls noch an Weihnachten, aber neben der organisierten Religion entsteht Neues. Esoterische Zirkel werben mit Meditations- und Wellness-Wochenenden, buddhistische und neugnostische Gruppen ziehen Menschen an. Die Zeiten der großen Ideologien und Heilsversprechungen (seien sie sozialistischer oder kapitalistischer oder einfach wissenschaftlicher Art) sind vorbei. Auch die Freiheit des Konsums gerät an ihre Grenzen. Der Mensch ist auf sich selbst und sein Leben gestellt, aber es muss etwas darüber hinaus geben. Man glaubt wieder an „irgend etwas“, strebt zum „Licht“ oder zur „Erleuchtung“, fühlt in sich die Kräfte des Universums oder besinnt sich mit Hilfe von Übungen auf die eigenen Kräfte. „Wer ich bin, was mein Lebenssinn ist, warum ich so und nicht anders bin, warum ich überhaupt bin, was mein Leben zusammenhält, das sind die religiösen Fragen, die jeder Einzelne individuell beantworten muss, ohne auf Pauschalantworten zurückgreifen zu können. Und im Angesicht der eigenen Unverfügbarkeit gilt es, den integralen Sinn des eigenen Lebens zu erheben. Nach eigener Gewissheit formulieren Menschen ihren Glauben unabhängig von der Überzeugung anderer, und in ihrem eigenen Herzen verbirgt sich ihre religiöse Gestimmtheit, oft ohne ausgesprochen zu sein. ‚Religion’ erscheint also heute vor allem als ein lebensbegleitendes Gefühl, als der Kitt der persönlichen Erfahrungen, als der Stoff, der die biographischen Stationen sinnhaft zusammenhält.“ (Matthias Morgenroth, Weihnachts-Christentum, Gütersloh 2002, S. 133) Im Mittelpunkt steht das Individuum, das bei sich selbst und seinem Patchwork-Glauben bleibt. In der Predigt wird es darauf ankommen, diesen Patchwork-Glauben in seelsorgerliche Weise aufzunehmen und ihn zu dem Bekenntnis zu führen, das grundlegend ist für unseren Text: Wer glaubt, dass Jesus der Christus ist, der ist von Gott geboren. (5,1a.) Am Schluss steht der Text von Lothar Zenetti „Ein Mensch wie Brot“, in dem der Glaube an Jesus als den Messias in unnachahmlicher Weise beschrieben und zum Osterglauben hin durchbuchstabiert wird.

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Liebe Gemeinde,

haben Sie Glauben?

Das mag in einem Gottesdienst eine merkwürdige Frage sein. Natürlich, werden einige denken, sonst wären wir doch nicht hier! Gerade haben wir doch miteinander unseren Glauben bekannt: an Gott den Vater, den Sohn und den heiligen Geist. Da ist unser Glaube formuliert, schwarz auf weiß zu lesen. Was für eine Frage.

Andere würden vielleicht etwas vorsichtiger sagen: Mit dem Glauben ist es so eine Sache. Ich möchte ja gerne glauben; ich bemühe mich immer wieder. Aber die klaren Aussagen des Glaubensbekenntnisses sind für mich gar nicht immer so klar. Ich versuche, meinen eigenen Glauben zu finden.

Möglicherweise könnten einige auch sagen: Eigentlich hat ja jeder Mensch einen Glauben. Auch diejenigen, die heute nicht hier sind und sich selten oder nie hier sehen lassen. Wenn man mit ihnen ins Gespräch kommt, kann man manchmal etwas davon hören oder spüren. Auch diese Menschen tragen einen Glauben „im Herzen“: den Glauben, dass es über das vorfindliche Leben hinaus etwas „Höheres“ geben muss, etwas, das ihnen hilft, ihr eigenes Leben mit seinen Brüchen und Ungereimtheiten als etwas Sinnvolles zu begreifen. Der Glaube, dass es angesichts vieler Widerwärtigkeiten in dieser Welt etwas anderes, Schönes, Gutes geben muss, etwas, das ihnen Kräfte verleiht, ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen.

Diese und ähnliche Äußerungen sind Ihnen und mir bekannt – und wenn wir es recht überlegen, sind sie uns gar nicht so unsympathisch. Denn was soll ein Glaube, wenn er sich nicht in meinem Leben auswirkt? Mich nicht heraushebt aus den oft so belastenden Alltäglichkeiten? Ich brauche einen Glauben, der mich über die oft so furchtbaren täglichen Nachrichten und die belastenden Erfahrungen meines persönlichen Lebens hinausbringt: Terroranschläge und Kriegsgeschrei, Armut in Ländern der dritten Welt und soziale Ungerechtigkeit bei uns, Mobbing am Arbeitsplatz und Zerreißproben in Ehe und Familie, Erfahrungen von eigener Krankheit und dem Verlust lieber Angehöriger. Ja, nach diesem Glauben suche ich – und manchmal scheint er so weit weg zu sein.

Welcher Glaube hilft uns?

Um die Frage des Glaubens geht es auch in unserem Text, im gesamten Zusammenhang des 1. Johannesbriefes. Welcher Glaube hilft uns, reißt uns heraus aus den alltäglichen Nöten und Bedrängnissen unseres Lebens? So fragte man damals schon.

Eine Antwort, die immer mehr Anhänger auch in der christlichen Gemeinde fand, lautete etwa folgendermaßen: Das kann nur ein himmlisches Wesen sein, ein Geistwesen, das auf die Erde kommt, meine Seele anrührt, himmlische Gefühle in mir weckt und mich im Grunde schon jetzt mit in den Himmel nimmt. Das irdische Leben mit all dem, was es mit sich bringt, ist eigentlich nur noch zweitrangig: Ob mein Bruder, mein Nächster hungert oder friert; ob Menschen unter den Mühlen einer Gewaltherrschaft leiden oder zerbrechen; ob Menschen aufgrund sozialer Ungerechtigkeit ins Abseits gedrängt werden oder nicht: Das alles ist nicht so wichtig. Hauptsache, ich habe meinen Glauben, der mich aus all dem herausnimmt und mich des Himmels gewiss macht. Mit den Niederungen des Alltags hat dieser Glaube nichts zu tun.

In deutlichem Gegensatz zu diesem Glauben sagt unser Predigttext: Wer glaubt, dass Jesus der Christus ist, der ist von Gott geboren. Das ist nicht nur ein Formel, die schnell über die Lippen geht, sondern dahinter steckt etwas Grundsätzliches. Wenn wir vom Glauben reden, wenn wir davon sprechen, dass es einen von Gott gesandten Retter und Erlöser, einen Heiland gibt – dann reden wir nicht von einem himmlischen Geistwesen, das auf geheimnisvolle Art auf die Erde gekommen ist und ebenso geheimnisvoll die Seelen der Gläubigen wieder mit sich in den Himmel genommen hat. Dann reden wir von dem Menschen Jesus von Nazareth, dessen Geschichte wir kennen: der in Bethlehem geboren, in Nazareth aufgewachsen, dann als Wanderprediger durch Galiläa gewandert ist und das Leben der Menschen geteilt hat, gerade auch derjenigen, denen es nicht gut ging, die am Rande der Gesellschaft standen. Der davon redete, dass Gott jedem Menschen nahe ist und deshalb kein Mensch abgeschrieben werden darf. Der vielen Menschen half, wieder eine neue Perspektive für ihr Leben zu gewinnen und von anderen deshalb misstrauisch beäugt wurde. Der den Ärger der Oberen auf sich zog und schließlich am Kreuz hingerichtet wurde.

Wer glaubt, so sagt der erste Johannesbrief, dass dieser Jesus der Christus ist, der von Gott gesandte Retter und Erlöser, der ist von Gott geboren. Also nicht der Glaube an irgend etwas, ein höheres Wesen, an die Kräfte des Universums oder an das Gute und Schöne, sondern der Glaube an Jesus als den Christus. Dieser Glaube hilft nicht nur dazu, die Welt und mein Leben zu bewältigen, sondern er „ist der Sieg, der die Welt überwunden hat“.

„Die Welt überwunden“! Redet der Schreiber des Briefes hier nicht zu groß von der Kraft des Glaubens? Weiß er nicht um die Anfechtungen der „Welt“? Kennt er nicht solche, die angesichts der Erfahrung von Leid ihr Zutrauen zu Gott verloren haben? Bei denen Angst, Zweifel und innere Leere den Glauben überwältigt haben – nicht umgekehrt? Wo soll denn dieser starke, die Welt überwindende Glaube herkommen, wenn er ständig in Gefahr ist, der Welt zu unterliegen?

Wie kann ich diesen Glauben bekommen?

Mit dem Glauben ist es wie mit einem heranwachsenden Leben vor der Geburt, sagt unser Text. Wenn eine Frau schwanger wird, so ist es der natürliche Gang des Lebens, dass irgendwann das neue Leben geboren wird. Es liegt zunächst einmal nicht an der Kraft oder dem Willen der Mutter, dass dieses Leben zur Welt kommt. Das Entscheidende ist bereits getan. Sie kann nur noch warten und mit dazu beitragen, dass das ungeborene Leben sich gut entwickelt. Sie kann auf ihre Ernährung achten; sie kann mit dem Ungeborenen reden oder schöne Musik hören. Das wird dem Kind gut tun. Sie kann sich durch Gymnastik und Atemübungen auf die Geburt vorbereiten, um sich und dem Kind den Geburtsvorgang ein wenig zu erleichtern. Aber dass und wann das Kind geboren wird, liegt nicht an ihr, ist nicht ihr Werk.

So ist es mit dem Glauben. Wenn wir vom Evangelium berührt worden sind, wenn es angefangen hat, in uns Wurzeln zu schlagen, dann wird es sich entfalten. Den Glauben selbst können wir nur als Geschenk empfangen, voller Dankbarkeit und Freude. Der Glaube ist nicht unser Werk. Wir können nur unseren Glauben pflegen, ihn miteinander einüben, uns gegenseitig darin bestärken. Letztendlich aber bleibt er immer ein Geschenk.

Der Glaube an die lebensverändernde Kraft Gottes

Unser Glaube hat freilich immer auch einen Bruder, das ist der Unglaube, der Zweifel. Niemand ist vor ihm geschützt. Niemand kann sagen, sein Glaube sei so stark, dass er die Welt überwinden kann. In der Geschichte von der „Heilung des besessenen Knaben“ (Markus 9, 14 ff) wird das deutlich. „Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt“, sagt Jesus dem um Hilfe bittenden Vater des Jungen. Und der antwortet „Ich glaube, hilf meinem Unglauben“. Nicht der starke Glaube ist gefordert, der von sich aus das Unmögliche möglich macht, sondern der Glaube an die lebensverändernde Kraft Gottes, die in Jesus begegnet.

Es kommt nicht auf unsere Glaubensstärke an, sondern auf das, was bereits geschehen ist: Gott hat diesen Jesus, diesen vor den Augen der Welt gescheiterten Prediger des Evangeliums, nicht im Tod gelassen, sondern ihn zum Herrn und Heiland seiner Gemeinde gemacht. Am Ostermorgen wurde der entscheidende Sieg errungen. Alles andere sind “Nachhutgefechte”.

Weil der entscheidende Sieg errungen ist, gelingt es uns Christenmenschen manchesmal, auch die Nachhutgefechte zu gewinnen und die Welt zu überwinden:

Etwa dann, wenn Menschen ihre Todesangst überwinden und getrost sterben können, weil sie wissen, dass Gott größer ist als der Tod.

Etwa dann, wenn Menschen ihre Schuld nicht dauernd beiseite schieben oder auf andere abwälzen, sondern sie eingestehen und um Vergebung bitten. Wie befreiend kann das sein!

Etwa dann, wenn in einem harten Streit Worte der Wertschätzung und Versöhnung laut werden können und Menschen trotz sachlicher Differenzen einen Weg miteinander finden.

Etwa dann, wenn Sozialhilfeempfänger und Arbeitslose nicht als Ballast unserer Gesellschaft bezeichnet werden, sondern als Menschen mit Anspruch auf volles Leben, die in uns Fürsprecher finden.

Der Glaube, der Jesus als den Christus bekennt, stellt sich diesen Herausforderungen und darf erleben, dass er nicht vergeblich ist.

Lothar Zenetti, ein katholischer Pfarrer aus Frankfurt, hat auf seine Weise diesen Glauben beschrieben:

Ein Mensch wie Brot

Er lehrte uns die Bedeutung und Würde des einfachen und unansehnlichen Lebens unten am Boden
unter den armen Leuten säte er ein seine unbezwingliche Hoffnung Er kam nicht zu richten, sondern aufzurichten
woran ein Mensch nur immer leiden mag
Er kam, ihn zu heilen
Wo er war, begannen Menschen freier zu atmen
Blinden gingen die Augen auf,
Gedemütigte wagten es, zum Himmel aufzuschauen
und Gott ihren Vater zu nennen
Sie wurden wieder Kinder, neugeboren
Er rief sie ins Leben
Er stand dafür ein, dass keiner umsonst gelebt,
keiner vergebens gerufen hatte
Dass keiner verschwindet, namenlos im Nirgends und Nie
Dass der Letzte noch heimkehren kann als Sohn
Er wurde eine gute Nachricht im ganzen Land,
ein Gebet, ein Weg, den man gehen,
ein Licht, das man in Händen halten kann gegen das Dunkel
Ein Mensch wie Brot,
das wie Hoffnung schmeckt, bitter und süß,
Ein Wort, das sich verschenkt, das sich dahingibt, wehrlos
in den 1000stimmigen Tod, an dem wir alle sterben
Ein Wort, dem kein Tod gewachsen ist, das aufersteht und ins Leben ruft, unwiderstehlich
Wahrhaftig, dieser war Gottes Sohn

Amen.

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