„Kinderchen, liebet einander!“ (Lessing) – auch im VerbraucherInnenverhalten

Predigttext: 1. Joh 4, 16b-21
Kirche / Ort: Weilheim/ Teck, Egelsberg
Datum: 13.6.2004
Kirchenjahr: 1. Sonntag nach Trinitatis
Autor/in: Pfarrerin i.R. Stefanie Schäfer-Bossert

Predigttext: 1.Joh 4, 16b-21 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984, in V 16b geschlechterinklusiv ergänzt; aus Gründen der "geprägten Form" würde ich sonst sogar einmal die "Brüder" stehen lassen und die Schwestern in einem korrigierenden Nachsatz einbringen)

16b Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm und ihr. 17 Darin ist die Liebe bei uns vollkommen, dass wir Zuversicht haben am Tag des Gerichts; denn wie er ist, so sind auch wir in dieser Welt. Furcht ist nicht in der Liebe, 18 sondern die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus; denn die Furcht rechnet mit Strafe. Wer sich aber fürchtet, der ist nicht vollkommen in der Liebe. 19 Lasst uns lieben, denn er hat uns zuerst geliebt. 20 Wenn jemand spricht: Ich liebe Gott, und hasst seine Brüder, der ist ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, wie kann er Gott lieben, den er nicht sieht? 21 Und dieses Gebot haben wir von ihm, dass, wer Gott liebt, dass der auch seinen Bruder liebe. ( Nachsatz s. u. im Predigtvorschlag)

Vorbemerkungen:

Dieser Predigtvorschlag verdankt sich einer kurzfristigen Absage der ursprünglich eingeplanten Autorin. Ich selbst werde zwar die Perikope predigen, aber anders focussiert und verkontextet in einem Taufgottesdienst. So ist der im folgenden zu lesende Text etwas kürzer – der eigenen Erweiterungslust und sei Tür und Tor geöffnet! Der Johannesbrief zielt auf „christliche Ohren“ und setzt diese, vor allem die christologischen Grundlagen, voraus. Das kann in dieser Predigt durchaus einmal nachgemacht werden, ebenso, dass der „Brief“ einen „Glauben fürs Leben“ entfaltet. Dennoch schlage ich vor, mit einer historisch-kritischen Passage einleiten, denn dass es sich um einen anonymen, nicht etwa pseudepigraphischen Text handelt, beinhaltet eine bedenkenswerte Programmatik. Homiletisch gar nicht so ganz einfach ist, dass die Perikope eigentlich „Altbekanntes“ sagt und deshalb die Gefahr der „Wiederkehr des ewig Gleichen“ besteht. Hier schlage ich vor, den Stier bei den Hörnern zu packen: Wenn schon ewig das Gleiche, warum dann nicht in Worten, die „ewig“ (nun denn, zwei bis drei Jahrhunderte) her sind und gar solche Wiederholung noch thematisieren, wie Lessing es im „Testament Johannis“ tut. Außerdem habe ich abermals zur „Heiligen Augen- und Gemüthslust“ gegriffen, meiner barocken Lieblingsbibel und Stofflieferantin für diese Brief-Predigtreihe, und sie hat mir einen ethischen Appell geliefert, der direkt in unseren globalen Handel zu sprechen vermag. Der Text kann als eine Entfaltung des Doppelgebots der Liebe (Mt 22,37ff) gelesen und gepredigt werden. Da ich in der konkreten Durchführung die Gottesliebe (Genitivus subiectivus wie obiectivus!) mit der Taufe zur Sprache bringen werde, hat der hier vorgelegte Text einen Schwerpunkt auf der Nächstenliebe. Das kann hingenommen werden – oder selbst ergänzt.

Liedvorschläge:

EG 401, Liebe, die du mich zum Bilde EG 412, So jemand spricht: Ich liebe Gott EG 650 (Württemberg), Liebe ist nicht nur ein Wort

Literatur:

Horst Balz, Die Johannesbriefe, in: Horst Balz/ W. Schrage: Die Briefe des Jakobus, Petrus, Johannes und Judas, NTD 19, Göttingen 1985 - Heilige Augen und Gemüthslust, [Johann Ulrich Kraus, Augsburg 1706], S. 45 - Gotthold Ephraim Lessing, Das Testament Johannis (1777), zit. nach: Die Erziehung des Menschengeschlechts und andere Schriften, Stuttgart (Reclam) 1980, S. 40f - Birgit Rommel, 1. Sonntag nach Trinitatis (13. Juni): 1 Johannes 4, 16b-21, in: aub 11/2004, S. 3-9 - Kerstin Ruoff, Der erste Brief des Johannes, in: Luise Schottroff/ Marie-Theres Wacker (Hg.) Kompendium Feministische Bibelauslegung, Gütersloh 21999, S. 709-714

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Liebe Gemeinde,

Formalia können programmatisch sein

Der Predigttext für heute ist ein Text der frühen christlichen Gemeinden, von dem die Wissenschaft trotz heftiger Versuche noch nicht zuverlässig herausgefunden hat, woher er denn nun eigentlich kommt.

Genannt wird er „Johannesbrief“ und das schon seit 200 nach Christus, weil man angenommen hat, dass er vom Evangelisten Johannes oder aus seinen Kreisen stammt, als man die umlaufenden Schriften im sogenannten „Canon Muratori“ zusammengestellt hat. Da musste der große Name her, vorher war man ohne ihn ausgekommen.

Das sage ich nun aber nicht, um theologische Gelehrsamkeit zu demonstrieren, sondern, weil dahinter einiges an Programm steht: Dieser „Johannesbrief“ gibt gar nicht vor, dass Johannes ihn geschrieben habe, er ist ein anonymes Schreiben. Also eines, das damit sagt: „Was ich sage, stimmt nicht deshalb, weil ich mich mit einem großen Namen schmücke, es stimmt, weil es stimmt.“

Er macht nicht Namen stark, sondern Inhalte. Eine Herangehensweise, die man sich immer wieder neu selbst vornehmen kann, ( und die uns am heutigen Wahlsonntag in Baden-Württemberg ganz hilfreich sein könnte….)

Auch wenn die wissenschaftliche Forschung nach Kräften versucht hat, die „Gegner“ des Johannesbriefs dingfest zu machen, hat dieser eher das Gegenteil im Sinn: Er will eben nicht die Meinung einer theologischen Schule gegen andere durchkämpfen, sondern einen Grundkonsens des gemeinsamen Glaubens herstellen. Auch vor dieser Aufgabe stehen wir heute noch und wieder.

Die Perikope: Form und Inhalt gehen ineinander

Und da gehen Form und Inhalt ineinander: Hören wir den Predigttext:

(Verlesen des Predigttexts)

Und „seine oder ihre Schwester“, die waren und sind mitgemeint, wenn auch nicht genannt. So könnte man heute übersetzen: „Wer Gott liebt, ist auch den Mitmenschen in geschwisterlicher Liebe verbunden.“

Furcht ist nicht in der Liebe …

Liebe Gemeinde,

Form und Inhalt gehen ineinander: Wenn die Liebe der Hauptmaßstab ist, dann ist das gute Miteinander-Leben das Hauptziel. Die Grundlage ist da – Gott liebt uns.

Unser Text hält dabei vorneweg etwas ganz Wichtiges fest: Liebe lässt sich nicht erzwingen, und was erzwungen ist, ist nicht wirklich Liebe. Das klingt ungeheuer simpel und ist doch im täglichen mitmenschlichen Leben gar nicht so einfach, manchmal sogar fürchterlich schwierig.

Ein Ausweg in Redlichkeit kann wohl sein, dass man Dinge, die man mit Druck durchsetzen will, nicht auch noch als Liebe verkauft… – auch sich selbst gegenüber nicht und deshalb vielleicht doch noch mal überdenkt, ob es nicht andere Wege gäbe …

Der Text kann auch in manche Geschichte des Christentums sprechen, wo die Gottesliebe mit Waffengewalt und Höllenängsten hergestellt werden sollte…

Vom „Tag des Gerichts“ ist hier zwar durchaus auch die Rede, aber eben nicht als Schreckensbild, sondern ausgesprochen zuversichtlich: Wenn es daran geht, kritisch zu sehen, was man so veranstaltet hat, dann kann man auch das Misslungene aushalten, weil Jesus Christus uns die Wucht des Scheiterns abgenommen hat.

Denn wenn man sich vor den eigenen Fehlern so fürchtet, dass sie verdrängt und weggeleugnet werden, dann werden die ja bekanntlich oft in andere hineinprojiziert, denen man sie umso kräftiger übelnehmen kann. Was der Liebe und Mitmenschlichkeit ordentlich im Weg steht.

Liebe und Furcht, das ist zweierlei, das kann man mit der Psychologie und unserem Johannesbrief festhalten.

Und es gibt wahrlich genug, vor dem man sich fürchten kann. Da will der Johannesbrief, da will der Glaube gerade die Seelennahrung sein, die furchtloser machen kann. Wer festen Boden unter den Füßen hat, muss nicht so ungewiss durchs Leben eiern.

Aber – wenn wir die vollendete Liebe doch nicht ganz schaffen, dann ist das Scheitern doch vorprogrammiert? Das ist eine berechtigte Furcht, und die zeigt an, dass ein, nennen wir es „Liebesperfektionismus“ auch nicht der wahre Weg ist. Wir werden höchst selten perfekt sein und auch immer wieder scheitern, aber Gott wird uns tragen helfen. Die „Zuversicht“, das Nicht-Aufgeben und die Furchtlosigkeit im Gottvertrauen, das nennt unser Text unsere Seite der vollkommenen Liebe Gottes. Und wer sich geliebt weiß, wer sich geliebt fühlen kann, die oder der hat auch Liebe für vieles „übrig“. Liebe ist das, was sich durchs Weitergeben nicht teilt, sondern vervielfacht!

Barockes Mahnwort zum Verhalten als VerbraucherInnen

Schöne Worte?

Ja, das kann die Gefahr sein. Und ist die Gefahr, immer wieder, nicht erst heute. Das sagt schon ein Denkvers zum Johannesbrief aus einer barocken Bilderbibel von 1706:

Mit Worten kann man leicht die arme Brüder lieben,
Wenn’s aber an die That und beysteur selber geht,
da muss der eitle Ruhm gleich einem Rauch zerstieben,
Wie hertz und Casse fest vor ihm verschlossen steht;
Man sollte Christo nach das Leben vor [= für] sie lassen
So schläget man sie Todt durch geiz und bittres hassen. 
(AD 1 Joh 3,13.18., passt auch zu 4)

So, da haben wir’s. Es ist eine Frage von Herz und Kasse, ob die Nächstenliebe nur ein Wort ist. In wohlgesetzten barocken Worten, die aber an Deutlichkeit nicht sparen. Wie im Predigttext wird drastisch erklärt: Wer nicht liebt, aktiv liebend handelt, gerät in die Nähe des Gegenteils: des Hassens. Das ist nicht hier also nur dem Reim geschuldet, sondern ein biblisches Thema.

Geiz ist geil??? Nicht für die, die damit um ihre Lebensgrundlage gebracht werden. Nicht für die Kaffeebauern, die durch die fallenden Weltmarktpreise ihre Familien nicht mehr ernähren könne, nicht für die Blumenarbeiterinnen, die in Giftschwaden auf den Rosenfeldern arbeiten, nicht für die Textilarbeiterinnen, nicht für, nicht für….

Je billiger die Waren bei uns werden, umso mehr stimmt leider immer noch „ So schläget man sie Todt durch geiz“. Und da haben wir als Verbraucherinnen und Verbraucher keinen geringen Einfluss: Wenn wir nur noch möglichst billig kaufen, wird dieser Druck an die Produzenten und Produzentinnen unserer Waren weitergegeben. „Da muss der eitle Ruhm gleich einem Rauch zerstieben“, und stehen wir quasi in zwei Globalisierungen: Zum einen in der ökumenischen Verbundenheit der weltweiten Familie Gottes, zum anderen im Welthandel, der die fernen Geschwister ganz anders an uns bindet. Da ist nicht nur Herz, da ist in der
Tat auch „Casse“ gefragt. Auch, was den gar nicht so fernen Arbeitsmarkt hier betrifft. Preise haben immer etwas mit Löhnen zu tun.

Damit sage ich nun nichts Neues, aber es bleibt ja immer ein bisschen unangenehm, wenn’s so an „Herz und Casse“ geht, und man muss es sich doch immer wieder vorsagen…

Das Testament Johannis

Gotthold Ephraim Lessing, der große Aufklärer – und kein Theologe! – , hat das einmal ganz herrlich in einem Dialog durchgespielt, in dem erzählt wird, wie der alte Johannes sein Testament hinterlässt. Der Text stammt von 1777, wieder merkt man, dass sich da vieles immer noch nicht erledigt hat. Man kann auch merken, dass Lessing den Johannesbrief gut gelesen hatte, und wie es ihm zugesagt hat, dass er so auf den praktischen Glauben abhebt und die Liebe in den Mittelpunkt stellt. Lessing nimmt ihn für einen Schlüssel zum Johannesevangelium und fürs Christentum überhaupt.

Also: Johannes ist alt, sehr alt, aber er ist immer noch in der Kirche zu finden, passend zu unserem Text kommt er zur „Kollekte“ – man hätte das ja auch Gottesdienst nennen können!

„Und doch versäumte Johannes auch keine Kollekte gern, ließ keine Kollekte gern zu Ende gehen ohne seine Anrede an die Gemeinde, welche ihr tägliches Brot lieber entbehrt hätte als diese Anrede. (…)

Johannis Anrede kam immer ganz aus dem Herzen. Denn sie war immer einfältig und kurz und wurde immer von Tag zu Tag einfältiger und kürzer, bis er sie endlich gar auf die Worte einzog – –

Er:  Auf welche?
Ich:  „Kinderchen, liebt euch!“
Er:  Wenig und gut.

Ich: Meinen Sie wirklich? – Aber man wird des Guten und auch des Besten, wenn es alltäglich zu sein beginnt, so bald satt! – In der ersten Kollekte, in welcher Johannes nicht mehr sagen konnte, als: „Kinderchen, liebt euch!“ gefiel dieses „Kinderchen, liebt euch!“ ungemein. Es gefiel auch noch in der zweiten, in der dritten, in der vierten Kollekte; denn es hieß, der alte schwache Mann kann nicht mehr sagen. Nur als der alte Mann auch dann und wann wieder gute heitere Tage bekam und doch nichts mehr sagte, und doch nur die tägliche Kollekte mit weiter nichts als einem „Kinderchen, liebt euch!“ beschloss; als man sahe, dass er vorsätzlich so wenig sagen konnte; als man sahe, dass er vorsätzlich nicht mehr sagen wollte: ward das „Kinderchen, liebt euch!“ so matt, so kahl, so nichtsbedeutend! Brüder und Jünger konnten es kaum ohne Ekel mehr anhören und erdreisteten sich endlich, den guten alten Mann zu fragen: „Aber Meister, warum sagst du denn immer das nämliche?“

Er: Und Johannes? –
Ich: Johannes antwortete: „Darum, weil es der Herr befohlen. Weil das allein, das allein, wenn es geschieht, genug, hinlänglich genug ist.“ –
Er: Also das, das ist Ihr Testament Johannis?
Ich: Ja!“

„Wenn es geschieht“, das ist der Punkt. Auch wenn man’s oft nicht mehr hören mag.

„Wenn es geschieht“. Immer wieder erlebt man es anders und kann man deshalb durchaus soweit kommen, dass man aufgibt. Wahrscheinlich ist das der eigentliche Clou daran, dass Lessings Johannes stets dasselbe sagt: Immer wieder gegenläufige Erfahrungen, nichts mit „Kinderchen liebt euch“, immer wieder – na gut, dann setzen wir genauso „immer wieder“, furchtlos und zuversichtlich, das andere dagegen. So oft das Leben zu sagen scheint „Da wird nichts draus aus dem Engelsgesang ‚Friede auf Erden’!“, so oft sagen wir „Und wir versuchen es doch, sonst kann ja nichts draus werden, wenn niemand es versucht. Also: Kinderchen, liebt euch! Lasst uns lieben, denn Gott hat uns zuerst geliebt.“

Amen.

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