Was ist Liebe?

Predigttext: 1. Johannes 4,16-21
Kirche / Ort: Aachen
Datum: 13.06.2004
Kirchenjahr: 1. Sonntag nach Trinitatis
Autor/in: Pfarrer Manfred Wussow

Predigttext: 1. Johannes  4,16-21 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)

16 Und wir haben erkannt und geglaubt die Liebe, die Gott zu uns hat. Gott ist die Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm. 17 Darin ist die Liebe bei uns vollkommen, dass wir Zuversicht haben am Tag des Gerichts; denn wie er ist, so sind auch wir in dieser Welt. 18 Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus; denn die Furcht rechnet mit Strafe. Wer sich aber fürchtet, der ist nicht vollkommen in der Liebe. 19 Lasst uns lieben, denn er hat uns zuerst geliebt. 20 Wenn jemand spricht: Ich liebe Gott, und hasst seinen Bruder, der ist ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, der kann nicht Gott lieben, den er nicht sieht. 21 Und dies Gebot haben wir von ihm, dass, wer Gott liebt, dass der auch seinen Bruder liebe.

Exegetisch-Homiletische Vorüberlegungen

Der Text überrascht zunächst nicht, zu konventionell scheint seine Botschaft, zu abgegrast Worte und Gedanken. Eine genauere Betrachtung jedoch erschließt die Kanten und Ecken – und die Widerborstigkeit, die dem Gutmenschen (den es theologisch nicht gibt) gut tut. Es ist hilfreich, über die Gliederung, die Argumentationslinien und Gravitationszentren nachzudenken. 1. Joh. 4,13 bis 16 umkreist in johanneischer Manier die Erfahrung der Liebe, die Verse 17 bis 18 die Zukunft der Liebe und der Schlussteil in den Versen 19 bis 21 die Praxis der Liebe.  Die Frage, wer den Brief geschrieben hat, tut nicht viel zur Sache. In der Perikopenordnung setzt der Zuschnitt mit V. 16 ein, der die vorhergehenden Verse bündelt. Gleichwohl ist ein Blick auf den Gesamtzusammenhang unerlässlich, weil die Immanenzformel in Vers 16 (Wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott, und Gott bleibt in ihm)  der Höhepunkt ist, der schrittweise in den Versen 13 (dass wir in ihm bleiben und er in uns) und 15 (in ihm bleibt Gott und er in Gott) vorbereitet wird. Die Immanenzformeln sind in allen drei Fällen reziprok gestaltet und mit dem Verb ménein gebildet. In Vers 16 zeigt sich die Steigerung auch darin, dass ménein gleich dreimal vorkommt. Schon der Aufbau weist aus, wie dicht und zielgerichtet der Text gewebt ist. Im letzten Abschnitt wird die Liebe ganz auf die Praxis zugespitzt. Das Substantiv Liebe begegnet hier nicht mehr, nur noch das Tätigkeitswort (!) lieben. Ludwig Feuerbach hat in seinem Werk Das Wesen des Christentums (1841) formuliert: „Gott ist die Liebe. Dieser Satz ist der höchste des Christentums.“ Feuerbach hat den Artikel zu „Liebe“ eingeschmuggelt und interpretiert Liebe als Subjekt, Gott als Prädikat, „denn Gott ist nichts anderes als der mystische Gattungsbegriff der Menschheit.“ Nach Feuerbach soll die Liebe Gott überwinden, der für ihn nur eine Projektion ist. Der Glaube an einen anderen Gott entzweit den Menschen mit sich selbst, die Liebe hingegen zeigt ihm, dass er in der Verehrung Gottes immer nur sein eigenes, wahrhaft menschliches Wesen verehrt hat. Das Programm ist deutlich: Es gilt, Gott und den Glauben zu opfern, um die Liebe als menschliche Möglichkeit zu retten. Die christologische Verankerung in 1. Joh. 4 erweist sich dem gegenüber als tragfähig, weil Gott nicht nur Liebe übt oder Liebe hat, sondern Liebe ist. Anthropologisch ist eine Beerbung nicht möglich, weil die Bestie Mensch selbst in ihrer edelsten Gestalt unter keinen Umständen Liebe ist oder werden kann. Oskar Pfister hat in seinem Hauptwerk Das Christentum und die Angst (1944) 1. Joh. 4,18 „zur höchsten Bewunderung hinreissende Worte“ genannt. „Damit ist peinigender Angst der Riegel zum Tor des christlichen Glaubens für alle Zeiten verschlossen.“ Zulässig ist nur die Ehrfurcht, die der „Bewunderung göttlicher Größe und Heiligkeit entstammt.“ Die Auslegungs- und Frömmigkeitsgeschichte bietet Beispiele, wie auch mit der „vollendeten Liebe“ Angst geschürt wurde. Homiletisch bedeutsam ist, 1. Joh. 4 von Christus her auszulegen; Moralin, auch fein dosiert, verdirbt den Geschmack und verbrennt die Zunge. Bengel hat in einem Apercu aphoristisch von vier Einstellungsweisen gesprochen: ohne Furcht und ohne Liebe; mit Furcht, aber ohne Liebe; mit Furcht und mit Liebe; ohne Furcht aber mit Liebe. Letzteres ist die Zusage von 1. Joh. 4 1. Joh. 4 ist Predigttext am 1. Sonntag nach Trinitatis. Der Reichtum und die Gemeinschaft Gottes lässt sich in der Liebe, die er ist und gibt, noch einmal beleuchten. Dass Liebe nach eigenen Erfahrungen und Hörensagen nicht eingefordert werden kann, sondern ihren Geschenkcharakter zu jeder Zeit behält, hilft, der Bewegung, die es im Text gibt, zu folgen. Ein Blick auf die Gemeinde ist nicht nur erlaubt, sondern geboten: Bleiben wir in der Liebe Gottes verwurzelt? Bleiben wir im Zeugnis, dass der Vater den Sohn gesandt hat als Retter? Und provokativ: Bleiben wir sachlich? Bleiben wir nur in unseren Kreisen?  Bleiben wir – ängstlich? Und da Fragen nach einer alten homiletischen Regel die Predigt gesetzlich machen können: Der Reiz von 1. Joh. 4 liegt in den Immanenzformeln und den schönen Selbstbeschreibungen: wir haben erkannt, wir haben geschaut, wir haben geglaubt. Perfekt! Die vielen Bedeutungen sind natürlich mitzuhören. Wir sind dann ziemlich schnell bei dem, was es zu erkennen, zu schauen und zu glauben gab. Pardon: gibt.

Literatur:

Hans-Josef Klauck, Der erste Johannesbrief, EKK Bd. XXIII/1 (1991), 255 bis 282; Reinhard Mawick, Frage: Muss man Gott fürchten? Chrismon 01/2004, 50f. ; Begegnungen: Gohde und Ortheil: Was ist die Liebe? Chrismon 01/2004, 52ff. ; Reinhard Schmidt-Rost, „Liebe“ in der Leistungsgesellschaft. Drei Beiträge zur Pastoraltheologie, Privatdruck Bonn 2003 ; Johanna Christine Janowski, „reden von gott“ als „theolalie“,  Reformatio 51 (2002), 25-28; Die Manieren und der Protestantismus. Annäherungen an ein weithin vergessenes Thema, EKD-Texte 79, 2004, auch: http://www.ekd.de/download/ekd_text_79_manieren_2004.pdf Information zum 1. Sonntag nach Trinitatis: http://www.velkd.de/pub/bieritz-kirchenjahr.doc

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Vorbemerkung:

Zur Predigt gehört ein Dialog, der aus der Begegnung von Herrn Gohde und Herrn Ortheil entnommen ist (in Chrismon). Für die Szene wird ein Moderator gebraucht sowie zwei Stimmen für Gohde und Ortheil. Die Predigt ist so angelegt, dass sie unterschiedlich akzentuiert werden kann …

I.

Das war eine gute Idee!  Die Zeitschrift Chrismon lud den Präsidenten des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche in Deutschland, Jürgen Gohde, sowie den Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil zu einem Gespräch ein. Die Begegnung wurde überschrieben mit: „Was ist die Liebe?“ Und im Titel heißt es dann weiter: „Liebe ist der Sprung über eine viel zu hoch gespannte Leine. Das glauben zumindest ein Organisator der Zuwendung und ein Anwalt der großen Liebe.“ – Ortheil, von Beruf Professor für kreatives Schreiben und Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim, wurde im letzten Jahr bekannt mit seinem Roman: „Die große Liebe“, ein wahrer Hymnus auf die romantische Liebe. Die beiden zusammenzubringen – das war eine gute Idee!

Klinken wir uns doch kurz in ihre Begegnung ein:

Dialogszene:

Sprecher 1 (Moderator)

Herr Ortheil, Sie schreiben über die große Liebe, und Sie, Herr Gohde, organisieren die große Nächstenliebe. Was ist denn Liebe?

Sprecher 2 (Ortheil)

Zur Liebe gehört, denke ich, vor allem eine gemeinsame Geschichte. Was ja etwas ganz Großes ist – dass man es schafft, mit jemandem lange Zeit, vielleicht über Jahrzehnte, zusammen zu sein …

Sprecher 3 (Gohde)

Natürlich, ohne diese gemeinsame Lebensgeschichte kann ich überhaupt nicht über Liebe reden. Es braucht ja einen Anknüpfungspunkt. Der liegt für mich in dem Dasein von Eltern, in der Gegenwart von Menschen, die sich öffnen, ohne dass ich etwas dafür zu tun brauche, die mir Kräfte zukommen lassen, da sind, sich öffnen für mich, die sehen, was mir fehlt.

Sprecher 1 (Moderator)

Das müssen dann ja ideale Voraussetzungen sein, um liebesfähig werden zu können. Kann man denn Liebe anordnen?

Sprecher 2 (Ortheil)

Ich glaube, man kann dieses christliche Verständnis von Liebe nicht vergleichen mit der romantischen Idee von der großen Liebe, die einfach über einen kommt, die sich ereignet und die man nicht verordnen kann.

Sprecher 3 (Gohde)

Ich denke schon, dass die beiden Konzepte zusammenhängen, denn bei beiden werden Grenzen überschritten zwischen mir und einer anderen Person. Wenn es heißt „Du sollst Gott lieben“ oder „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“, dann steht dem voran, dass vorher etwas Einzigartiges mit mir geschehen ist und ich mich deshalb auf die Liebe zum anderen oder zu Gott einlassen kann.

Sprecher 1 (Moderator)

Wie lernt man lieben?

Sprecher 3 (Gohde)

Zunächst einmal:  Liebe kann man nicht erzeugen. Liebe schafft sich selber. Aber er gibt Räume, in denen Freiheit, Großzgügigkeit  und Freigebigkeit zu Hause sind, dort kann sich Liebe entwickeln …

Sprecher 2 (Ortheil)

Es gibt, glaube ich, für jeden Menschen Lebensszenen, die man als starke Liebesmomente in Erinnerung behält …

Sprecher 1 (Moderator)

Was war  denn das, was Sie da über die Liebe erfahren haben?

Sprecher 2 (Ortheil)

Dass einer etwas nicht um seiner selbst willen, sondern vor allem für den anderen tut, enorm freigebig, hilflos, alles riskierend, und dass er dadurch den anderen, ohne ein Wort und ohne jeden Hintergedanken, an sich bindet, in einer ergreifenden, den anderen durchwühlenden Weise.

Sprecher 3 (Gohde)

Präsenz, Offenheit für die Situation, Offenheit für die Fragen der anderen, offen sein für das, was der andere wirklich ist in diesem Moment…

Ich denke, es gibt eine Liebe ohne Angst überhaupt nicht. Wenn man diese großen Liebesmomente anschaut, auch zum Beispiel bei der Geschichte vom barmherzigen Samariter, da findet sich da auch diese Angst: Der Priester und der Levit gehen auf die andere Seite des Weges. Warum? Weil sie Angst haben, sich in dieser Situation einem anderen Menschen auszusetzen. Sie haben Angst um ihr eigenes Leben. In dem Augenblick aber, wo die Liebe stark wird in einem Menschen, geht diese Angst weg. Das Wissen um die Bedrohtheit der Liebe gehört immer dazu, aber auch das Wissen, dass die Liebe die Kraft hat, mit solchen Ängsten umzugehen.

Sprecher 2 (Ortheil)

Das Christentum hat da aber  eine grundsätzlich optimistische Sicht, in dem es dem Menschen zutraut, so etwas wie das Glück der Liebe zu erleben und vor allem auch zu gestalten. Die modernen, auch die antiken Konzeptionen von Liebe sind da ganz anders. Sie sehen die Liebe sehr viel bedrohter und setzen vor allem dieses Urvertrauen nicht voraus. Und heutzutage, da haben wir es vor allem mit einem unendlichen, plappernden und längst ermüdenden Diskurs über das Misslingen von Liebe zu tun …

An dieser Stelle der Begegnung klinken wir uns aus. Die beiden sprechen noch über Vorbilder – und über „Liebenswürdigkeit“ überhaupt. Aber wir halten hier ein. Einzelne Gedanken gehen uns nach: die gemeinsame Lebensgeschichte, das Urvertrauen, die Räume, in denen Liebe wächst – und nicht zuletzt: dass die Liebe die Kraft hat, Ängste auszuhalten und zu überwinden.

Dass die beiden Gesprächspartner Liebe ohne Abstufungen, Abwertungen oder Höherschätzungen in den Blick nehmen, die Liebe zwischen zwei Menschen, die Nächsten- und Feindesliebe zusammen sehen – das ist eine gute Idee!

II.

(Lesung des Predigttextes)

Was gleich auffällt: Am Anfang steht die Liebe, die Gott zu uns hat – am Schluss sein Gebot, den Bruder, die Schwester zu lieben. Ja, ausdrücklich wird festgehalten: Lasst uns lieben, denn er hat uns zuerst geliebt. Da ist sie wieder: die Urerfahrung – die Liebe, die vor allen Bedingungen und ohne große Worte geschenkt ist – der Raum, in dem Liebe wächst und gedeiht.

Aber in der Mitte, sorgsam umkreist und geschützt, steht, dass die vollkommene Liebe die Furcht austreibt, ihr das Heimatrecht im Herzen streitig macht und selbst den Raum erobert, den die Furcht besetzt hielt. Mit einem Wort: ein Herrschaftswechsel findet statt. Die Liebe kann sich mit der Furcht nicht arrangieren, nicht einmal Kompromisse aushandeln. Entweder die eine – oder die andere. Für Johannes, der den Brief schreibt, kommt die Liebe aus Gott, die Furcht aber nicht. Ohne sich lange daran aufzuhalten, Ängste zu beschreiben oder der Skepsis Gehör zu schenken, lenkt er den Blick der Menschen, an die er denkt, auf Gott. Von ihm sagt er: Er ist Liebe.

In dem Gespräch, das Herr Gohde und Herr Ortheil führten, kommt die Rede auch auf die Angst. Kaum zu bestreiten: Es ist die Angst, sich in der Liebe zu verlieren, sich zu weit zu öffnen, sich ausnutzen zu lassen. Aber nur die Liebe selbst  vermag die Angst zu nehmen und Vertrauen wachsen zu lassen. Herr Ortheil hat Christen eine optimistische Sicht bescheinigt, die Menschen zutraut, „so etwas wie das Glück der Liebe zu erleben und vor allem auch zu gestalten“.

Als Johannes den Brief schrieb, hatte er eine kleine Gemeinde vor Augen, die von außen bedrängt wurde und im Inneren zerrissen war. Wir wissen nicht viel von ihr. Das meiste ist ohnehin nur aus Indizien zusammengesetzt. Spuren, die sich irgendwo verlieren. Aber: Was konnte Johannes ihr mitgeben? Was würden die Menschen annehmen können?  Was ihnen Luft verschaffen?

Als er das Wichtigste zusammenfasste, konnte er nicht ahnen, dass wir bis heute davon zehren würden. Johannes schreibt: Und wir haben erkannt und geglaubt die Liebe, die Gott zu uns hat. Gott ist die Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.

Besonders in kritischen Situationen entstehen Ängste, Ängste, die Menschen dazu bringen, sich auf ihre kleinen Kreise und vertrauten Menschen zurückzuziehen, sich abzuschotten und die böse Welt draußen zu lassen. Die Nähe aber, die dann entsteht, ist mit Zwängen eingefangen, ja, mit Ängsten erkauft. Es ist nichts überwunden. Die Furcht ist sogar größer geworden: wird unser kleiner Kreis halten, was wir erhoffen? Wer die Türen hinter sich zumacht,  wird im eigenen Saft zu schmoren.

Dass Gott Liebe ist, schafft einen Freiraum, einen Lebensraum. Im Psalm heißt es, Menschen könnten mit ihm Mauern überspringen. Ob Johannes an diese Zuversicht dachte? Jedenfalls verliert jetzt sogar das letzte Gericht seinen Schrecken, das einmal die größten Ängste bündelte: dass von meinem Leben nichts mehr bleibt, nichts mehr liebenswürdig ist an mir und selbst Gott sich für immer von mir abwendet.

Johannes hat das so formulieren können: Darin ist die Liebe bei uns vollkommen, dass wir Zuversicht haben am Tag des Gerichts; denn wie er ist, so sind auch wir in dieser Welt.

III.

Bildlich gesprochen, hat Johannes Furcht und Liebe auf die Waagschale gelegt – und die Furcht verliert: Gewicht, Bedeutung, Ansehen.  Wenn die Liebe die Furcht vertreibt, in die Flucht schlägt oder einfach nur entlarvt, erweist sie sich in ihrer Vollkommenheit..

Ein kleines Wortspiel:

Die erste Lebenseinstellung: „ohne Furcht und ohne Liebe“.

Über allem stehen, an keiner Stelle angreifbar sein, von Regungen unberührbar. Ein alter Traum. Das Ergebnis: der Mensch wird zu einem Monument – und in seiner Nähe gibt es allenfalls Bewunderung, aber keine Liebe. Steine bleiben kalt.

Die zweite Lebenseinstellung: „mit Furcht, aber ohne Liebe“.

Angst machen, um Einfluss zu sichern, Macht auszuüben und Konkurrenten auszuschalten. Oder einfach nur Angst von oben nach unten weitergeben.  Dann verstummen Münder. Menschen werden klein. In diesem Umfeld wächst keine Liebe. Die Furcht bleibt allein.

Die dritte Lebenseinstellung: „mit Furcht und mit Liebe“.

Der Furcht ist nicht alles zuzutrauen, der Liebe auch nicht. Es gilt, sie gekonnt zu berechnen und einzusetzen. Hauptsache, ich erreiche mein Ziel. Bei den Mitteln kann man nicht wählerisch sein. Aber in dieser Kombination wird immer die Furcht die Erinnerungen besetzen. Die Liebe wird nur ausgenutzt.

Die vierte Lebenseinstellung: „ohne Furcht aber mit Liebe“

Hier hat die Liebe gesiegt. Die Furcht ist abgeschminkt. Ihre Macht hat sie eingebüßt. Selbst in der Wehrlosigkeit erweist sich die Liebe als die einzig mögliche Alternative. Ein untrügliches Kennzeichen ist: Menschen reden über ihre Ängste frei.

Bengel, einer, der vor langer Zeit die Hl. Schrift auslegte, hat aphoristisch von diesen  vier Einstellungsweisen gesprochen: ohne Furcht und ohne Liebe; mit Furcht, aber ohne Liebe; mit Furcht und mit Liebe; ohne Furcht aber mit Liebe. Was hier nebeneinander steht, ist doch kunstvoll auf die Spitze bezogen: Unsere Gedanken und Sinne, unsere Erfahrungen und Hoffnungen werden zum vierten Satz geführt: „ohne Furcht aber mit Liebe“.

Dass die ersten drei Lebenseinstellungen benannt werden, hat eine geradezu befreiende Wirkung. Wir können über Lebenseinstellungen reden – und sie enttarnen. Während die Liebe Tarnung nicht braucht und nicht verträgt, schmückt sich die Furcht ständig mit fremden Federn. Die heißen: Ich meine es doch nur gut mit dir – der Zweck heiligt die Mittel – die Ziele müssen erreicht werden – dir fehlt der Gesamtüberblick.

Fällt Ihnen noch etwas ein?

(Denkpause)

IV.

Für uns Menschen ist Liebe eine Erfahrung unter anderen, mehr oder weniger stark und beeindruckend, zwiespältig und mit vielen Interessen im Konflikt – wir könnten nie sagen: Ich bin Liebe.  Wir könnten selbst auch von dem liebsten Menschen nicht sagen: Er ist Liebe. Aber die Liebe, die wir erfahren haben, trägt uns, gibt uns (Selbst)vertrauen und macht uns liebevoll.  Mag die Liebe eine Erfahrung unter vielen sein – sie ist Urvertrauen, Lebensatem und Paradies.

Mit Blick auf Jesus schreibt Johannes: Und wir haben erkannt und geglaubt die Liebe, die Gott zu uns hat. Gott ist die Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.

Zur Liebe gehört die Sehnsucht „zu bleiben“, den Augenblick festzuhalten, Zeit und Raum vergessen zu können. Johannes hat keine Zweifel:  Gott bleibt. Und dann macht Johannes daraus ein Gedicht. Ein Liebesgedicht. Es fängt mit Gott an und hört beim Bruder, bei der Schwester auf.

Oder umgekehrt?

V.

Hören wir zum Schluß noch einmal in das Gespräch, das Herr Gohde und Herr Ortheil führten

Sprecher 1 (Moderator)

Wenn jemand das Menschsein im anderen zu sehen in der Lage ist, dann wird der andere liebenswürdig?

Sprecher 2 (Ortheil)

Dann nimmt man ihn nicht mehr nur als Typ, Charakter oder Alltagsfigur wahr, sondern es entsteht plötzlich ein Wärmestrom, die Hinwendung zu etwas Einzigartigem, zu einer Biographie. Man sieht den anderen in seiner Schwäche und teilt sie mit ihm, schließlich kennt man diese Schwäche ja von sich selbst her sehr genau, man sieht sich also als einer unter vielen der großen Lebensfremde ausgesetzt.

Sprecher 3 (Gohde)

Ich komme in einen Raum, bin mit völlig fremden Menschen zusammen. Die haben nicht meine Geschichte an diesem Tag gehabt und haben auch nicht meine Geschichte, wenn ich am Abend nach Hause komme. Das Gleiche zu lieben – das ist relativ einfach, aber aus der Wahrnehmung der Fremdheit dann plötzlich die Geschichten zu erkennen, die diese Menschen in ihren Biographien ähnlich machen – das find ich ausgesprochen spannend. Und dieses Lieben des Fremden, dieses Lieben des Menschen, der nicht so ist wie ich, das spielt in der biblischen Orientierung eine sehr große Rolle …

Die Liebe Gottes,
höher als unsere Träume
tiefer als unsere Niederlagen
weiter als unsere Pläne
bewahre unsere Herzen
und Sinne
in Christus Jesus
unserem Herrn.

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