Mit Fingerspitzengefühl anstatt Axt im Walde sein
Predigttext: Römer 14,10-13 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
Du aber, was richtest du deinen Bruder? Oder du, was verachtest du deinen Bruder? Wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes gestellt werden. Denn es steht geschrieben (Jesaja 45,23): "So wahr ich lebe, spricht der Herr, mir sollen sich alle Knie beugen, und alle Zungen sollen Gott bekennen." So wird nun jeder von uns für sich selbst Gott Rechenschaft geben. Darum lasst uns nicht mehr einer den andern richten; sondern richtet vielmehr darauf euren Sinn, dass niemand seinem Bruder einen Anstoß oder Ärgernis bereite.Exegetische Vorüberlegungen
Es gibt in der Christengemeinde Roms Uneinigkeit. Die Gruppe der "Starken" steht der Gruppe der "Schwachen" gegenüber. Jede der beiden Gruppen desavouiert die andere Gruppe. Der Ausschließlichkeitsanspruch ist gegeben. Mangelnde Toleranz führt zur Aburteilung der Anderslebenden / -denkenden. Dem Menschen steht es nach Paulus nicht zu, über einen anderen zu urteilen oder zu richten. Jeder Mensch ist für sich vor Gott verantwortlich. Der Mensch steht zwischen Gehorsam und Freiheit und führt darin sein Leben in eigener Verantwortung. Paulus dreht die Perspektive: Anstatt andere Menschen zu richten, gilt es, seinen Sinn darauf zu richten, seinem "Bruder" / seiner "Schwester" keinen Anstoß noch Ärgernis zu geben und ihn/sie als "Bruder/Schwester" anzunehmen. Christliche Gemeinschaft besteht nicht im Einheitssinn, sondern in der liebevollen Annahme der "Unterschiede". Christus eint uns in einem Raum der Freiheit zu einem Leib.Zwei Prosagedichte
von Kurt Rainer Klein (Copyright) DAS GERICHT Ob das Gericht vegetarisch oder fleischlich ist, das kann uns gleich-gültig sein. Ob das Gericht im Himmel oder auf Erden stattfindet, kann uns nicht gleich-gültig lassen. DER PERSPEKTIVWECHSEL Solange ich auf die Schwächen meiner Mitmenschen schaue, fühle ich mich stärker als sie. (=Mitmenschen) Wenn ich aber auf meine eigenen Schwächen blicke, bin ich stärker als sie. (=Schwächen)Überzeugung
Jeder hat so seine Prinzipien, nach denen er lebt und handelt. –
Grundsätze, die im Geflecht der Meinungen für Entwirrung sorgen. –
Maxime, die für einen selbst im Umgang mit anderen höchste Geltung
haben. Die möglicherweise verallgemeinerbar sind, damit andere mit
mir nach den gleichen Maßstäben verkehren.
In Gesprächen treffen diese unterschiedlichen Prinzipien,
Grundsätze, Maxime manchmal hart aufeinander. Keine
Kirchenvorstandssitzung bleibt ohne Kontroverse. In die
Diskussionen und anschließend oft zu treffenden Entscheidungen
fließen die verschiedenen Standpunkte selbstverständlich ein. (Es
folgen drei konkrete Beispiele, die jeweils aus der eigenen,
aktuellen Gemeindesituation ersetzt werden können.)
Wir sprachen über die Behandlung des Steinplattenbodens im Garten
unseres Gemeindehauses: Für einen Landwirt war es
selbstverständlich, dass das aus den Zwischenritzen wachsende Gras
mit einem Unkrautbekämpfungsmittel zu säubern sei. Der Einwand,
dass dieses Gift auch den Kleinstlebewesen im Boden schadet oder
spielenden Kindern der Jungschar zur Gefahr werden kann, wird
beschwichtigend zur Kenntnis genommen. Ein Sinneswandel ist kaum
zu erreichen, noch weniger ist jemand zu finden, der die ihn
störenden Grashalme mit der Hand ausrupft. Bequeme Sauberkeit oder
Liebe zur Umwelt – unterschiedliche Standpunkte!
Als es galt, das kommende Gemeindefest vorzubereiten, wurde
lebhaft über die Preisgestaltung gesprochen. “Familienfreundliche
Preise” standen gegen das Argument, es müsse schließlich auch
etwas “hängenbleiben”, “umsonst” wolle man diese ehrenamtliche
Mithilfe ja auch nicht leisten. Schließlich würden andere Vereine
auch keine niedrigeren Preise nehmen. Und in der Frage, für
welchen Zweck das Erwirtschaftete sein sollte, wurde der Vorschlag
eines ausländischen Projektes schnell mit überwältigender
Mehrheit, das Geld müsse im eigenen Dorf bleiben, vom Tisch
gefegt. Eigennutz oder Hilfsbereitschaft – unterschiedliche
Ansichten!
Im Winterhalbjahr wird der große Saal unseres Gemeindehauses als
Gottesdienstraum genutzt. Ein übergroßes Kreuz mit Spruchband
ziert die Altarbühnenwand. Es ist möglich, das Gemeindehaus auch
für private Familienfeiern zu mieten. Doch seit alters her ist
Tanzmusik in jeglicher Form verboten – aus Ehrfurcht oder Respekt
vor der Sakralität des Raumes. Auf eine Anfrage, ob es nicht doch
denkbar sei, erwachte eine neue Diskussion. Die Argumente prallten
aufeinander. Gute Gründe sprachen für eine Lockerung des
fragwürdigen Verbotes. Die Abstimmung entschied, dass auch
weiterhin alles beim Alten bleiben wird. Heiligkeit oder
Weltoffenheit – unterschiedliche Meinungen!
Wo Menschen sich begegnen, treffen unterschiedliche Überzeugungen
zusammen. Überzeugungen, die gewachsen sind und eine mehr oder
weniger lange Entwicklung hinter sich haben. Standpunkte, die
nicht spontan über den Haufen zu werfen sind. Ansichten, die
respektiert werden wollen, aber jederzeit diskussionsfähig bleiben
müssen. Das verlangt ein wenig Fingerspitzengefühl in der Art und
Weise, wie man seine Positionen darstellt und verteidigt. Und an
Rücksicht auf die Empfindlichkeiten des Gesprächspartners darf es
nie fehlen. Leisetreten kann manchmal überzeugender sein als
lautes Poltern.
Wie schade, wenn eine Auseinandersetzung dazu führt, dass man sich
nichts mehr zu sagen hat, dass man nicht mehr miteinander redet,
dass man sich nicht einmal mehr ansieht, wenn man
aufeinandertrifft. Aber ist auf die Gefahr hin, dass es soweit
kommt, das Streiten für einen Christen tabu und untersagt? Gehört
es zu den christlichen Tugenden, den Weg des geringsten
Widerstandes zu suchen? Bekanntlich gibt es zwei verschiedene
Ebenen des Streitens: ein sachlicher Austausch von Argumenten ist
ein anderes Streiten als ein emotionales Feuer, das den
Mitstreitenden zu vernichten sucht, um selbst Ruhe zu finden.
Anders ausgedrückt: Man kann um die Wahrheit ringen oder auch
versuchen, sich diese um die Ohren zu schlagen.
Konflikt
Paulus erfährt, dass in Rom die Grenze des gegenseitigen Respektes´
überschritten ist. Man verschanzt sich hinter seiner Überzeugung
und hat eine harte Front errichtet. Die Infragestellung der
eigenen Position ist erloschen, das sachliche Gespräch ist
versickert. Es ist ja logisch gesehen ganz einfach: wenn die
eigene Ansicht richtig ist, muss die der Anderen zwangsläufig
falsch sein. Und dass die eigene Einsicht richtig ist, davon ist
man felsenfest überzeugt.
“Du aber, was richtest du deinen Bruder? Oder, du anderer, was
verachtest du deinen Bruder?” Die Gemeinde Christi ist in Rom in
zwei Gruppen gespalten, die sich jeweils zugute halten, die
besseren Christen zu sein. Die Einen – sie essen kein Fleisch und
leben vegetarisch, trinken keinen Alkohol und halten besondere
Fastentage für einhaltungswürdig – bezeichnet Paulus als die
Schwachen. Die Anderen – sie leben freizügiger ohne Essens- und
Alkoholeinschränkungen, ohne besondere Fastentage – nennt Paulus
die Starken.
“Stark oder schwach” nicht “besser oder schlechter” heißt die
Zueinander-in-Beziehung-Setzung der gespaltenen Gemeindegruppen
durch Paulus. Keiner der beiden Gruppen bescheinigt der Apostel
das richtige Leben vor Gott im Gegensatz zu denen, die es
angeblich falsch angehen. Er schlägt sich nicht auf eine Seite und
erklärt niemanden zum Sieger oder Verlierer in dieser
Auseinandersetzung. Er spielt sie nicht gegeneinander aus. Hätte
er das getan, wäre die Spaltung der Gemeinde vollzogen und alles
verloren. Anstatt Paulus die beiden Gruppen “aus-ein-
ander-setzt”, bringt er sie in seiner Definition von “stark” und
“schwach” zusammen.
“Schwache” und “Starke” erscheinen nur jeweils als solche, wo man
beide Gruppen zusammen im Auge hat. Und beide gehören dem einen
Herrn in gleicher Weise, sind Glieder an dem einen Leibe Christi,
sind Brüder und Schwestern der gleichen Gemeinde Gottes. Kann
einer dem anderen da gleichgültig sein? Kann sich einer über den
anderen erheben und auf ihn herabschauen? Kann einer meinen, er
dürfe sich zum Maßstab des anderen setzen? Bescheidenheit tut not
und lässt Raum denen, die durch andere Überzeugungen erdrückt zu
werden glauben. Wem steht es auch zu, die Grenze zu ziehen unter
Brüdern und Schwestern? Wer erdreistet sich, Gott nur für sich zu
beanspruchen und gegen andere zu verwenden? Wem ist auf den Punkt
genau die Gewissheit gegeben zu wissen, was Gottes Wille unserem
und der anderen Leben schenkt und abverlangt?
Wie paradox ist das Richten und Verachten eines Bruders! Gerade in
dem Moment des Tuns verliert er/sie diese Qualität des
Miteinanderseins. Aber trotzdem bleibt er “Bruder” / sie
“Schwester” und lässt darum das Richten und Verachten hinfällig
werden! – Wie geht das zusammen? Es geht zusammen einzig und
allein in Christus, der uns angenommen hat! Bruder und Schwester
sind nicht selbstgewählte Verschwisterungen, sondern repräsentiert
die Gemeinschaft von von Gott geliebten Menschen, die sich im
Gebet und in ihrer Liebestätigkeit zu Christus bekennen. Er ist
es, der uns zusammenbringt und eint. Er leitet die Starken an, den
Schwachen zu tragen, und weist den Schwachen an die, die sich
nicht selbst zu Gefallen leben. Er ist es, der Menschen nicht
ausgegrenzt, sondern angenommen hat. Wie können wir anders denken
und handeln als diejenigen, die ihre Knie beugen und mit ihren
Zungen Gott bekennen! Wir würden unglaubwürdig vor der Welt und in
den Augen der Spötter.
Wie kann ich meinen Bruder, meine Schwester verachten, die andere
Prinzipien, Grundsätze, Maxime haben? “Ein jeglicher sei in seiner
Meinung gewiss!” sagt Paulus, ausgehend davon, er tut es dem Herrn
zum Gefallen, dem er sich einzig und allein verantwortlich weiß
und eines Tages zu verantworten hat, wenn die Rechenschaft von uns
gefordert wird. Dann werden wir uns an unseren Pinzipien,
Grundsätzen, Maximen messen lassen müssen.
Einigkeit
Bei allen Prinzipien, Grundsätzen und Maximen darf der von
Christus angenommene Mitmensch nie aus dem Blickfeld geraten. Ihm
keinen Anstoß und kein Ärgernis zu bereiten, ist eine große
Aufgabe, viel schwerer zu bewältigen als den Stab über andere zu
brechen. Ihm zur Stütze zu werden, zum Begleiter auf dem Weg des
Hoffens und Zweifelns, zum Bruder, zur Schwester, das macht Sinn.
Wo wir die positiven Seiten des Miteinanders in den Vordergrund
stellen und daran weiterarbeiten, verlieren die abstoßenden Kräfte
ihre zwingende Macht. Orientieren wir uns an Christus, vor dem wir
einzig und allein unsere Knie beugen und den wir als gemeinsamen
Herrn bekennen, kommen wir uns zwangsläufig näher und blicken
einander in die Augen mit den Blicken eines offenen barmherzigen
und gütigen Herzens. Geliebte können nicht anders als das
weiterzugeben, was sie empfangen.
Mit einem Bild wollen wir an diesem Sonntagmorgen nach Hause
gehen, das unseren Predigttext in wenigen Worten erleuchtet: Der
Abt eines Klosters wurde von Besuchern gefragt: “Wie ist es
möglich, dass alle Mönche trotz ihrer verschiedenen Herkunft,
Veranlagung und Bildung eine Einheit darstellen?” Statt einer
theoretischen Erklärung antwortete der Abt mit einem Bild: “Stellt
euch ein Rad vor. Da sind Felge, Speiche und Nabe. Die Felge ist
die umfassende Mauer, die aber nur äußerlich zusammenhält. Von
diesem Rand des Rades aber laufen die Speichen in der Mitte
zusammen und werden von der Nabe gehalten. Die Speichen sind wir
selbst, die einzelnen unserer Gemeinschaft. Die Nabe ist Jesus
Christus. Aus dieser Mitte leben wir. Sie hält alles zusammen.” –
Erstaunt schauten die Besucher auf, sie hatten etwas Wichtiges
verstanden. Doch der Abt sagte weiter: “Je mehr sich die Speichen
der Mitte nähern, um so näher kommen sie auch selbst zusammen. Ins
konkrete Leben übertragen heißt das: Wenn wir uns Christus, der
Mitte unserer menschlichen und geistlichen Gemeinschaft, wirklich
und ganz nähern, kommen wir auch einander näher. Nur so können wir
miteinander und füreinander und damit auch für andere leben.”