„…von dort wird er kommen…”
Menschen, die anders glauben als wir, nicht vor den Kopf zu stoßen
Predigttext: Römer 14,10-13 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
Du aber, was richtest du deinen Bruder? Oder du, was verachtest du deinen Bruder? Wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes gestellt werden. Denn es steht geschrieben: ‚So wahr ich lebe, spricht der Herr, mir sollen sich alle Knie beugen, und alle Zungen sollen Gott bekennen.’ So wird nun jeder von uns für sich selbst Gott Rechenschaft geben. Darum lasst uns nicht mehr einer den anderen richten; sondern richtet vielmehr darauf euren Sinn, dass niemand seinem Bruder einen Anstoß oder Ärgernis bereite.Exegetische, hermeneutische und homiletische Hinweise
Ein Ausleger schreibt zu diesem Text: „Das Bild vom Richterstuhl Gottes. – Paulus will damit sagen: Ich habe mich doch selber schon so oft geirrt, und ich bin dadurch an anderen Menschen schuldig geworden. Darum schäme ich mich, wo ich andere Menschen in der Gemeinde verurteile, wo ich ihnen den Glauben abspreche.“ (W. A. Fröhling in „Pastoralblätter“ Juli/August 2004, S. 537) Da reduziert ein Ausleger eine Lehraussage des Paulus und ein neutestamentliches Bekenntnis, das durch ein alttestamentliches Wort, Jes.45,23, untermauert ist, auf die irdisch-menschlichen Konsequenzen dieses Wortes. Ein heilsgeschichtlich bedeutsamer Text wird lediglich existential, d.h. auf seine Bedeutung für die Existenz des Menschen hin, interpretiert. Demgegenüber soll in dieser Predigt die eschatologische Dimension menschlicher Verantwortung herausgestellt werden. Es reicht nicht, lediglich christliche Werte in die so genannte moderne Welt hinüberretten zu wollen. Wir Menschen werden eines Tages vor den Richterstuhl Gottes gestellt werden, und ein jeder muss für sich selbst Gott Rechenschaft geben. „Die Wahrheit über einen Christenmenschen wird nicht von seinen Mitchristen konstituiert, auch nicht von ihm selbst, sondern allein von Gott bzw in dessen Auftrag vom wiederkommenden Herrn“, schreibt Klaus Haacker (Der Brief des Paulus an die Römer, Theologischer Handkommentar zum NT, Band 6, Leipzig 1999, S. 285). Diesen Horizont brauchen wir heute. In diesem Predigttext wird heraus gestellt, was die Christenheit Sonntag für Sonntag bekennt: „…von dort wird er kommen, zu richten die Lebenden und die Toten“. Pointiert schreibt Otto Michel als Resümee seiner Auslegung von Röm.14,1-12: „Jeder von uns wird über sich selbst, nicht über seinen Bruder öffentlich Rechenschaft abzugeben haben.“ (Der Brief an die Römer, Kritisch-exegetischer Kommentar über das NT, begründet von H. A. W. Meyer, Göttingen, 12. Auflage, S. 341) Genau dies haben die Menschen in unserer Zeit nötig, wenn sie verantwortlich leben wollen. Denn Verantwortung bedeutet: Aus der Antwort auf das Wort aus der Ewigkeit, das mich erreicht und das ich angenommen habe, zu leben. Gott ruft uns zu einem verantwortlichen Leben, und natürlich wacht Gott über seinem Wort und über das, was es in uns und unter uns ausgerichtet hat. Eines Tages wird er dann sein letztes Wort über unser Glauben, Denken und Handeln sagen.Liebe Gemeinde!
Die Ferienzeit liegt vor uns. Viele verreisen in andere Teile unseres Landes oder in andere Länder. Manch einer wird durch fremde Städte oder Dörfer schlendern und in eine für ihn neue Kirche gehen. Im Urlaub machen das Menschen besonders gerne. Da wird er mitbekommen, wie viele Kirchen in der Welt über ihrem Eingangsportal ein Bild des Weltenrichters haben. Schon beim Hineingehen der Gottesdienstbesucher sollten die Menschen sehen: Vor diesem Einen hast du dein Leben zu verantworten. Sicher, dieser Blick auf den Weltenrichter wurde im Mittelalter übersteigert. Martin Luther hat Jahre seines Lebens in Angst vor ihm verbracht. Er wusste nicht, wie er vor Gott bestehen kann mit seiner Schuld. Bis er in seiner Bibel erkannte: Gott wird nicht nur den Sünder unerbittlich strafen. Wo ein Mensch an ihn glaubt und seine Schuld bekennt und bereut, da ist er über alle Maßen gnädig und barmherzig. Den Freispruch am Jüngsten Tag um Jesu Christi willen dürfen wir schon jetzt hören und annehmen. Mit dieser guten Nachricht können wir aufatmen und aufrecht leben. So lernte Luther es, schon hier auf dieser Erde mit einem freien Gewissen zu leben. Wir sind deshalb eine evangelisch-lutherische Kirchengemeinde, weil dieser Weg der Rechtfertigung des Sünders noch heute für uns offen steht und weil viele, viele Menschen seit der Zeit Luthers mutig gelebt haben und getröstet gestorben sind. Aber viele andere Menschen haben den Richterstuhl Gottes gar nicht mehr vor Augen. Andere Fragen stehen für sie im Vordergrund. Sie lassen sich von anderen Zielen bewegen und umtreiben: „Was werde ich verdienen?“, „Wie wird später mal meine Rente sein?“, so fragen sich viele. Wenn ein Vorhaben in unseren Städten und Gemeinden in Angriff genommen oder fortgeführt werden soll, fragt man sich vor allem: „Rechnet sich das?“ Bei politischen Entscheidungen sorgen sich die Verantwortlichen – und oft ist das die wichtigste Frage – : „Wie wird sich das auf das Ergebnis der nächsten Kommunalwahl, Landtagswahl oder Bundestagswahl auswirken?“ Dass Gott als der richtende und rettende Weltenherr das letzte Wort hat, dass wir nur leben können, wenn wir nach seinem Willen fragen und ihm gehorsam sind und wenn wir sein Gnadenwort hören, verstehen und zu Herzen nehmen, das ist in unserem Land heute nur für eine Minderheit der Menschen wichtig. Aber es will gepredigt und gehört sein. Das macht uns der Predigttext für diesen Sonntag klar. Hören Sie selbst:
(Lesung des Predigttextes)
Mit dem lebendigen und heiligen Gott und seinem letzten Urteil rechnen
Es gibt einen volkstümlichen Vers, den wir hier im Mühlenkreis Minden-Lübbecke kennen sollten:
„Gottes Mühlen mahlen langsam,mahlen aber trefflich fein;
was mit Langmut er versäumet,
holt mit Schärf er alles ein.“ „Wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes gestellt werden“, heißt es hier in Röm.14. Das letzte Wort über mein Leben und über Ihr Leben, über andere Gemeinden und über unsere Gemeinde, über andere Völker und über unser Volk sagen nicht unsere Freunde und nicht unsere Feinde, sagen nicht die Nachbarn, sagen nicht irdische Gremien oder Gerichte und sage nicht ich selbst.
Dass Gott auf seinem Thron sitzt und regiert, dass Jesus Christus seinen Platz zu seiner Rechten eingenommen hat und dass alle Welt zu dem von hier festgesetzten Zeitpunkt offenbar werden muss, das ist nicht ein Bestandteil veralteter Mythologie und das ist nicht ein Element des mittelalterlichen Weltbildes, sondern das ist biblische Wahrheit, die Bestand hat.
In unserem Wort Verantwortung steckt einmal das Wort: „Antwort“ und zum anderen das Wort: „Wort“. Verantwortung ist also die menschliche Haltung, die aus der Antwort auf das von Gott persönlich zugesprochene Wort lebt. Wir sind nicht nur verantwortlich vor unseren Mitmenschen, mit denen ich auskommen muss oder die mich gewählt haben, vor den Vorfahren oder vor den Nachkommen, oder vor den öffentlichen Gerichten. Nein, wir Menschen sind letztlich verantwortlich vor Gott. „Wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes gestellt werden“, so heißt es hier. Und im zweiten Artikel des apostolischen Glaubensbekenntnisses heißt es zum Schluss über Jesus Christus: „…von dannen er kommen wird zu richten die Lebenden und die Toten.“
Auf das eigene Gewissen achten
Wir Menschen haben ein Organ, das auf Gott und seinen Willen und seine Ziele ausgerichtet ist. Wir müssen lernen, damit zu leben. Wir dürfen es nicht zu lassen, dass dieses Organ verkümmert oder ständig unterdrückt wird. Nein, wir haben nicht nur die Gefühle, auf die wir bei unserem Denken und Handeln zu achten haben, und wir haben auch nicht nur die Bewegung unserer Gedanken. Wir haben auch unser Gewissen. Zum Glauben gehören das Vertrauen, die Liebe und das Hoffen, aber es gehört auch der Gehorsam dazu. Christ wird man und Christ ist man, wenn man bereit ist, sich von Gott seine Schuld aufdecken zu lassen und sie sich vergeben lässt. Zum Christ-Sein gehört es, dass ich mir von Gott das Gewissen schärfen lasse und danach entscheide. Hier haben Eltern eine Aufgabe an ihren Kindern. Hier haben Christen in der Kirchengemeinde eine Aufgabe aneinander. Hier müssen Kirchengemeinden in der Öffentlichkeit ihre Stimme erheben. Aus unserem Innersten sind wir Menschen auf Gott, unseren Schöpfer, ausgerichtet. Das will entdeckt, entfaltet und gelebt sein. Und das Gewissen ist in uns das Organ dafür. Wir können nicht mehr davon ausgehen, dass dies in unserem Volk Allgemeinwissen ist. Umso mehr ist es unsere Aufgabe, auf das eigene Gewissen zu achten und dann Menschen einzeln und in Gruppen dazu zu bringen, auf ihr Gewissen zu achten.
Die Schwestern und die Brüder lieben
Paulus schreibt hier im Römerbrief an die Gemeinde in Rom. Die Christengemeinde in Rom besteht aus Menschen, denen es geschenkt wurde, an Jesus Christus zu glauben. So sind sie Mitglieder der Familie Gottes geworden. Natürlich sitzen die Glieder dieser Familie Gottes an einem Familientisch, den man ausziehen kann. Es können zu jeder Zeit Menschen dazu kommen, Freunde, Gäste, Notleidende, Suchende und Fragende. Sie können mit uns Gemeinschaft haben, und Ihnen kann geholfen werden. Und dann finden sie ihren Platz in der Familie Gottes und werden zu Schwestern und Brüdern. Untereinander können und sollen wir uns viel Freiheit geben. Jeder verantwortet seinen Weg selbst. In der vorletzten Woche haben wir einen Frauenhilfsausflug in ein ägyptisches Kloster bei Höxter gemacht. Mir fiel dabei eine Geschichte ein, die ich vor Jahren gehört habe: Im Stuttgarter Landeskirchenamt arbeitete ein Verwaltungsmann, der auch über Jahre hinweg einen Offenen Abend in der schwäbischen Landeshauptstadt leitete. Eines Tages wurde bekannt, dass er Urlaub in einem koptischen Kloster in Ägypten machen will. Erstaunt fragte man ihn: „Warum gehst du in deinem Urlaub in ein koptisches Kloster?“ Prompt antwortete er: „Wenn wir im Himmel zusammen sein werden, dann kann ich doch auch schon mal jetzt schauen, wer diese Menschen sind und wie sie als Christen zusammen leben.“
Eindringlich mahnt Paulus hier die Brüder und Schwestern, die anders glauben als wir und die in ihrem Glauben schwächer sind, nicht vor den Kopf zu stoßen oder ihnen ein Ärgernis zu geben, sodass sie in ihrem Glauben verunsichert werden. In ähnlicher Weise hat Jesus davor gewarnt, den Kleinen, die an mich glauben, ein Ärgernis zu geben. (s. Mk.9,42) Drastisch fügt Jesus hinzu: „Es wäre besser, dass jemandem, der dies tut, ein Mühlstein an den Hals gehängt und er ins Meer geworfen wird.“ Weil wir gemeinsam einen Vater im Himmel haben, gehören wir zur selben Familie. Er liebt uns alle, und er wacht über unser Leben und über unseren Glauben. Weil Gott gnädig und barmherzig ist, können wir uns auch einander lieben und so gegenseitig stehen lassen. Aus dem Wissen um die letzte Verantwortung eines jeden sind wir in der Lage, auf gegenseitige Verurteilungen zu verzichten. Gott sagt das letzte Wort. Vor ihm wird an dem Tag, den er festsetzt, offenbar, was aus unserem Leben Bestand hat. „Wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes gestellt werden…. So wird nun jeder von uns für sich selbst Gott Rechenschaft geben.“