Einander gelten lassen
Ein Blick nach Siebenbürgen …
Prof. Klein, Neutestamentler an der Evangelisch-Theologischen Fakultät in Sibiu/Hermannstadt in Siebenbürgen (http://www.ev-theol.ro/index.php), erzählt: „Am Sonntag, den 6. Juni 2004 hat sich in Hermannstadt etwas ganz Unerwartetes zugetragen: 88,6% der Wähler der Stadt haben den Evangelischen Bürgermeister Klaus Werner Johannis nach vierjähriger Amtszeit wiedergewählt. Das ist eine ganz ungewöhnlich hohe Zahl… Aber noch ungewöhnlicher ist, daß über 60% das Deutsche Forum gewählt haben, das nun mit einer Zweidrittelmehrheit in den Stadtrat einzieht. Dabei gehören der deutschen Minderheit nur 1,5% der Bevölkerung an. Das Zeichen bleibt zweideutig. Eindeutig ist nur die Tatsache, daß wir Vertrauen empfangen haben und mit großen Aufgaben betraut wurden. Ich kann dieses für mich immer noch nicht faßbare Ereignis nur im Zusammenhang der Geschehnisse der letzten Jahre deuten. Nachdem wir über viele Jahre hinweg viele Freunde, Bekannte und Verwandte verloren haben, haben wir in einer Nacht sehr viele Freunde, Schwestern und Brüder erhalten. Jetzt müssen wir die uns anvertrauten Gaben zum Wohl der Vielen einsetzen.“ (LKI, 15 Juni 2004) Die Predigt zum Thema „Einander gelten lassen“ (Lukas 6,36-42) bezeugt den aus der Hl. Schrift gewonnenen Weg, wie „die uns anvertrauten Gaben zum Wohl der Vielen“ eingesetzt werden können. Dass Vielfalt der Lebenswege und Freiheit der Kinder Gottes keine Gegensätze sind, hilft aus Stagnation und Resignation hinaus. Das Heidelberger Predigtforum freut sich über die Predigt aus Rumänien und lädt ein, Erfahrungen und (Lebens-)Geschichten hinzuzufügen. Schreiben Sie doch in das für Reaktionen vorgesehene Feld, welche Erfahrungen Sie damit gemacht haben, einander gelten zu lassen … Danke! Für die Redaktion des Heidelberger Predigt-Forums: Manfred WussowLiebe Schwestern und Brüder !
Wir kennen diese Worte recht gut. Sie sind auch unserm Empfinden von Gerechtigkeit überaus nahe, denn wir gebrauchen ein Sprichwort und eine bildhafte Anweisung, die Gedanken aus dem Schriftwort aufnehmen. Da hören wir: “Wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen werfen”, und wir verstehen: Gib acht, wenn du zu kritisieren anfängst, es könnte sich gegen dich kehren. Und es gibt eine bildhafte Redeweise, die besagt: “Kehre vor deiner eigenen Tür.” Vorausgesetzt ist: vor jeder Tür gibt es Kehricht. Jeder soll ihn sich selber wegschaffen und nicht beim anderen mit dem Reinemachen beginnen.
I.
Schön. Wir alle wollen, dass man uns so akzeptiert wie wir sind. Aber wenn wir ein wenig überlegen, merken wir rasch, dass wir keineswegs mit allem, was in der Welt geschieht, zufrieden sind. Da sind nicht nur die Zeitungen, die kritisieren und manchmal den Finger in die Wunde legen, wir selbst kommen mit manchem nicht zurecht, sind unwillig oder auch verzweifelt. Und dann beklagen wir uns bei anderen Menschen oder beurteilen negativ das Verhalten der Nachbarn.
Wir sind also allesamt einverstanden mit der Forderung, dass man uns nicht richten soll, aber dieselbe Forderung an uns selbst, dass wir mit dem Beurteilen anderer Menschen aufhören, können wir nicht einhalten. Niemand kann das. Jeder hat Augenblicke, wo er sich Luft machen muss, wo er auch Dinge ausspricht, die andere verletzen.
Aber geht es im Schriftwort hauptsächlich darum, dass man sich über andere nicht auch einmal aufregt oder auch sich entlädt? Ich glaube nicht. “Richtet nicht” kann man zwar sehr neutral als “beurteilt nicht” übersetzen, aber gemeint ist, so glaube ich, etwas viel Tieferes, nämlich, dass man über die Schwester, den Bruder nicht den Stab bricht. Es geht also darum, dass wir einander gelten lassen. Und hier meine ich, dass wir heute sehr viel größere Chancen haben, als die Generation vor uns.
Denn wir leben nicht mehr in einer Zeit, wo man glaubt, wissen zu können, wie es sein soll. Ich erinnere mich, wie man in meiner Kindheit auf die Frage, warum dies so und nicht anders gemacht werden soll, antwortete: Mein Kind, das kommt so. Man meinte, dass man den Kindern Halt gibt, wenn man ihnen klipp und klar sagt, was gut und weniger gut ist und sie in eine klare Ordnung hinein wachsen lässt.
Nun ist es so, dass die meisten von Euch sehr viel in Eurem, in unserm Leben gesehen und erfahren habt. Durch was sind wir nicht alles gegangen? Wir haben gemerkt, dass Leben auf sehr viele Arten möglich ist, und wenn man meint, es ginge nicht mehr weiter, gab es doch noch einen Weg, nicht nur für uns, sondern auch für die anderen. Ich glaube, dass dies eine Chance für uns und die jungen Leute ist: Gerade weil wir viel erlebt haben und wissen, dass Leben auf viele Arten möglich ist, können wir unsern Jungen Mut machen. Wir sind heute nicht mehr in der Lage zu sagen: “Mein Kind, das kommt so.” Denn wir haben zu viele Möglichkeiten selbst gehabt und bei anderen gesehen. Und daraus ergibt sich: Wir müssen nicht mehr über die Mitmenschen richten, wir können ihnen Mut machen, das zu tun, wozu sie die entsprechenden Gaben haben. Natürlich gibt es dann doch noch Dinge, die in einer Gemeinschaft nicht geschehen sollen, aber das sind nicht viele. Und sie kommen meistens dann vor, wenn die jungen Menschen zu eingeengt aufwachsen.
II.
Verstehe ich unser Schriftwort recht, dann redet es davon, dass wir den Mitmenschen – oder besser Mitchristen – ihren Lebensweg nicht versauern. Das Schriftwort geht davon aus, dass jeder Mensch auf seine Weise blind ist: ein Balken ist vor unserm Auge. Wir sehen und nehmen wahr, was uns nützt, uns weiter bringt, uns hilft und fördert. Das Andere lassen wir links liegen. Unsere Mitmenschen aber finden an anderen Dingen Gefallen. Sie nehmen das Leben von einer anderen Seite. Und das dürfen sie, hat ihnen doch der Schöpfer selbst eine andere Sicht der Welt, andere Gaben zur Bewältigung ihres Lebens gegeben. Das Leben ist nicht wie ein Werkstück, wo jeder Handgriff richtig oder falsch sein kann. Und die Erfahrungen, die wir machen, sind unsere Erfahrungen, von anderen Voraussetzungen hätten wir selbst andere gemacht. Es gibt viele Möglichkeiten, sinnvoll und richtig zu leben. Und darum dürfen wir unseren Mitmenschen lassen, ihr Leben selbst zu gestalten. Natürlich tut es uns weh, wenn wir sehen, dass sie Fehler machen und damit Schwierigkeiten bekommen, die sie vermeiden könnten. Aber darum geht es doch nicht. Wir sind nicht gerufen, die Dinge besser zu wissen, wohl aber das zu fördern, was in unsern Mitmenschen wachsen und reifen kann.
Und wenn wir so leben, dann tun wir das Rechte. Glauben wir aber, das einzig Richtige zu wissen, dann werden wir schuldig. Der Evangelist Lukas hat das sehr deutlich gemacht. Er hat in die Aufforderung, nicht zu richten, gefolgt vom Bild von dem Splitter und dem Balken das Wort vom Blinden Blindenführer eingefügt und gemeint: Wenn du zu richten anfängst, bist du wie einer, der als Blinder einen Blinden leiten will. Du kannst das nicht. Lass den Blinden sich selbst zurechtfinden, so wie er es kann, denn du bist doch auch blind. Und wie du dich zu recht findest, kann er es auch.
III.
Und dann kommt das merkwürdige Wort: “Der Jünger ist nicht über den Meister…” Das bedeutet in diesem Zusammenhang: Du bist nicht mehr wie Jesus. Wenn Jesus gesagt hat, dass du nicht richten sollst, darfst du das nicht. Du bist nicht mehr als er. Ein Christ ist in seinem Lebensweg nicht zu verurteilen. Er wählt ihn in Verantwortung vor dem Herrn. So gut er es versteht. Und darum lass ihn in Ruhe. Du darfst ihn nicht für seinen Lebensweg verurteilen. Beurteilen, das tut der Herr.
Wenn wir das verstanden haben, bleibt noch ein kleiner Satz zum Nachdenken übrig: Gebt, so wird euch gegeben. Das bedeutet: statt verurteilen, beistehen, geben. Und damit sind wir wieder beim Anfang: wir sind gerufen, Mut zu machen, den Mitmenschen zu helfen, ihren eigenen Weg in dem Herrn zu finden. Und wenn wir solchen Mut weitergeben, werden wir auch solchen Mut empfangen. Vor allem aber empfangen wir den Segen unseres Herrn und dürfen darin leben.
Amen.