Die neue Gerechtigkeit

Predigttext: Philipper 3,7-11
Kirche / Ort: Neckarzimmern
Datum: 8.08.2004
Kirchenjahr: 9. Sonntag nach Trinitatis
Autor/in: Pfarrvikar Dr. Alexander Bitzel

Predigttext: Phillipper 3,7-11 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)

Aber was mir Gewinn war, das habe ich um Christi willen für Schaden erachtet. Ja, ich erachte es noch alles für Schaden gegenüber der überschwenglichen Erkenntnis Christi Jesu, meines Herrn. Um seinetwillen ist mir das alles ein Schaden geworden, und ich erachte es für Dreck, damit ich Christus gewinne und in ihm gefunden werde, dass ich nicht habe meine Gerechtigkeit, die aus dem Gesetz kommt, sondern die durch den Glauben an Christus kommt, nämlich die Gerechtigkeit, die von Gott dem Glauben zugerechnet wird. Ihn möchte ich erkennen und die Kraft seiner Auferstehung und die Gemeinschaft seiner Leiden und so seinem Tode gleichgestaltet werden, damit ich gelange zur Auferstehung von den Toten.

Vorbemerkungen

Die Perikope bringt das theologische Thema der iustitia aliena zur Sprache. Es geht darum, dass ein Mensch - in diesem Fall Paulus - von Gott als ein Gerechter angesehen wird allein darum, weil er an Jesus Christus glaubt. Im Glauben wird dem Menschen eine (fremde) Gerechtigkeit zuteil, die sein Leben fundamental - vor allem auch spürbar! - verändert. Der Apostel Paulus hat diese grundstürzende Veränderung seines Lebens erfahren in einem Moment "überschwenglicher" Erkenntnis, also in einem Moment biblischer, d.h. nicht rein intellektueller, sondern Leib und Seele involvierender Erkenntnis. Paulus wurde dabei klar, dass alle seine bisherigen Versuche, vor Gott gerecht zu werden, vergeblich waren. Wichtig ist mir an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass Paulus über seine ganz persönlichen Versuche der Gerechtwerdung spricht. Er hat nicht die jüdische Glaubenspraxis insgesamt, sondern lediglich eine ganz spezielle Spielart derselben (die es auch als christliche Glaubenspraxis gibt) im Visier, wenn er vom "Dreck" seiner Vergangenheit spricht. Was Paulus mit scharfen Worten als überwunden kennzeichnet, ist ein gesetzlicher Weg zu Gott, der sein Ziel nicht erreichen kann. Dass man nicht über Normerfüllung, sondern allein durch die im Glauben zugerechnete iustitia aliena zu Gott gelangt, ist die Kernaussage der Perikope. Wollte man die Perikope zur Klärung des Verhältnisses zwischen Judentum und Christentum (Synagoge-Kirche) heranziehen, hätte man den Apostel - wie ich meine - gründlich missverstanden. Zudem verlöre die Perikope ihre überzeitliche Aktualität und Brisanz. Denn der "Geisteszustand", den Paulus überwunden hat, ist einer, der in unserer Welt - in unserer Gesellschaft, in unserer Kirche, in unserem persönlichen Leben - weit verbreitet ist. Sind wir doch alle Kinder des Gesetzes, die wie Hamster im Laufrad der Normerfüllung stecken, aus dem wir selbständig nicht herauskommen. Uns Menschen aus dieser lebensfeindlichen Sphäre permanenter Forderungen - theologisch gesagt: aus der Sphäre des Gesetzes herauszureißen hat sich Jesus Christus vorgenommen. Vollenden wird er sein Werk an uns eschatologisch. Solange wir noch im Diesseits leben, werden wir lediglich einen - möglichst starken - Vorgeschmack auf die Freiheit derer bekommen, die sich nicht mehr selbst rechtfertigen müssen, sondern die von Gott gerechtfertigt werden. Die Befreiung des Menschen aus der Sphäre des Gesetzes steht im Zentrum der nachfolgenden Predigt. Ich empfehle, die Perikope mit Vers 11 enden zu lassen. Die Verse 12-14 sind zwar theologisch nicht weniger bedeutsam. Den Aspekt der endgültigen eschatologischen Befreiung würde ich in der Predigt aber nur anspielen, nicht mehr ausarbeiten. Er ist so gewichtig, dass er meines Erachtens eine eigene Predigt verdient hätte.

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Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus

(Ankündigung und Lesung des Predigttextes)

Herr segne unser Reden und Hören, Amen.

Liebe Gemeinde!

Auf meinem Schreibtisch daheim liegen jede Menge Zettel. Auf denen steht, was ich zu tun habe. Kaum habe ich einen Zettel abgearbeitet, liegen zwei neue da. Wenn ich mir vorstelle, die Zettel könnten reden, dann säße ich tagaus tagein in einem Lärm von Appellen, Forderungen und Ermahnungen. Da Zettel aber glücklicherweise nicht reden können, kann ich sie hin und wieder auch mal liegenlassen, ohne dass sie mir nachrufen: Hey, du hast mich vergessen. Schnell, schnell, ich will und muss noch unbedingt erledigt werden.

Vielleicht ist das bei Ihnen zu Hause ähnlich. Vielleicht verwalten Sie Ihre Termine nicht auf Zetteln, sondern professionell im Computer. Was sich jedenfalls am Schreibtisch im Kleinen zeigt, das gilt für unser Leben insgesamt. Wir sind umstellt von Forderungen, wir müssen Rollen einnehmen, wir müssen moralischen Normen gerecht werden. Nicht nur im Beruf, sondern auch privat in der Familie. Ja selbst in unserem ganz persönlichen Bereich – wo wir mit uns alleine sind – da stacheln uns unsere Pläne, Träume und Wünsche permanent zu neuen Taten an.

In der Regel versuchen wir, den Anforderungen, die an uns gestellt werden, zu entsprechen. Wir wollen schließlich vorankommen.
Wir wollen andere nicht enttäuschen. Wir wollen uns selbst nicht enttäuschen. Und sollte es uns einmal gelingen, alle Forderungen
auf dem Schreibtisch des Lebens erledigt zu haben, dann geht es uns gut. Wir haben das Gefühl, dass unser Leben gelingt. Dass wir rechtschaffene Menschen sind.

Der Wert unseres Lebens bestimmt sich offensichtlich daran, ob wir dem entsprechen, was wir selbst und was andere von uns verlangen. Entsprechen wir dem, geht es uns gut. Dieses Gefühl hält allerdings nicht besonders lange an. Spätestens wenn neue Forderungen eintreffen, ist es verschwunden. In unserem Leben erzeugen die Anforderungen, die uns umstellen, einen enormen Druck. Sie halten uns auf Trab. Sie hetzen uns. Sie lassen uns nicht in Frieden. Da kann leicht der Wunsch aufkommen, dem Wald von Forderungen und Appellen zu entfliehen.

Einer, der in letzter Zeit so eine Flucht aus dem Wald von
Ansprüchen versuch hat, ist Oliver Kahn, der Torhüter der deutschen Fußballnationalmannschaft. Wer aufmerksam die BUNTE verfolgt
und auch immer mal einen Blick auf die Schlagzeile der BILD-Zeitung riskiert, der konnte in den vergangenen Monaten verfolgen, wie Kahn einem Anspruchsdruck entkommen wollte, der ihm über den Kopf gewachsen war. Kahn – das wissen Sie – ist ein sehr ehrgeiziger Athlet. Für seinen Sport gibt er alles. Diese Einstellung hat ihn erfolgreich gemacht. Und sie hat dazu geführt, dass die Menschen
um ihn herum sehr viel von ihm erwarten. Nicht nur sportlich, sondern auch, was seine allgemeine Lebensführung anbetrifft. Ein großer Sportler muss schließlich ein Vorbild für die Jugend sein. Als Kapitän der Fußballnationalmannschaft muss einigermaßen intelligente Interviews geben, muss repräsentieren können, usw.

Irgendwann einmal wurde Kahn dieser ganze Druck zu groß. Er unternahm einen Ausbruchsversuch. Er wollte nicht mehr der Vorzeigesportler sein – sondern er wollte einfach nur noch leben.
Und wie das so ist – wenn einer leben will – suchte sich Kahn eine Geliebte. Verließ Frau und Kinder, ging auf Parties, parkte sein Auto im Parkverbot und was dergleichen mehr noch möglich war. Was aber passierte?

Nun, um es kurz zu machen: Kahn kam vom Regen in die Traufe. Sein altes Leben ließ er zwar hinter sich. Das neue Leben war aber haargenauso gestrickt wie das alte. Auch in seinem neuen Leben sah sich Kahn tagtäglich mit neuen Forderungen konfrontiert. Auch im neuen Leben musste er bestimmte Normen erfüllen. Das neue Leben hat Kahn in keiner Weise freier gemacht. Die Anforderungen an einen Liebhaber und Partylöwen sind schließlich nicht weniger komplex als die Anforderungen an einen Familienvater und Musterathleten. Kahns Ausbruchsveruch ist auf der ganzen Linie gescheitert. Aus eigener Kraft hat er nichts erreichen können.

Was aber könnte man Oliver Kahn empfehlen? Was könnte man uns empfehlen, denen es vielleicht ganz ähnlich geht. Die wir uns vielleicht auch nichts sehnlicher wünschen als den unendlichen Ansprüchen unseres Lebens zu entkommen? Schauen wir auf Menschen, denen es gelungen ist, aus einem Leben auszubrechen, das seinen Wert aus der Normerfüllung bezog. Der Apostel Paulus ist einer, der einen solchen Ausbruch geschafft hat.

In seinem alten Leben hatte Paulus einen anstrengenden, einen verantwortungsvollen Job. Paulus war als Religionsbeamter mit der Verfolgung von Christen betraut. Das war eine – wie er und viele andere dachten – sinnvolle Aufgabe. Ein wertvoller Dienst am inneren Frieden der Gesellschaft. Paulus wurde für seine Arbeit von vielen respektiert. Er wusste zwar, dass dieser Respekt damit zusammenhing, dass er seine Aufgaben gut erledigte. Doch das war okay für ihn. So ist es im Leben, dachte sich Paulus: Wer Erfolg hat, der wird respektiert. Wär ja noch schöner, wenn es nicht so wäre. Paulus führte ein ganz normales Leben. So wie wir es auch kennen.

Was Paulus nun von uns oder von Oliver Kahn unterscheidet, ist,
dass er keinerlei Überdruss an seinem Leben hatte. Den vielen Forderungen, die an ihn gestellt wurden, versuchte er zu entsprechen. Paulus wollte sein altes Leben gar nicht verlassen. Er war mit diesem Leben zufrieden.

Doch auf einmal gab es einen Riss im Leben des Paulus. Eines Tages nämlich drang Jesus Christus in dieses Leben ein. Er brachte es komplett durcheinander. Paulus war zunächst blind. Er hatte jede Orientierung verloren. Konnte nicht mehr essen und nicht mehr trinken. Wusste nicht, wie es weitergehen sollte mit ihm und mit seinem Leben.

Da geriet Paulus in die christliche Gemeinde von Damaskus. Einer aus dieser Gemeinde – mit Namen Hananias – öffnete dem Paulus wieder die Augen, indem er ihm deutlich machte, wer es ist, der da mit großer Wucht in sein Leben eingedrungen war: Jesus Christus.

Christus hat das Leben des Paulus radikal verändert. Die Bestandteile dieses Lebens wurden durcheinandergeworfen und neu sortiert. Was war in seinem Leben sah Paulus nunmehr in ganz neuem Licht. Was war, galt ihm gar nichts mehr. Dreck und Schaden nennt Paulus seine Vergangenheit. Das Wichtigste im Leben des Paulus war nun Christus. Von ihm bezog er fortan sein Selbstbewusstsein, sein Selbstwertgefühl. Nicht mehr aus dem, was er tat.

Diese Lebenswende wurde dem Paulus von seinen alten Freunden vermutlich ziemlich übel genommen. Sie werden nichts unversucht gelassen haben, um ihn wieder zurückzuziehen in die alten Kreise. Und als sie gemerkt haben, dass bei Paulus nichts zu machen ist,
da haben sie wohl versucht, ihn bei seinen neuen Freunden anzuschwärzen. Lebenswende schön und gut – werden sie gesagt haben – doch schaut nur, was der Paulus früher alles getan hat. Das kann man ihm doch nicht so einfach durchgehen lassen. Sein polizeiliches Führungszeugnis ist voller Vergehen. Was wollt ihr mich so einem?

Dieses Nachtreten aber machte dem Paulus gar nichts mehr aus. Die Ansprüche und Forderungen seines alten Lebens – die interessierten ihn nicht mehr. Er ließ sich von den Schatten seiner Vergangenheit nicht mehr bedrängen. Er sagte sich: Was war, war schlecht. Ich habe Unheil angerichtet. Ich versuche es wiedergutzumachen. Doch der Wert meines Lebens hängt nicht mehr davon ab, ob mir gelingt, was ich zu tun habe. Den Wert meines Lebens bestimmt Christus allein. In mir hat Christus ein neues Leben begonnen. Er hält zu mir. Er macht mich gerecht mit seiner höheren Gerechtigkeit.

Wenn Christus nun mit Paulus einen Menschen bezwungen hat, der sein altes Leben gar nicht verlassen wollte, dann wird er auch jenen, die sich nach einem neuen Leben in Freiheit sehnen, eine helfende Hand reichen.

Alles, was zu tun ist, wenn wir uns nach einem solchen Leben in Freiheit sehnen, ist, diese Sehnsucht auf Christus zu werfen, im Gebet, beim Singen, im Gottesdienst. Und Christus zu bitten, dass er uns annehme und sage: du bist mein; egal, ob du in der Welt erfolgreich bist. Ob du alle Anforderungen erfüllst. Ob du den gerade geltenden Normen entsprichst.

Wenn wir nun Christus bitten, so darf das – wie ich finde – nicht ängstlich geschehen. Sondern forsch und frei heraus. Nicht so wie der dritte Mann im Sonntagsevangelium (Matthäus 25) dürfen wir agieren. Der dritte Mann, der vor lauter Angst vor seinem Herrn sein Pfund in der Erde vergrub und dann am Ende ins Stottern kam. Nein, mit allem, was wir haben, können wir vor Christus treten. Mit ihm ins Gespräch kommen. Und ihm sagen: Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus,

Amen

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