„Das Geheimnis des Weges Gottes mit seinem Volk Israel“

Predigttext: Römer 9-11
Kirche / Ort: Johanneskirche Heidelberg
Datum: 15.08.2004
Kirchenjahr: 10. Sonntag nach Trinitatis
Autor/in: Pfarrer Dr. Klaus Müller

„Ich will euch, liebe Schwestern und Brüder, ein Geheimnis eröffnen“, sagt der Apostel seiner Gemeinde, „das Geheimnis des Weges Gottes mit seinem Volk Israel.“ Und wenn es um ein Geheimnis geht, dann ist eines sicher nicht am Platze: das schnelle Urteil, die allzu schnelle Antwort aus eigener Klugheit geboren und nicht aus der Einsicht in Gottes Gedanken.

Schnelle Antworten hatten sie parat, die jungen Christen in der alten Hauptstadt des Weltreiches: „Klar, nachdem es nun eine Kirche gibt, die an den Erlöser Jesus Christus glaubt, hat das alte Gottesvolk Israel ausgedient. Es gibt ja ein neues erwähltes Volk; Gott hat wohl Israel verstoßen, man kann’s ja ablesen überall in der Geschichte.“

Die hochmütigen christlichen Worte aus Rom rufen Paulus zu einem der leidenschaftlichsten Abschnitte seiner Briefe, den er je geschrieben hat, den Kapiteln 9 bis 11 im Römerbrief. „Wie meint ihr, Gott habe sein Volk verstoßen? Das sei ferne, keineswegs! Gott hat sein Volk nicht verstoßen, welches er sich zuvor ersehen hat!“ (11,1f) Die Antwort des Paulus ist so klar und unmissverständlich wie die Meinung der Gemeinde in Rom. Aber der Grund für diese unbedingte geistliche Parteinahme für das Volk Israel liegt in einem zaghaften demütigen Einblick in Gottes Wege mit seinen Menschen, im Geheimnis seiner Gedanken, die doch so unendlich hoch über unseren Gedanken und Wegen liegen. Eines hat Paulus verstanden, das Entscheidende, das entscheidende Wort Gottes über Israel: „Es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der HERR, dein Erbarmer“ (Jes 54,10).

Und so nimmt der Apostel seine junge Gemeinde bei der Hand und mahnt sie zur Demut: „Erhebt euch nicht über Israel, eure Meinung nicht und eure Schwerter auch nicht – denn Gott hat seinen Weg mit diesem Volk bis zum Ende der Zeit.“

Wir haben vor Gott unsere Schuld ausgebreitet am Anfang des Gottesdienstes, die Schuld deutscher Hände, die sechs Millionen Juden in die Todeskammern von Bergen-Belsen, Dachau, Auschwitz und Treblinka getrieben haben. Wir müssen es Gott und auch den entronnenen Opfern überlassen zu verzeihen und zu vergeben.

Wir haben einen Apostel, der uns einweisen will in ein neues Verhältnis zum Volk Israel aus Einsicht in das Geheimnis der Liebe Gottes mit seinen Erwählten. Folgen wir Paulus, wie er den Römern die Augen öffnet für Gottes Treue zu Israel; sehen wir zu

1. was er über den Anfang des Weges Israels sagt
2. was er über das Ziel dieses Weges sagt und
3. was unterwegs geschieht zum Heil der Völker aus den Heiden.

1. Der Anfang des Weges

Die Beschreibung des Anfangs, der schon über das Ganze bestimmt – in einem Satz des Paulus gesagt: „Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen“ (11,29). Das ist der Wegbeginn des Gottesvolkes: Gottes Gaben, Charismen, „Geistesgaben“ – wörtlich übersetzt! – an Israel, die Berufung auf den Weg der Nachfolge. Wohlgemerkt: Noch lange vor der Kirche, weit mehr als ein Jahrtausend bevor es Gemeinde Jesu Christi gibt, gibt es Berufung und Gaben durch den Geist Gottes! Was sind das für Charismen, für Geistesgaben an Israel? Paulus hat da sehr konkret gesprochen. In Röm 9 am Anfang nennt er mit der Zahl der Vollkommenheit sieben Gaben an Israel, sieben Merkmale der Existenz des Gottesvolkes der Juden als Gemeinschaft der vollkommen Beschenkten:

Erstens die Kindschaft.

Die Gabe der Gotteskindschaft. Das Vorrecht zu Gott Vater sagen zu dürfen, das dann wir Christen durch den Bruder Jesus auch bekommen. „Abba“ – bis heute das hebräisch-aramäische Wort für Vater. Die Gabe der Gotteskindschaft steht vorne an. In ihr ist alles andere beschlossen; und wenn wir Christen hier verstehen, dann haben wir alles verstanden über Israel. Die Juden sind Gotteskinder, es geht nicht mehr deutlicher, sie sind Gotteskinder noch bevor der eine Gottessohn den Völkern der nichtjüdischen Welt die Gotteskindschaft erwirkt.

Mit der Herausführung aus Ägypten erweist sich Gott als der liebende Vater, der die Kinder in die Freiheit ruft: „Ich rief meinen Sohn aus der Wüste“, sagt der Prophet Hosea (11,1) und beschreibt damit eben diese Kindschaft Israels zum himmlischen Vater. Und es bleibt dabei: Gottes Gaben und Berufung können und werden ihn nicht gereuen.

Zweitens: die Herrlichkeit.

Israel wird teilhaftig der Herrlichkeit Gottes. So wird die Gegenwart Gottes beschrieben: „Da bedeckte die Wolke die Stiftshütte, das Zelt der Begegnung mit Gott und die Herrlichkeit Gottes des Herrn erfüllte die Wohnung“ (2.Mose 40,34). So erzählt die Bibel die Begegnung Gottes mit seinem Volk in jener Herrlichkeit und Klarheit, die später die Hirten auf den Feldern von Bethlehem wieder umstrahlen wird. Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen!

Drittens: der Bund.

Dass sich Gott verbindet und verbündet mit Israel – davon lebt dieses Volk, davon, dass Gott ausspricht, was so oft wiederkehrt in der Bibel: „Ich will euer Gott sein und ihr sollt mein Volk sein“. Angefangen mit Noah, Abraham und dann mit Israel durch alle Zeiten hindurch. Zum Bund gehört die Bundestreue beider Partner: Gottes Gaben und Berufung können und werden ihn nicht gereuen. Er ist treu.

Viertens: das Gesetz.

Die Gebote Gottes sagen dem Volk, wie es seinerseits treu dem Bundesschluss mit Gott leben kann und soll. Ein Vorrecht Israels, Gottes gute Lebensordnungen kennen gelernt zu haben am Sinai!

Fünftens: der Gottesdienst.

Israel ist das Volk des Gottesdienstes, der besonderen Möglichkeit vor Gott zu stehen. Im Gebet das Gespräch mit ihm zu suchen; im Lesen und Auslegen der heiligen Schrift sich der Zusagen Gottes zu vergewissern; im Singen ihn zu loben und zu preisen. Der Gottesdienst ist zuerst eine Gabe an Israel, bis in die Zeit Jesu hinein auch verbunden mit Opfern im Tempel. Auch der Sabbattag, der besondere Feiertag, mit dem Gottesdienst im Mittelpunkt ist zuerst eine Gabe an Israel. Ja, Gottes Gabe und Berufung können ihn nicht gereuen!

Sechstens: die Verheißungen.

Am Anfang des Weges Israels stehen Gottes Verheißungen: „Ich werde dich zum großen Volk machen“, „ich werde dich ins gelobte Land führen“, so spricht Gott, „nicht weil du so vollkommen, so untadelig bist, sondern weil ich dich liebe“. Die Verheißungen Gottes begleiten dieses Volk, immer und durch alle Täler hindurch. „Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht, und über denen, die im Dunklen wohnen, wird es hell scheinen“ – wir Christen dürfen diese Verheißungen mithören, aber wir dürfen sie dem Volk Israel nicht entreißen und ganz und gar für uns in Anspruch nehmen. Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen.

Siebtens: Christus dem Fleische nach.

Noch ein letzter großer Grund Israel zu preisen: das jüdische Volk entlässt aus sich heraus den Christus, den Retter und Gesalbten für die Heidenwelt. Christus seiner irdischen Herkunft nach, so weiß auch Paulus, ist Jude. Das Heil kommt von den Juden, so weiß auch die syrische heidnische Frau am Brunnen, die mit Jesus spricht. So beschreibt der Apostel Paulus das Gottesvolk. Siebenfach von Gott ausgezeichnet, ein für alle Mal. Das ist der rechte biblisch begründete Ausgangspunkt von Israel zu reden. Gott hat Israel beschenkt und berufen zum Volk der Erwählung und: Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen!

2. Das Ziel des Weges

Und das andere sagt er ebenso unmissverständlich, was nämlich das Ziel Gottes mit Israel ist: „Ganz Israel wir gerettet werden“. Punkt. Ausrufungszeichen! Nicht mehr und nicht weniger. Es steckt ja schon in jener Überschrift drin: Seine Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen. Also wird er sie auch ans Ziel bringen. „Ganz Israel wird gerettet werden“ (11,26), so wie Gott von alters her seinem Volk zugesagt hat durch Hesekiel, seinen Propheten: „Ich will sie reinigen von allen ihren Abwegen, und sie sollen mein Volk sein und ich will ihr Gott sein. Und ich will mit ihnen einen Bund des Friedens schließen; der soll ein ewiger Bund mit ihnen sein. Und ich will sie erhalten und mehren, und mein Heiligtum soll unter ihnen sein für immer. Ich will unter ihnen wohnen und will ihr Gott sein und sie sollen mein Volk sein, damit auch die Heiden erfahren, dass ich der Herr bin, der Israel heilig macht“ (Kap. 37).

Zwischen diesem Anfang und diesem Ziel verläuft Israels Weg, zwischen seiner siebenfachen Auszeichnung und Berufung des Volkes und der Zusage endgültigen Heils. Alles was zwischenzeitlich an Geheimnisvollem und Unverständlichem geschieht mit Israel, geschieht innerhalb dieser beiden Pole.

3. Unterwegs zum Heil der Völker

Und etwas vollziehe sich auf Israels Weg, etwas höchst Geheimnisvolles, das nun Paulus seiner Gemeinde zu erklären versucht: Jesus Christus tritt auf in Israel – und sie nehmen ihn nicht an. Da schickt sich die junge Gemeinde an, das Volk der Juden zu verurteilen und zu sagen: „Seht ihr, die Ungläubigen, jetzt hat sie Gott verstoßen; sie glauben nicht an das Evangelium!“ Und genau hier setzt Paulus ein und warnt so energisch er kann: „Halt, ihr überheblichen Christen, versteht ihr denn nicht? Die Juden bleiben Volk Gottes, daran gibt es nichts zu rütteln. Ja, sie mussten das Evangelium ablehnen, damit die Botschaft ihren Weg nehmen konnte über das Judentum hinaus zu den Heidenvölkern – bis nach Germanien.“ „Versteht ihr das?!“, sagt Paulus. „Israel musste sich abwenden, bis die Fülle der Heiden eingegangen ist nun ihrerseits in die Gotteskindschaft. Das dürft ihr Israel nicht zum Vorwurf machen; und das Wichtige: Sie bleiben bei alle dem Geliebte bei Gott, in der unauflöslichen Glaubensbeziehung mit Gott, ohne dass sie den Glauben der Christen an Jesus den Heiland mit vollziehen – das ist das Geheimnis!“ Das hat Paulus verstanden. Er weiß sich als Heidenapostel von Mutter Leibe an, wie er im Galaterbrief sagt, der das Licht des Evangeliums unter die Völker bringt und Israels eigene Gottesbeziehung achtet und respektiert. Wir Heidenchristen haben alles Israel zu verdanken, was wir haben: Wir leben von dem Heiland, der aus ihren Reihen kommt; wir leben aus den Verheißungen, die ihnen gegeben sind und dann auch alle Völker mit umgreifen; wir leben von ihren Psalmen und Gebeten; wir leben auch von ihren Geboten der Gottes- und der Nächstenliebe, die wir lernen aus der Bibel der Juden, unserem „alten“ Testament, von dem wir auch leben. So ist unser Verhältnis nicht das von Erben zu Toten, sondern das einer lebendigen wechselseitigen Partnerschaft im Glauben an den Gott Abrahams, Isaaks und Jaakovs, der der Vater Jesu Christi und unser aller himmlischer Vater ist.

Solidarität ist das Stichwort, Partnerschaft, auch im Sündersein und im Angewiesensein auf das göttliche Erbarmen. Paulus sagt es so: „Gott hat alle beschlossen unter den Unglauben, auf dass er sich aller erbarme“ (11,32). Wer sich gemeinsam als Sünder vor Gott erkennen kann, hat den Einstieg gefunden für eine neue fruchtbare Gemeinschaft, die aus dem Erbarmen Gottes lebt – auch zwischen Juden und Christen

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