Die Furcht hört nicht auf, aber die Ermutigung auch nicht

Predigttext: 2. Timotheus 1,7-10
Kirche / Ort: Evangelische Stadtkirche Schriesheim
Datum: 26. 09.2004
Kirchenjahr: 16. Sonntag nach Trinitatis
Autor/in: Pfarrerin Eva Beisel

Predigttext: 2. Timotheus 1,7-10 (Übersetzung Martin Luther, Revision 1984)

7 Denn Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit. 8 Darum schäme dich nicht des Zeugnisses von unserem Herrn noch meiner, der ich sein Gefangener bin, sondern leide mit mir für das Evangelium in der Kraft Gottes. 9 Er hat uns selig gemacht und berufen mit einem heiligen Ruf, nicht nach unseren Werken, sondern nach seinem Ratschluss und nach der Gnade, die uns gegeben ist in Christus Jesus vor der Zeit der Welt, 10 jetzt aber offenbart ist durch die Erscheinung unseres Heilands Christus Jesus, der dem Tode die Macht genommen und das Leben und ein unvergängliches Wesen ans Licht gebracht hat durch das Evangelium.

Exegese

Jenseits der Frage nach dem Verfasser und abseits der Frage, ob sich in diesem Brief eine tatsächliche Gemeindesituation wiederspiegelt, ist festzuhalten: Die vorausgesetzte Situation hat lebensbedrohlichen Charakter. Während sich der Absender des Briefes in Gefangenschaft befindet (1,8; 2,9; vgl. 3,11) und mit seiner Hinrichtung rechnen muss (4,6), ist der Adressat in Tränen aufgelöst. „Wenn ich an deine Tränen denke“ (1,4) macht das Folgende zu einem Trostwort. Dementsprechend wird in 1,7 die Zusage Gottes in den Raum gestellt: „Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern ...“ Die Folge daraus in V 8 ist nun nicht, dass der Angesprochene nicht mehr weinen muss, sondern dass er sich nicht mehr schämen muss. Und zwar erstens nicht des Evangeliums (denn es ist eine Kraft Gottes vgl. Röm 1,16 ) und zweitens nicht des mitleidenden Apostels. Auch durch und in dem tödlich getroffenen Menschen lebt das Evangelium. Dieses wird in den VV 9.10 in wahrscheinlich liturgisch geprägten Formulierungen entfaltet. Vor aller Zeit, jenseits aller Aktivität des Menschen konzentriert sich die Gnade Gottes in Christus. Sein Sieg über den Tod ermöglicht den Blick nach vorne in eine (trotz aller Todeserfahrungen) offene Zukunft.

Überlegungen zu Gottesdienst und Predigt

Das Evangelium des 16. Sonntags nach Trinitatis ist Johannes 11. Der Macht des Todes begegnet die noch größere Macht Jesu. Die Epistel , 2. Timotheus 1,7-10 (= Predigttext), entfaltet dasselbe Thema. V 7 gehört zu meinen erklärten Lieblingsworten. Die Gefahr ist jedoch: Aus dem Indikativ „Gott hat uns gegeben ...“ wird unter der Hand ein Imperativ „also hast du auch furchtlos etc. zu sein“.  Die Schönheit des vorliegenden Predigttextes liegt in meinen Augen darin, dass das (gottesdienstliche) Einschwingen in das Lob Gottes im Hörenden Kräfte freisetzt, die er sonst so nicht an sich wahrnimmt. Die besondere Predigtaufgabe in Schriesheim besteht in der Tatsache, dass die Konfirmanden und Konfirmandinnen eingeführt werden. Die Eltern sind dazu eingeladen. Von daher erklärt sich das Eingehen auf die Konfirmanden und die Auswahl einzelner Beispiele.

Liedvorschlag:

„Schenk uns Weisheit, schenk uns Mut ...“ EG 662

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Liebe Gemeinde,

Lieblingsworte sind manchmal gefährlich. Ich lese sie. Ich freue mich an ihnen. Ich greife nach ihnen wie nach einer reifen Frucht. Sie scheinen mir zu gehören. Das ist ein Irrtum.

I.

Mit dem ersten Satz unseres heutigen Predigttextes ist es mir so gegangen. „Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.“ Das ist der erste Satz. Ich liebe dieses Wort. Ich kann mir gut vorstellen, liebe Konfirmanden, ich würde es mir sogar wünschen, dass ihr euch dieses Wort einmal als Konfirmandenspruch wählt.

„Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht …“ Wenn das aber so ist, wenn wir diesen Geist haben, warum fürchte ich mich dann so oft? Warum dieses Herzklopfen, wenn ich beim Arzt meine Diagnose höre oder wenn ich vom Tod eines Menschen erfahre, mit dem ich vor kurzem noch gesprochen habe? Und wie steht es mit meiner Kraft? Immer wieder habe ich das Gefühl, sie reicht nicht. Meine Liebe? Das frage sich jeder selbst. Bin ich besonnen? Handle ich maßvoll und überlegt? Es könnte besser sein.

„Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.“ Warum dieses Herzklopfen? Hat Gott mir diesen Geist zum Schluss doch nicht gegeben?

Andere haben es vielleicht leichter als ich. Wer aus der Kirche ausgetreten ist, sagt sich vielleicht: Kein Wunder, dass sich der Geist verflüchtigt hat. Wer noch nicht getauft ist, sagt sich vielleicht: Das kommt erst noch. Aber ich bin getauft und ich bin konfirmiert und mir wurde die Hand aufgelegt. Und wo ist jetzt der Geist? – Ich muss ihn einfach haben!

Bleibt nur eines: Mich bemühen. Es immer noch besser machen. Die Furcht bekämpfen. Die Kraft trainieren: Mehr schlafen, mehr beten, besser auf mich achten. Mich in der Liebe üben. Ein paar freundliche Worte mehr müssen doch drin sein. Und Maß halten. Nicht so schnell aus der Haut fahren. Es muss doch gehen. Sonst stimmt einfach nicht, was da steht: „Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit“.

II.

Aber ich prophezeite Ihnen, liebe Gemeinde, ich weiß es schon jetzt. Es wird nichts daraus. Der eine oder andere Fortschritt ist vielleicht. Aber am Abend oder so wie heute im Gottesdienst, bleibt doch immer dieses: Es ist immer noch zu wenig. Es reicht einfach nicht.

Wofür eigentlich? Vielleicht um zu bestehen? Vor wem zu bestehen? Vor den eigenen Kindern, vor den Eltern, vor mir selbst, vor Gott? Vielleicht ist es ein bisschen verrückt, aber manchmal frage ich mich, was wohl bei meiner Beerdigung gesagt werden wird. Ob dann jemand sagen wird: „Sie hat sich bemüht. Ihr Leben lang hat sie sich angestrengt.“

Wißt ihr Konfirmanden, was das heißt, wenn in einem Zeugnis steht: „Sie hat sich bemüht.“? Sie ist gescheitert, heißt das. Sie hat sich wohl bemüht, aber es ist ihr nicht gelungen. „Sie hat sich bemüht.“ Das ist ein Armutszeugnis.

„Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.“ So sehr ich dieses Wort mag. So gern ich es für mich in Anspruch nehmen möchte. Aber inzwischen glaube ich, ich habe diesen Geist nicht; zumindest nicht so wie ich andere Dinge im Leben habe.

Und jetzt wird es Zeit ein bisschen weiter im Text zu lesen. Ein bisschen mehr von denen zu erfahren, die das ursprünglich angeht. Man könnte ja meinen, dass da ein Lebensfroher einem anderen Lebensfrohen schreibt und ein Erfolgreicher dem anderen. Aber dem ist nicht so. Der, der den Brief schreibt, sitzt im Gefängnis, muss vielleicht sogar mit seinem Tod rechnen. Und der andere, der den Brief liest, der weint. „Wenn ich an deine Tränen denke,“ liest er.

Der im Gefängnis sitzt und den Tod vor Augen hat schreibt dem, der weint: „Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit. Darum schäme dich nicht des Zeugnisses von unserem Herrn“. Und dann, als ob sich eine Kraftquelle aufgetan hat: „Er hat uns selig gemacht. Er hat uns berufen. Er hat dem Tod die Macht genommen. Er hat ein unvergängliches Wesen ans Licht gebracht“.

Da ist nun auf einmal wirklich Kraft dahinter. Da ist – Gefängnis hin, Gefängnis her, – nichts mehr zu hören von irgendeiner Form von Bedenklichkeit oder angeschlagen sein. Was ist geschehen?
Ich glaube: Der, der im Gefängnis sitzt, hat gemerkt, oder ich sag vielleicht besser, es ist ihm aufgegangen: Nichts ist sicher. Alles ist in Gefahr. Um alles kann und muss ich mir Sorgen machen. Nur um einen muss ich mir keine Sorgen machen. Um Gott. Der sorgt für sich selbst. Der schafft, was er sich vorgenommen hat. Der bringt noch alles zu einem guten Ende. Der schafft das auch noch mit mir, ob ich hier nun lebendig oder tot herauskomme.

Wie gut, auf Gott kann ich mich verlassen, wenigstens um den muss ich mir keine Sorgen machen. Der sorgt für sich selbst und hat noch alle Hände frei, sich um mich zu kümmern. Sich in diese Gedanken einzuschwingen, sich das vor Augen zu halten, das hat diesem Mann damals gut getan. Das hat ihm Mut gemacht. Das hat ihm tatsächlich geholfen.

Und das ist bis heute so. Sich in diese Gedanken einzuschwingen, sich davon mitnehmen zu lassen, dieses „Gott ist groß“ in Gottesdiensten immer wieder neu zu feiern, daraus erwächst Kraft und darin steckt dann auch der von mir so sehr gesuchte Geist.

III.

Und jetzt will ich Ihnen das ein wenig in den Alltag übersetzen. Zum Beispiel mit Ihnen noch einmal auf den Friedhof gehen. Dorthin, wo wir so gerne erzählen, dass sich ein Mensch bemüht hat. „Sie hat sich bemüht. Ihr Leben lang hat sie sich angestrengt.“ Was für ein Armutszeugnis ist das im Vergleich zu dem anderen: „Es ist vollbracht.“ Das ist hier zu predigen. Nicht, sie hat sich bemüht. Sondern es ist vollbracht. „Jesus Christus hat dem Tod die Macht genommen und das Leben und ein unvergängliches Wesen ans Licht gebracht.“

Und das setzt nun Energien frei und das lässt ein menschliches Maß finden. Wenn zum Beispiel 22 Chirurgen, 14 Anästhesisten, 42 Krankenschwestern und 22 Assistenten sich um ein siamesisches Zwillingspaar kümmern, dann tun sie, was ihre Aufgabe ist. Sie dienen dem Leben. Wenn dann doch eines der beiden Kinder stirbt, dann wird daraus: Sie haben sich bemüht. Was die Eltern und die vielen Ärzte jetzt trösten kann ist: Es ist vollbracht. „Jesus Christus hat dem Tod die Macht genommen und das Leben und ein unvergängliches Wesen ans Licht gebracht.“ Besonnenheit angesichts des Todes: Sich für das Leben einsetzen und doch mit den Grenzen leben.

Das zweite Beispiel, bezieht sich auf einen Satz, der nur so ganz versteckt vorkommt. Ich habe ihn noch nicht einmal wiederholt. „Er hat uns berufen“ heißt es (es könnte auch heißen: Er hat uns geliebt) und dann, fast unscheinbar steht es da: „nicht nach unseren Werken“.

„Nicht nach unseren Werken…“ das erinnert mich an einen Unterrichtsentwurf zum Thema Franz von Assisi. Die Schüler sollten aus der Perspektive des Franziskus schreiben, warum er sich von seinem leiblichen Vater abgewandt und Gott zugewandt hat. Und da hatte nun jemand geschrieben, wie gesagt aus der Perspektive des Franziskus:

„Mein Leben lang habe ich versucht ein guter Sohn zu sein. Meine Eltern wollten auf mich stolz sein. Sie wollten, dass die Leute sagen: Schaut, das sind die Eltern von diesem Helden oder gar Star.“ Sie haben mich nie gefragt, was ich will, denn ich lege auf Berühmtheit keinerlei Wert. Ich wollte immer nur geliebt werden. Und jetzt bin ich froh. Gott ist alles für mich. Ich bekomme alles, was ich von meinen Eltern bekommen sollte, umsonst. Ihm ist etwas an meiner Person gelegen. Er liebt mich so wie ich bin. Er würde sich niemals für mich schämen. Mich auch noch wollen, wenn ich arm und krank bin. Ich frage mich, ob meine Eltern sich Sorgen um mich machen oder nur um ihren Ruf?“ Der Beitrag endet: „Alles hat seinen Sinn, deswegen danke ich Gott für mein Leben.“

Was der Schüler oder die Schülerin geschrieben hat, hat mich berührt. Da hat sich jemand seine Kindheit von der Seele geschrieben und hat in Gott seine Kraft gefunden. Es ist derselbe Vorgang wie damals im Gefängnis.

„Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.“ Ich glaube, ich darf nicht fragen, ob ich diesen Geist habe,
aber ich darf hoffen, dass er mich und andere immer wieder neu erfasst.

Und die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des heiligen Geistes sei mit euch allen.

Amen.

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