Berufen zur Heiligung – oder: Das Wohl des anderen Menschen im Blick haben, nicht den eigenen Vorteil
Predigttext: 1.Thessalonicher 4,1-8 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
1 Weiter, liebe Brüder, bitten und ermahnen wir euch in dem Herrn Jesus, da ihr von uns empfangen habt, wie ihr leben sollt, um Gott zu gefallen, was ihr ja auch tut -, daß ihr darin immer vollkommener werdet. 2 Denn ihr wißt, welche Gebote wir euch gegeben haben durch den Herrn Jesus. 3 Denn das ist der Wille Gottes, eure Heiligung, daß ihr meidet die Unzucht 4 und ein jeder von euch seine eigene Frau zu gewinnen suche in Heiligkeit und Ehrerbietung, 5 nicht in gieriger Lust wie die Heiden, die von Gott nichts wissen. 6 Niemand gehe zu weit und übervorteile seinen Bruder im Handel; denn der Herr ist ein Richter über das alles, wie wir euch schon früher gesagt und bezeugt haben. 7 Denn Gott hat uns nicht berufen zur Unreinheit, sondern zur Heiligung. 8 Wer das nun verachtet, der verachtet nicht Menschen, sondern Gott, der seinen heiligen Geist in euch gibt.Exegetische und homiletische Vorbemerkungen
Der erste von Paulus wahrscheinlich gegen 50/51 n.Chr. aus Korinth geschriebene Brief an die von ihm gegründete Gemeinde in Thessalonich, heute: Thessaloniki, damals Verwaltungssitz der römischen Provinz Mazedonien, will die Gemeinde bestärken, den eingeschlagenen Weg fortzusetzen. Denn durch seinen Mitarbeiter Timotheus hat Paulus sehr positive Nachrichten aus Thessalonich erhalten. Gleichwohl gibt es nach 3,10 einige „Lücken des Glaubens“, die Paulus insbesondere im zweiten Teil des Briefes schließen helfen möchte. Die beiden Fragen, die in den ersten Versen des vierten Kapitels angeschnitten werden, sprechen zwei elementare Bereiche des zwischenmenschlichen Lebens an: Den verantwortlichen Umgang mit den sexuellen und den geschäftlichen Beziehungen. Entsprechend den gesellschaftlichen Konventionen seiner Zeit wendet sich Paulus nur an die Männer. Er ermahnt sie, sich von Unzucht (porneia) fernzuhalten, womit er den gesellschaftlich sanktionierten außerehelichen Geschlechtsverkehr meint, der vielfach, wenn auch nicht ausschließlich mit Sklavinnen vollzogen wurde. Stattdessen empfiehlt er, dass jeder „seine eigene Frau zu gewinnen suche in Heiligkeit und Ehrerbietung“. Darüber hinaus warnt Paulus davor, andere Mitchristen beim Handel zu übervorteilen. Kriterium für den Verhaltenskodex ist für Paulus der Wille Gottes, der auf die Heiligung des Gläubigen abzielt, d.h. auf die immer stärkere Ausrichtung und Zugehörigkeit des Christen zu Gott. Nun dürfte freilich klar sein, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse zur Zeit des Paulus sich in vieler Hinsicht von der heutigen Situation unterscheiden, so dass auch seine konkreten „Ermahnungen“ nicht einfach eins zu eins übernommen werden können. Frauen waren eben nicht als gleichwertige Partnerinnen angesehen und auch das Ausbeutungssystem einer Sklavenhaltergesellschaft wurde nicht in Frage gestellt. „Eheliche“ Gemeinschaften zumal unter Angehörigen der Unterschichten, denen die meisten ehemals heidnischen Christen in Thessalonich angehört haben dürften, galten rechtlich als nicht geschlossen, obwohl sie faktisch anerkannt wurden. Ehen nach dem ius civile konnten nur geschlossen werden, wenn beide Ehepartner das römische Bürgerrecht besaßen oder wenn ein Bürger eine Freigelassene heiratete. So kann es nicht angehen, die Weisungen des Paulus umstandslos auf heutige Verhältnisse anzuwenden. Vielmehr ist hermeneutisch nach den Kriterien zu fragen, mit deren Hilfe ethische Maximen für heute gefunden werden können. Als solche Kriterien könnte ich mir in der Tat „Heiligkeit“ bzw. „Heiligung“ und „Ehrerbietung“ (modern gesprochen: Respekt) vorstellen, die von Paulus in unserem Text ins Spiel gebracht werden. Versteht man unter „Heiligung“ einen Prozess der Einstimmung in den Willen Gottes, eine Orientierung an der Liebe, die in Christus offenbar geworden ist, dann kann man heutige konkrete Handlungsempfehlungen daraufhin befragen, inwiefern sie diesem Maßstab genügen. Kirche hat heute im breiten Bewusstsein oftmals das Image, ihrer Zeit hinterherzuhinken. Gerade in sexualethischen Fragen wird ihr heute keinerlei Kompetenz mehr zugetraut. Längst haben andere (vor allem die Medien) die Meinungsführerschaft in diesen Fragen übernommen – teilweise mit erschreckenden Folgen. Ich möchte gerne in meiner Predigt zu 1.Thess 4,1-8 – abseits aller moralisierenden Auslegung dieses Textes – unser Verhalten in sexueller wie ökonomischer Hinsicht im Kontext heutiger Gesellschaftsstrukturen mit den paulinischen Kriterien konfrontieren. Ich wünschte mir, dass sich daraus Handlungsmaximen ergeben, die vielleicht im Detail nicht die des Paulus sein müssen, auch wenn sie mit Hilfe seiner Kriterien gewonnen sind, die aber uns und unsere Predigthörer zu verantwortlichem Handeln ermutigen.Lieder:
Morgenglanz der Ewigkeit (EG 450,1-5), Lobt Gott den Herrn, ihr Heiden all (EG 293,1), Wohl denen, die da wandeln (EG 295,1-4, Wochenlied), Jesu, stärke deine Kinder (EG 164) , So jemand spricht: Ich liebe Gott (EG 412,1-4).Es ist ein merkwürdiger Widerspruch: Viele Zeitgenossen erwarten von der Kirche, dass sie die Moral hochhält, und werfen ihr gleichzeitig vor, dass sie so rückständig sei. Viele beklagen den Werteverfall in unserer Gesellschaft und sind doch nicht bereit, ihr Leben an den von der Kirche vertretenen und verkündigten Werten auszurichten.
Nun kann man freilich ernsthaft fragen, ob es wirklich die Aufgabe der Kirche ist, den Leuten Moral zu predigen, besonders wenn unter „Moral“ der Bereich gemeint ist, der es mit der Reglementierung von Sexualität zu tun hat. Gewiss trägt die Kirche daran nicht wenig Schuld, dass sie über Jahrhunderte hin das Wort „Sünde“ vorwiegend mit Sexualität in Verbindung brachte. Das gilt, auch wenn wir heute wissen, dass die damit einhergehende Leib- und Frauenfeindlichkeit ihre Wurzeln in der griechischen Antike und gerade nicht in der
jüdisch-christlichen Tradition hat. Die Frage aus dem berühmten Lied von Zarah Leander „Kann denn Liebe Sünde sein“? stellt sich uns Christen deshalb vor dem Hintergrund der Kirchengeschichte noch einmal ganz neu.
Auf Moralpredigten können wir gerne verzichten. Nicht verzichten können wir aber auf Orientierung und Perspektiven für unser Leben.
Da geht es uns nicht anders als den Christen früher. Der christliche Glaube besteht eben gerade nicht darin, ein Bündel von Dogmen für wahr zu halten, sondern er ist eine Lebenseinstellung, die bis in unser alltägliches Handeln hinein wirkt. Deshalb fragen wir, welches Handeln in bestimmten Lebenssituationen dem Geist Jesu Christi entspricht.
Wir wissen uns darin grundsätzlich eins mit dem Apostel Paulus, der in seinen Briefen immer wieder auch Ratschläge zu Einzelfragen der praktischen Lebensführung gab, die in den von ihm gegründeten Gemeinden aufgebrochen waren. So auch in Thessalonich, damals Verwaltungssitz der römischen Provinz Mazedonien. Timotheus, ein enger Mitarbeiter des Paulus, hatte die Gemeinde noch einmal besucht und dem Paulus viel Positives berichten können. Daneben allerdings auch einiges, von dem Paulus meinte, es als „Lücken des Glaubens“ ansehen zu müssen, die es zu schließen gelte. Deshalb rühmt er den Glauben der Leute in Thessalonich zuerst, um dann in unserem Kapitel auf zwei Dinge zu sprechen zu kommen, die ihm offenbar am Herzen lagen: Nämlich der verantwortliche Umgang mit sexuellen und geschäftlichen Beziehungen.
Paulus war offenbar der Meinung, dass es für die Thessalonicher in diesen beiden Bereichen möglich sein musste, noch vollkommener
zu werden. Es gibt keinen Bereich menschlichen Lebens, so meinte schon Paulus, in dem die Orientierung am Willen Gottes nicht dazu führt, dass Menschen besser miteinander umgehen und dadurch alle Beteiligten glücklicher werden könnten. Das ist der entscheidende Ausgangspunkt. Gottes Wille zielt nicht darauf ab, uns den Spaß zu verderben, sondern darauf, unsere Lebensfreude zu steigern. Gott will, dass wir glücklich werden. Sowohl dort, wo es um die Liebe geht, wie auch dort, wo es um Geschäfte geht.
Schauen wir uns zuerst an, was Paulus zur Sexualität zu sagen hat. Er spricht uns Männer an und rät uns: Meidet die Unzucht. Was sollen wir stattdessen tun? Jeder soll seine eigene Frau zu gewinnen suchen in Heiligkeit und in Ehrerbietung. In eine etwas modernere Sprache übersetzt heißt das: Behandelt eure Frau respektvoll und zuvorkommend, sucht sie zu gewinnen, werbt um sie, nicht nur vor
der Hochzeit, sondern auch danach noch. Denn so behält jeder seine Würde. So gedeihen Beziehungen, die uns gut tun. Gerade auch sexuelle Beziehungen. So entspricht es dem Willen Gottes. Alles, was diesem Ziel widerspricht, ist Unzucht. Alles, was den anderen nicht als gleichberechtigten Partner ansieht, sondern ihn nur benutzt, zerstört Beziehungen. Und das gilt – über Paulus hinausgehend – durchaus wechselseitig, also nicht nur für die Männer, sondern auch für die Frauen. Beide sollen erfahren können, wie schön die Liebe ist, wie beglückend Sexualität sein kann, wenn beide Partner nicht egoistisch nur ihre Bedürfnisse befriedigen wollen, sondern auf das achten, was dem andern gut tut. Natürlich ist das weit von der angeblichen kirchlichen Sexualfeindlichkeit entfernt.
Nirgends in der Bibel steht, dass Sex nicht Spaß machen darf. Im Gegenteil: Er gehört zu der guten Schöpfung Gottes, die uns die Freude am Leben erhalten möchte. Aber der Spaß hört dort auf, wo Menschen zu etwas gezwungen werden, was sie eigentlich nicht tun möchten. Egal ob dies nun innerhalb oder außerhalb der Ehe, mit
oder ohne Trauschein geschieht.
Nicht in Ordnung geht es, dass jährlich bis zu einer halben Million Mädchen und junge Frauen aus Osteuropa unter falschen Versprechungen in Bordelle nach Westeuropa gelockt werden.
Nicht in Ordnung geht es, dass auf dem Straßenstrich in Tschechien
Tausende von männlichen und weiblichen Jugendlichen sich unter
unwürdigen Bedingungen an deutsche Kunden verkaufen. Der Spaß hört dort auf, wo Menschen ausgebeutet werden, wo sie wie Ware behandelt werden. Letztlich, so meint Paulus, werden dabei nicht nur Menschen verachtet, sondern Gott selber, der auf der Seite der Ausgebeuteten steht.
Ich habe mich gefragt, wie es kommt, dass Paulus sexuelle und geschäftliche Beziehungen in ihren negativen Auswüchsen so eng nebeneinander setzt. Vielleicht war es ihm durch den Bericht des Timotheus einfach nahegelegt. Vielleicht aber hat er auch gespürt, dass in beiden Fällen die Menschen dabei Schaden nehmen, weil
sie zu bloßen Objekten gemacht werden. Wenn Paulus dazu ermahnt, „seinen Bruder im Handel“ nicht zu übervorteilen, dann zeigt sich auch in diesem Verhalten, dass nicht das Wohl des anderen im Blick ist, sondern nur der eigene Vorteil. Und das entspricht nicht dem Geist Christi. Auch wenn es dabei in der Gemeinde in Thessaloniki kaum um Betrug in großem Stil gegangen sein wird. Bundeskanzler Schröder hat vor einigen Wochen von einer Mitnahme-Mentalität in Deutschland gesprochen, die bis in höhere Gesellschaftsschichten reiche. Ich denke in der Tat, dass es oft genug nicht mehr als Unrecht angesehen wird, sich auf Kosten anderer einen Vorteil zu verschaffen oder sich gar zu bereichern. Es machen doch alle. Das beginnt damit, dass man kleinere Nebeneinkünfte bei der Steuererklärung verschweigt und es endet damit, dass Steuergelder in Millionenhöhe hinterzogen werden.
Nicht in Ordnung geht es, dass Manager ganz legal Millionen an Abfindung erhalten, obwohl sie einen Konzern zugrundegerichtet haben.
Nicht in Ordnung geht es, dass beispielsweise Bundesligaspieler im Jahr 24 Millionen verdienen, während Rentnerinnen weniger zum Arzt gehen, weil sie die 10 € Praxisgebühr nicht aufbringen können.
Hierbei geht es nicht um Neid, sondern darum, dass die Relationen nicht mehr stimmen. Der Spaß hört dort auf, wo Menschen übervorteilt werden, wo Reiche auf Kosten von Ärmeren noch reicher werden. Letztlich ist es auch hier so, dass nicht nur Menschen verachtet werden, sondern Gott selber, der sich mit den Übervorteilten und Benachteiligten solidarisch erklärt.
Nun spricht Paulus allerdings nicht die Gesellschaft an. Weder die in
Thessalonich noch die unsere. Seine Adressaten sind die, die sich
als Glieder am Leibe Christi wissen, die sich bewusst an Jesus orientieren, die den Willen Gottes tun wollen. Uns möchte er ansprechen, weil er weiß, dass wir zu Gott gehören. Uns hat Gott berufen zur Heiligung, indem er uns seinen Heiligen Geist gab und immer wieder aufs Neue gibt. Gott heiligt uns, indem er uns stark macht. Wenn es möglich sein sollte, unsere Gesellschaft zu verändern, dann nur so, dass wir den Heiligen Geist bei uns beginnen lassen. Er gibt uns die Kraft, wenn es sein muss, auch gegen den Strom zu schwimmen. Er verhilft uns dazu, Freude am Leben zu haben, Glück zu erleben in der Partnerschaft und Erfolg im Beruf, ohne dass dies auf Kosten anderer geht. Dies erfahren wir nicht immer – aber immer öfter. Gott sei Dank.