Christliche Ethik auf den Punkt gebracht

Predigttext: Römer 14,7-9
Kirche / Ort: Providenz-Kirche / Heidelberg
Datum: 7.11.2004
Kirchenjahr: Drittletzter Sonntag im Kirchenjahr
Autor/in: Petra Neumann-Janssen, Erwachsenenbildnerin

Predigttext: Römer 14,7-9 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)

7 Denn unser keiner lebt sich selber, und keiner stirbt sich selber. 8 Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum: wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn. 9 Denn dazu ist Christus gestorben und wieder lebendig geworden, daß er über Tote und Lebende Herr sei.

Hinweise zum Predigttext und zur Predigt

Die (zu) kurze Perikope Römer 14,7-9 gehört in den Zusammenhang 14,1-15,13, der „Von den Schwachen und Starken im Glauben“ (so die Überschrift in der rev. Lutherbibel) handelt. Christliche Ethik ist das Thema, Umgang der Gemeindeglieder miteinander, praxis pietatis. Maßstab des Umgangs der Starken (im Glauben) mit den Schwachen (im Glauben) ist die Liebe (14,15), weil Gott alle – die Starken und die Schwachen – angenommen hat (14,3; vgl. 15,7), und für alle die Verantwortung, in der jede/r vor Gott steht (14,10). Der Apostel Paulus greift in einen in der damaligen Gemeindesituation konkret aufflammenden Streitfall ein, als sich am „Essen“ (pro und contra Fleischgenuss) die Geister schieden. Der Apostel betont, dass dadurch Gottes Werk nicht zerstört werden und die Gemeinde nicht auseinanderfallen darf; vielmehr sollen sich die  Gemeindeglieder um Frieden und um den Aufbau der Gemeinde (M. Luther übersetzt oikodomae mit „Erbauung“) bemühen(14,19f.). In 14,7-9 betont Paulus die Beziehung der einzelnen Gemeindeglieder zum Kyrios. Sie leben und sterben nicht sich selber, sondern ihm, Christus, dem sie angehören (tou kyriou esmen, V.8), der für sie gestorben und lebendig geworden/auferstanden (ezaesen, V.9) ist. Gegenseitiges „Richten“ (krinein, 14,10.13) hat unter diesem Horizont der Christusbeziehung keinen Platz mehr, jede/r wird für sein eigenes Leben und Handeln Gott Rechenschaft zu geben, sich vor ihm zu verantworten haben (logon dosei, 14,12). Vielmehr gilt, sich darauf auszu“richten“ (krinein), „dass niemand seinem Bruder (und seiner Schwester) einen Anstoß oder Ärgernis bereitet. Für die Predigt ist der Kontext dieser wenigen Verse hilfreich, wie aus den obigen Hinweisen deutlich hervorgeht, weil er die drei dogmatisch verdichteten Verse mit dem konkreten Leben und seinen Beziehungsebenen in den alltäglichen Situationen verbindet.

Lieder:

Gott liebt diese Welt (EG 409, Eingangslied), Allein Gott in der Höh sei Ehr (EG 179, Loblied), Wir warten dein, o Gottessohn (EG 152, Wochenlied), Gott gab uns Atem (EG 432, Predigtlied), Selig seid ihr (EG 667, Schlusslied)

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Liebe Gemeinde!

Drei Bibelverse, die unser Christsein auf den Punkt bringen. Drei Verse aus dem Römerbrief des Apostels Paulus voller
Lebensweisheit. Sogar aus dem Zusammenhang herausgenommen, sind sie von einer bedeutenden Aussage.

I.

„Keiner von uns lebt sich selber, und keiner stirbt sich selber.“ Wie sieht es denn mit unseren eigenen Entscheidungen aus? Bin ich nicht Herr/Frau über mich selbst? Gebe ich als Christ/in Selbstbestimmung auf? Lasse ich mich fremdbestimmen, und brauche ich, um christgemäß leben zu können, als Orientierung ein Kompendium der Sozialethik, wie es z.B. vom Vatikan in diesen Tagen für unsere katholischen Mitchristen herausgegeben wurde?

„Keiner von uns lebt sich selber, und keiner stirbt sich selber“ – ist dies ein Satz, der meinen eigenen persönlichen Wert nur in größeren Zusammenhängen duldet, mich kleiner macht, als ich mich sehen möchte, mein Leben abwertet und mich nur in der allgemeinen Christenheit aufgehen oder verschwinden lässt? Geht es um eine Aufforderung, sich aufopferungsvoll wie eine Mutter Theresa oder ein Albert Schweitzer den hilfsbedürftigen Menschen zuzuwenden, die eigenen Bedürfnisse den Menschen, die bitter leiden, unterzuordnen, sich mit Liebe für ihr Wohl hinzugegeben?

Keinesfalls ist hier eine Abwertung gemeint. Es kann meine Aufgabe, ja meine Berufung, sein, mich anderen Menschen zuzuwenden, ganz persönlich in meiner Familie mit der Pflege eines Angehörigen, aber auch im Beruf, etwa als Lehrerin oder Ärztin. Es kann sein, dass ich zugunsten eines Ganzen, einer Gemeinschaft, meine eigenen Wünsche zurückstecken muss. Mein Individualismus hat dort Grenzen, wo ein anderer Mensch meine Hilfe braucht. Auch dort, wo meine christliche Ethik in der Öffentlichkeit gefragt ist: In kirchlichen oder gesellschaftlich und politischen Gremien, in denen ich mitarbeite, sei im Stadtrat oder einer Vereinigung wie der Handwerkskammer, im Vorstand einer Firma oder im Gespräch zwischen Friseuse und Kundin.

II.

„Denn unser keiner lebt sich selber, und keiner stirbt sich selber…“
Hier ist christliche Sozialethik auf den Punkt gebracht. Wenn ich mich selbst verliere, nicht nach meiner Begabung lebe, und meinen eigenen einmaligen Wert, den ich vor Gott habe und auch von Gott zugesprochen bekomme, gering schätze und mit Füßen trete, ist es wichtig zu bedenken: Ich lebe in Beziehungen. Alles was ich tue, hat Auswirkungen. Alles was ich tue, geschieht in einer Wechselbeziehung von Mensch zu Mensch und von Mensch zu Gott. Alles was ich tue, muss ich vor Gott verantworten.

Ich lebe in Beziehungen. Selten habe ich sie mir ausgesucht oder so gewünscht, wie sie sind. Ungefragt werde ich in eine Familie hineingeboren, bekomme meine Gene „verpasst“, die mein Aussehen, meine Intelligenz, meine Startbedingungen am Lebensbeginn bestimmen. Habe ich im günstigen Fall liebevolle Eltern, genug Verstand für vernünftige Schulabschlüsse und ein passables, dem gesellschaftlichen Geschmack entsprechendes Aussehen, so öffnen sich mir in Beziehungen alle Türen. Im ungünstigen Fall, wenn ich behindert bin, missbraucht werde oder von der Sozialhilfe leben muss, sind Beziehungsstörungen sicher. Klischees? Ob wir wollen oder nicht – hängen von solchen Umständen nicht unsere Prägung und unsere Beziehungsfähigkeit mit ab? Gleichgültig wie meine Startbedingungen oder auch später mein ganzes Schicksal sind, ich werde ja auch in eine Gesellschaft hineingeboren und in eine Zeit mit ihren jeweiligen guten und schlechten Lebensbedingungen.

Es ist so, alles was von mir ausgeht, hat Auswirkungen – von Mensch zu Mensch und von Menschen zu Gott. Der glückliche und der unglückliche Mensch, der tätig werdende und der erduldende Mensch, der tröstende und der leidende Mensch, der gute und der böse Mensch, keiner lebt sich selber, und keiner stirbt sich selber. Was Paulus damit ausspricht, ist eine große und harte und zugleich eine klare Herausforderung an unser Handeln.

III.

Es gibt noch eine andere Perspektive. So etwas wie eine Gleichheit in der Ungleichheit. Sie gibt mir deutlich zu verstehen: Es ist unangebracht, wenn wir gegenseitig übereinander richten. Was Recht und Unrecht ist, was wir tun dürfen, wird uns in der Bibel z.B. durch die Zehn Gebote und die Bergpredigt klar gesagt. Das meint der Apostel Paulus hier nicht. Was er abweist, ist jede Arroganz, sie führt zur Ignoranz, jede Besserwisserei und Überheblichkeit, sie führen zur Intoleranz, jeder Balken im eigenen Auge, er führt uns zur Dummheit. All diese jede gute Beziehung störenden Eigenschaften sind bei arm und reich anzutreffen, bei Schönen und Hässlichen, bei Chefs und Angestellten.

“Denn unser keiner lebt sich selber, und keiner stirbt sich selber. Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum: wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn. Denn dazu ist Christus gestorben und wieder lebendig geworden, daß er über Tote und Lebende Herr sei.“

Paulus hebt in diesen drei Versen die Beziehung zu Gott hervor. Wir leben dem Kyrios/dem Herrn, wir sterben dem Herrn, wir sind des Herrn, und Christus ist dafür gestorben und wieder lebendig geworden, dass er über Tote und Lebende Herr ist. Keine Sekunde unseres Lebens und unseres Todes ist aus dieser Gottesbeziehung herausgenommen. Ein zunächst erschreckender Gedanke, wenn nicht gelten würde: Gott hat eine Beziehung zu uns Menschen, sie trägt mich in meinen Beziehungen von Mensch zu Mensch, sie entlastet mich, wenn ich in einer Beziehung zu einem anderen Menschen überfordert bin, und sie ermutigt mich, die Beziehung zu Gott täglich neu zu suchen. Sie hilft mir, mein Leben und die Beziehungen zu gestalten,  Anstoß oder Ärgernis gegenüber meinen Mitmenschen zu vermeiden (V.13) und dem nachzustreben, was „zum Frieden dient und zur Erbauung untereinander“ (V.19),  zum Aufbau einer christlichen Gemeinde, in der jede/r einen Platz hat.

Wenn ich weiß, dass es eine Verbindung zwischen Gott und mir gibt, und wenn ich anerkenne, dass es eine Verbindung zwischen Gott und meinem Mitmenschen gibt, verstehe ich die Weisheit, die der Apostel Paulus in dem Satz ausgedrückt hat: Keiner von uns lebt sich selber, und keiner stirbt sich selber.

Amen.

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