Es ströme das Recht wie Wasser…
Vorbemerkung
Hilfreiche, mich inspirierende Anregungen zum Predigttext und zur Gottesdienstgestaltung fand ich im Materialheft zum "Bittgottesdienst für den Frieden in der Welt 2004": http://www.ekd.de, auch Bildmotive.Lieder:
Gott gab uns Atem (EG 432), Allein Gott in der Höh sei Ehr (EG 179.1), Strahlen brechen viele (EG 262), Lass uns den Weg der Gerechtigkeit gehen (Materialheft), Verleih uns Frieden gnädiglich (EG 421).Liebe Gemeinde!
Warum tun sich Menschen so viel Böses an? Wen bewegt nicht diese Frage, besonders an einem solchen Tag wie heute am Buß- und Bettag und in einem Bittgottesdienst für den so bedrohten Frieden in der Welt.
I.
Mit eben dieser Frage ging ich am vergangenen Dienstag in die Religionsstunden in der Friedrich-Ebert-Grundschule. Ich stellte die Frage aber nicht an den Anfang, sondern bat zunächst die Kinder, aufzustehen. Schaut euch jetzt gegenseitig in die Augen. Seid dabei ganz still. Nach geraumer Zeit bat ich die Kinder, sich wieder hinzusetzen. Ich fragte sie: Könnt ihr euch vorstellen, dem Kind, dem ihr gerade in die Augen geschaut habt, irgendetwas Böses anzutun? Die Antwort kam spontan: Nein, niemals. Jetzt erst setzte ich mit der Frage nach: Warum tun sich Menschen so viel Böses an? Es wurde ganz still. Dann sprudelte es mit Antworten (ich fasse die Antworten der zweiten und dritten Klasse zusammen):
weil sie neidisch und eifersüchtig sind,
weil sie gierig sind und unbedingt haben wollen, was der andere hat, und es ihm wegnehmen, wenn er es ihnen nicht freiwillig gibt,
weil einer über den anderen die Macht haben will,
weil sie sich gegenseitig ausschließen/ausgrenzen
weil sie aus unterschiedlichen Völkern und Religionen kommen und sich nicht bemühen, einander zu verstehen und Missverständnisse nicht (auf)klären.
Ich schrieb die Antworten an die Tafel. Die Kinder sollten sie ins Religionsheft übertragen. Mich hatten die Gedanken der Kinder sehr berührt. Ich erzählte davon im Kollegium. Eine Kollegin meinte, dass es noch eine Antwort auf die Frage, warum sich Menschen so viel Böses antun gäbe: Weil sie sich nicht in die Augen schauen. Irgendwann müssten sie nämlich lachen, ihr Streit würde sich relativieren, und sie könnten ihre Konflikte bearbeiten.
Schauen wir uns also in die Augen, und seien wir kritisch, wenn sich Menschen in der Begegnung und im Gespräch abwenden und wegschauen.
II.
Die Betroffenheit davon, dass sich Menschen so viel Böses antun, kann man den Worten des Propheten Amos abspüren, die heute unser Predigttext sind. (Schauen Sie sich den Predigttext jetzt an, lesen Sie, jede/jeder still für sich.)
(Stille)
Sind Sie nicht erschrocken über diese Worte? Amos trat im 8.Jahrhundert v. Chr. als Prophet in Israel auf. Im damaligen Nordreich mit der Hauptstadt Samaria herrschten Menschenfeindlichkeit, Unrecht und Ungerechtigkeit. Das Recht wurde mit Füßen getreten. Lesen Sie einmal zu Hause die atemberaubenden neun Kapitel des Amosbuches! Überraschend ist: Nirgendwo im Amosbuch stoßen wir auf das Wort Frieden. Warum? Weil der Prophet besonders in der Hauptstadt Samaria den Frieden nicht vorfand. Um so entschiedener pochte er auf Recht und Gerechtigkeit, weil nur diese die Voraussetzung für den Frieden sind.
„Es ströme aber das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach“, hören wir am Ende des kurzen Abschnittes des Predigttextes. Es ist dem Zusammenhang nach mehr eine konsequente radikale Forderung als ein sanfter Wunsch. Dies wird deutlich an der vorausgehenden Worten:
“Ich bin euren Feiertagen gram und verachte sie und mag eure Versammlungen nicht riechen. Und wenn ihr mir auch Brandopfer und Speisopfer opfert, so habe ich kein Gefallen daran und mag auch eure fetten Dankopfer nicht ansehen. Tu weg von mir das Geplärr deiner Lieder; denn ich mag dein Harfenspiel nicht hören!“
Worte, die unter die Haut gehen. Noch mehr, weil sie als Gottes Worte gemeint sind. Kann Gott so voller Überdruss und Verachtung sprechen? Im hebräischen Urtext ist sogar vom Hassen die Rede: „Ich hasse, ich verachte eure Feste…“ Ob wir diese Worte heute nicht etwas relativieren müssten? Etwa durch die Erklärung, sie seien ja zu den Bewohnern Israels vor langer, langer Zeit gesagt und hätten mit uns heute nichts zu tun? Oder durch den Hinweis auf das vermeintlich unterschiedliche Gottesbild im Alten und im Neuen Testament, den „Gott des Zorns“ der israelitisch-jüdischen Gemeinde und den Gott der Liebe“ der christlichen Gemeinde? Nein, dies wäre zu einfach, so können wir uns jene Worte nicht vom Leibe halten. Dadurch würden wir jenem Gott, dem Recht und Gerechtigkeit so wichtig sind, nicht gerecht.
III.
Die Gottesworte aus dem Amosbuch haben an Aktualität nicht verloren. Sie legen den Finger in die Wunden der Welt. Denn wer könnte sagen, dass Recht und Gerechtigkeit unser Zusammenleben zutiefst prägen und wir einander immer gerecht werden? Klaffen nicht Glauben und Leben, Gebete und die Befolgung der Gebote, oft auseinander? Auf Gottes Nähe hoffen bedeutet zB Nähe zum anderen Menschen herstellen. Wir bleiben mit unserer Sehnsucht nach Liebe bei uns selbst, wenn wir dem anderen Menschen nicht genug Aufmerksamkeit schenken. Gott um etwas für sich selbst bitten ist Egoismus pur, wenn wir die Menschen vergessen, die sich in einer leidvollen Situation so fühlen, als ob ihnen die Kehle zugeschnürt sei.
“Ich bin euren Feiertagen gram und verachte sie und mag eure Versammlungen nicht riechen…“ Ich höre diese harten Worte auch als Ausdruck des Leidens Gottes an uns Menschen, seinen Geschöpfen. Denn Gott will unser Heil, den Schalom, dass wir einander und der ganzen Schöpfung gerecht werden, die Harmonie finden.
Wenn uns die harten Worte des Amosbuches betroffen machen und uns erschüttern, kann dies für uns nur heilsam sein. Sie konfrontieren uns mit der Frage nach dem Sinn unseres Tuns, auch und gerade dem Sinn unserer Gottesdienste. Wir brauchen Orientierung, die unser Tun und Lassen korrigiert, die Quelle, aus der das Recht strömt wie Wasser, die Gerechtigkeit wie ein großer Strom, den Frieden, der sich aus beiden ergibt, wie eine weite Ebene, in der alle Platz zu Leben haben.
Der Prophet Amos hat Recht und Gerechtigkeit unmissverständlich mit Gott verbunden. Wo Recht und Gerechtigkeit verachtet werden, wird Gott selbst verachtet. In dem Maße, wie wir uns um Recht und Gerechtigkeit bemühen, geben wir Antwort auf die Gottesfrage, werden wir einander gerecht und werden Gott gerecht. Recht und Gerechtigkeit verstand Amos im umfassenden, nationale und religiöse Grenzen übersteigenden Sinn als ein Rechtsverhalten, das für alle Völker elementar gilt und universale Verbindlichkeit sucht.
Ich frage mit vielen: Sind nicht Recht und Gerechtigkeit die einzige Alternative zur Gewalt? Und haben wir Christen in Vergangenheit und Gegenwart uns nicht zu wenig und entschieden genug für das Recht und die Gerechtigkeit eingesetzt?
Es ist gut zu wissen: Bei dem Propheten Amos wie in der ganzen Bibel hören wir von einem Gott, „der dich lehrt, was dir hilft“ (Jesaja 48,17). In Jesus von Nazareth ging er mit uns auf Augenhöhe, dass auch wir einander in die Augen sehen und achtsam miteinander umgehen können. Im Namen Jesu, der diesem Gott des Rechts und der Gerechtigkeit über alles vertraut hat, bitten wir mit dem nächsten Lied: „Lass uns den Weg der Gerechtigkeit gehen, dein Reich komme, Herr, dein Reich kommen…“
Amen.