Totensonntag – Einladung, sich dem Prozess des Trauerns zu stellen

Predigttext: Offenbarung 21,1-7
Kirche / Ort: Wehr
Datum: 21.11.2004
Kirchenjahr: Totensonntag
Autor/in: Pfarrer Mathias Bless

Predigttext: Offenbarung 21, 1-7 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)

1 Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, und das Meer ist nicht mehr. 2 Und ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabkommen, bereitet wie eine geschmückte Braut für ihren Mann. 3 Und ich hörte eine große Stimme von dem Thron her, die sprach: Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein, und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein; 4 und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen. 5 Und der auf dem Thron saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu! Und er spricht: Schreibe, denn diese Worte sind wahrhaftig und gewiß! 6 Und er sprach zu mir: Es ist geschehen. Ich bin das A und das O, der Anfang und das Ende. Ich will dem Durstigen geben von der Quelle des lebendigen Wassers umsonst. 7 Wer überwindet, der wird es alles ererben, und ich werde sein Gott sein, und er wird mein Sohn sein.

Vorüberlegungen

1.1. Ewigkeitssonntag? Totensonntag? Die Arbeitshilfe meint dazu: „A Vorbemerkungen: Dieser Sonntag hat immer noch den Namen “Totensonntag”. Alle Versuche ihn umzubenennen oder mit einem anderen Inhalt zu füllen, dürfen als fehlgeschlagen bezeichnet werden, da er im Bewusstsein sowohl der Gemeinde wie der säkularen Bevölkerung der “Totensonntag” ist. Und in Kirchengemeinden ist es üblich, die Angehörigen Verstorbener einzuladen zum Gottesdienst und die Namen der Verstorbenen zu verlesen. Seit der Reformation war in der protestantischen Kirche ein eigener Gedenktag an die Verstorbenen abgeschafft, weil Luther Fürbitte und Messopfer für Verstorbene ablehnte. Erst im 19. Jahrhundert tauchte ein Tag der Verstorbenen wieder auf. In Sachsen-Altenburg war er seit 1814 üblich und 1816 führte König Friedrich Wilhelm III. in Preußen einen “Feiertag zum Gedächtnis der Entschlafenen” ein. Dieser Tag war ursprünglich zur Erinnerung an die Befreiungskriege gedacht. Er wurde jedoch von den meisten Landeskirchen übernommen und verselbständigte sich als “Totensonntag”, an dem der Verstorbenen des letzten Kirchenjahres gedacht wird. Das Evangelische Gottesdienstbuch schlägt vor, in einem Früh-, Predigt- oder Vespergottesdienst (am Vortag) der Verstorbenen zu gedenken. Obwohl dieser Vorschlag keinen Nachhall findet, wollen wir uns in dieser Arbeitshilfe auf den Ewigkeitssonntag konzentrieren. Dann ist dieser Sonntag die Brücke, die Ewigkeit und Verheißung (Advent) verbindet.“ Aus: Arbeitshilfe zum EVANGELISCHEN GOTTESDIENSTBUCH Gestaltungshilfen zu jedem Sonn- und Festtag des Kirchenjahres 5. Lieferung 5. Jahrgang für die Gottesdienste vom 15. Sonntag nach Trinitatis (19. September 2004) bis zum Ewigkeitssonntag (21. November 2004) Hg von der Liturgische Konferenz Niedersachsens 1.2. In der folgenden Predigt wird der Akzent sehr deutlich auf den Totensonntag gesetzt. Nicht nur, weil dies den Erwartungen entspricht, sondern auch weil uns in der evangelischen Kirche in der Tat ein Stück Trauerkultur verloren gegangen ist. Das ritualisierte Abschiednehmen, das Erleben der verschiedenen Trauerphasen hat die katholische Kirche aufgenommen mit der Tradition der Gedächtnismessen, die früher in definierten Abständen gefeiert wurden. Die Schocksituation verlangt anderes Reden und „Performanz“ als das Sortieren der Erinnerungen – kurz: der Totensonntag lädt Menschen ein, sich dem Prozeß des Trauerns zu stellen und die Trauer nicht einfach privat zu erleiden oder sozial zu entsorgen. 1.3. Nun gibt es aber eine Schwierigkeit: unter der Kanzel sitzen Menschen, deren Verlusterfahrung unterschiedlich lange her ist; einige haben einen ihnen wichtigen Menschen vor einem Jahr fast verloren, andere leben vielleicht gerade in den Tagen zwischen Tod und Beerdigung. Diese sehr unterschiedliche Erfahrungswelt versuche ich aufzunehmen mit der zunächst verblüffenden Anrede. 1.4. Zu den exegetischen Überlegungen verweise ich auf die Kommentare und die Überlegungen von Oliver Dantine in den Predigtmeditationen im christlich- jüdischen Kontext. Hg: Wolfgang Kruse 2004 Seite 349ff. 1.5. Totensonntag, kasueller Gottesdienst – und dann Kunst? Es ist ein Versuch und ich meine, ein gelungener. Die „Lösung“ von Geiger wird den Gottesdienstbesuchern als (Farb-) Kopie am Ausgang mitgegeben – eine Erinnerung an die Hoffnung.

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Liebe Angehörige, liebe Gemeinde aus Trauernden und Nichttrauernden oder Nichtmehrtrauernden,

ein junger Student bekommt von seinem Professor an der Kunstakademie die Aufgabe: lerne das Leben kennen. Mache etwas; etwas, das eine Spur zieht. Das die Menschen wachrüttelt. Und so startet der Student Jürgen Kramer eine Briefaktion. An Maler und Bildhauer schickt er einen Brief mit einer einfachen Frage: Lieber Herr Professor! Werde ich sterben? Und die Antworten sammelt er, stellt sie aus. Sie gehen von den guten Wünschen: „ Lieber Herr Kramer, bitte, nicht sterben! Auch in Gelsenkirchen ist der Himmel nicht immer so grau, dass er nicht doch einmal ein Loch ins Blaue ließe. Ansonsten – was heißt sterben? Hinübergehen?!“ (Walter Warnach)

I.

Ist es das, was der Tod ist? Ein Hinübergehen? Ist es das, was die Traurigkeit wegbläst: dass auch im grauen Himmel Löcher sind für das Blau? Oder ist nicht das andere wahr: daß ich weiß, hinter den Wolken und dem Nebel scheint die Sonne – aber sie scheint nicht für mich!

Die kürzeste Antwort stammt von Rupprecht Geiger. Lieber Herr Professor! Werde ich sterben? Geigers kurze Antwort, knapp und nur ein Wort. 2 Buchstaben: „ja“ Noch sein Stempel, sonst nichts auf einem großen, weißen Blatt.

Und mir fällt ein Psalm ein. Des Menschen Leben dauert 70 Jahre und wenn’s hoch kommt sind es 80. Viel Arbeit, Mühen und Sorgen sind darin eingepackt in die Lebensspanne, auch Freude immer wieder. Aber am Ende heißt es sterben. Für jeden. Das ist eine bittere Wahrheit. Aber das ist die Wahrheit. Das ist die eine Wahrheit. Und ihr, die Konfirmanden, habt vielleicht noch im Ohr, was der Bestatter euch gestern gesagt hat, beim Konfisamstag: Liebt das Leben. Lebt euer Leben. Es ist kostbar. Es ist wertvoll. Und es ist wert, dass wir uns jeden Tag daran freuen. Geht sorgsam mit eurem Leben um. Denn mit dem Tod wird es vorbei sein.

II.

Vorbei also alles Lachen. Vorbei die Schmerzen. Vorbei die Hoffnungen, die ihr Eltern hattet für euer Kind. Vorbei die Hoffnungslosigkeit. Vorbei das lange Warten am Krankenbett. Vorbei…, vorbei, – und dann? Die Trauer.
Es hat einen tiefen Grund, wenn wir Sie nochmals eingeladen haben. Wenn wir Sie eingeladen haben zu diesem Gottesdienst. Es hat einen tiefen Grund, wenn wir die Namen verlesen haben. Jeder Name steht für einen Menschen. Jeder Name stand für einen Menschen. Stand für ein Leben. Stand für Tränen. Es hat einen tiefen Grund, wenn wir nach Wochen und Monaten nochmals zusammen sind. Denn die Trauer ist ein Weg. Ein Weg vom Schock und der Verzweiflung, ein Weg von der Wut, dass da ein Mensch fehlt und nicht mehr da ist, der mir doch so wichtig war. Und ich klage an: den lieben Gott, die Ärzte, … Die Trauer ist ein Weg. Geb’s Gott, dass Sie erleben dürfen, wie die Dankbarkeit am Ende groß wird. Danke für die gemeinsame Zeit. Auch wenn ich uns mehr an Zeit gewünscht hätte. Danke, für alles Gute, alle Liebe, alle Freundschaft und alle Freundlichkeit, die wir miteinander teilen duften. Danke, dass es dich gab, so wie du warst, für mich. Danke, Gott.
Da verliert der Verlust die Schärfe, die Bitterkeit, das Verletzende. Da verlieren die Tränen den Sog, der mich immer weiter, immer tiefer ziehen will. Da legt sich der milde Schein der Verbundenheit über meinen Weg. Und – wer weiß – vielleicht werde ich sogar fähig zu sagen und zu beten: Der Herr ist mein Hirte. Und dunkle Täler, böse Erlebnisse, große Trauer schrecken mich nicht zu Tode. Ich weiß ja – du bist bei mir, Gott. Und du schützt mich.

III.

Am Ende heißt es sterben. Für jeden. Das ist eine bittere Wahrheit. Aber das ist die Wahrheit.

Das ist die eine Wahrheit. Ich stehe aber noch für eine andere Wahrheit. Ich stehe für eine Hoffnung. Hier auf der Kanzel. Und dort, auf dem Friedhof. Eine Hoffnung, die weiter reicht als die Aussagen aller Professoren. Eine Hoffnung, die man nur schauen kann in den Träumen und mit dem Herzen:

(Offenbarung 21,1) Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde. (21,3) Und ich hörte eine große Stimme von dem Thron her, die sprach: Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein; (21,4) und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen. (21,5) Siehe, ich mache alles neu!

Ein neuer Himmel, eine neue Erde. Das heißt für mich soviel wie: bei Gott bleibt nicht alles beim Alten. Für Gott ist eine Wahrheit, die Menschen beschädigt, immer nur vorläufig. Für Gott ist eine Wahrheit, die’s in einem Menschenleben unerträglich kalt werden lässt, Grund genug, die Welt zu verändern. Für Sie soll es nicht bei Tränen und Trauer für alle Zeit bleiben. Für Sie gibt es eine Hoffnung. Und für jeden, jedes Kind, jeden Mann, jede Frau, jeden Jungen, jeden Alten  eine Zukunft. Einen neuen Himmel, eine neue Erde!
Zur alten Welt gehört, daß der Tod ein Ende ist; zur neuen Welt gehört, daß dann ein neues Leben beginnt. Und ich stelle mir vor – wer verstorben ist, der ist da schon ganz dicht dran. Neues Leben; wir Christen sagen dazu meist: ewiges Leben. Und was uns bedrückt und belastet, das tritt zurück in Gottes Welt. Und es ist eine neue Zeit, eine Zeit ohne Abschied. Ohne Tränen. Ohne Tod. Ohne Not. Ohne Schmerz. Ohne Grund zum Klagen. Denn Gott selbst wird bei uns sein.
Das gilt den Toten; wenn wir jetzt nicht mehr bei ihnen sein können: Gott ist da. Der, aus dessen Hand doch alles Leben kam, aus dessen Händen das Leben überhaupt kam, wird sie jetzt nicht alleine lassen. Der  mitgegangen ist, der wird sie jetzt in seine Hände nehmen. Wo unsre Hände loslassen und hergeben, da fängt Gott erst an. Deshalb ist es so wichtig, daß wir’s hören. Und darauf vertrauen, daß es wahr wird und wahr ist: Gott wohnt bei den Menschen. Seine Hütte mitten unter uns!

Das gilt ihnen: wenn Ihr Mann, Ihre Frau, Ihre Mutter, Ihr Vater, Ihr Freund, Ihre Freundin  nicht mehr bei ihnen sein kann: Gott ist bei ihnen. Gottes Hütte bei den Menschen – das gilt schon jetzt. In Spuren. Im Vorgriff. Aber es gilt. Gott schafft eine intensive, lebendige Verbindung. Eine Brücke zueinander. Gott als Brücke, die uns weiterhilft, die uns aufhilft, die Sie leben läßt. Gott als ein Rückhalt, der Ihnen Mut gibt, auf Ihrem Weg zu gehen. Gott als ein Mantel, die Sie wärmt.
Ein Einschnitt wird von ihnen heute erlebt. Aber über das Grab  hinweg reicht die Liebe Gottes. Unser Weg ist noch beschwerlich in dieser Welt, aber wir trauen der Verheißung und der neuen Welt. Wir hoffen und warten darauf: Gott wird abwischen alle Tränen. In dem Lied: ‚Von guten Mächten wunderbar geborgen’ schreibt Dietrich Bonhoeffer: „Noch will das alte unsre Herzen quälen, noch drückt uns böser Tage schwere Last, ach Herr, gib unsren aufgescheuchten Seelen das Heil für das du uns bereitet hast.“

IV.

Ein Brief mit einer einfachen Frage: „Lieber Herr Professor! Werde ich sterben?“ „Ja“

Rupprecht Geiger ist alt geworden – er hat nochmals einen Kommentar gegeben. In der Landshuter Heiliggeistkirche hat er im Jahr 2000 zwei Fahnen aufgehängt. Dort, wo er geboren ist, in Landshut, dort hängt im Osten der Kirche sein Schlusskommentar zu Kramers Frage:

Morgen rot – Abend rot. Im Osten der Kirche. Dort, wo die Sonne aufgeht. Dort, wo man Jesus erwartet, wenn er wiederkommt. Dort, wo die Auferstehung jeden Tag aufs neue uns winkt. Dort leuchtet das Rot. Das Gelb. Abend  rot     Morgen rot. Neuer Himmel. Neue Erde.

Amen

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