Komm, Erlöser der Völker

Predigttext: Lied „Nun komm, der Heiden Heiland“, EG 4
Kirche / Ort: Providenz-Kirche / Heidelberg
Datum: 5.12.2004
Kirchenjahr: 2. Sonntag im Advent
Autor/in: Pfarrer Heinz Janssen
Nun komm, der Heiden Heiland, der Jungfrauen Kind erkannt, dass sich wunder alle Welt, Gott solch Geburt ihm bestellt. (EG 4,1)

Vorbemerkung

Thema des zweiten Adventssonntags ist der kommende Erlöser und das Warten auf seine Ankunft in die „Irrungen und Wirrungen“ menschlichen Lebens. „Wer aber beharret bis ans Ende, der wird selig werden“, heißt es im Sonntagsevangelium, das zugleich Predigttext ist (Matthäus 24,1-14). Das Adventslied „Nun komm, der Heiden (= der Völker) Heiland…“ will die Gemeinde in die Bitte um das Kommen des erlösenden (= befreienden) Gottes hineinnehmen. Die Liedpredigt möchte zur Meditation dieses alten Adventsliedes einladen. Die Einstimmung erfolgt durch einen Orgelchoral. Die Gemeinde wird gebeten, das Lied aufzuschlagen, um so Melodie und Text vor sich zu haben. Diese Liedpredigt konzentriert sich auf die erste Liedstrophe, die Nicolaus Bruhns in seiner anspruchsvollen Choralphantasie aufnimmt und im Verlaufe der Predigt erklingt – eine schöne Möglichkeit des Zusammenwirkens und „Kanzeldialogs“ zwischen PfarrerIn und KirchenmusikerIn im Dienst der Verkündigung. Die Choralphantasie kann auch durch (einfachere) Orgelchoräle zu dem Adventslied ersetzt werden. Die Liedpredigt mündet in den Gemeindegesang aller fünf Strophen des Adventsliedes. Lieder im Gottesdienst: Wie soll ich dich empfangen (EG 11,1-4), Wir sagen euch an den lieben Advent (EG 17,1+2) bzw. Ihr lieben Christen, freut euch nun (EG 6,1), Es kommt ein Schiff geladen (EG 8), Nichts hast du unterlassen (EG 11,5)

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Liebe Gemeinde!

“Der kommende Erlöser” ist das Thema dieses zweiten Adventssonntages.

Wir hörten davon in der Lesung aus dem Evangelium. Das Kommen des Erlösers ist angesagt. Die Verheißung seiner Ankunft, seines Advents, will uns Menschen aufrufen, ihm entgegenzugehen.

Die Adventslieder lassen in Melodie und Text die Hoffnung auf Erlösung, die Erwartung auf eine letzte Befreiung, anklingen.

Auf ein ganz altes Adventslied, dessen Text auf den im 4.Jh. in Trier geborenen und späteren Bischof von Mailand, Aurelius Ambrosius, zurückgeht, wollen wir heute morgen hören.

Die heutige Melodie verdanken wir Martin Luther, der sie aber nicht neu schöpfte, sondern auf den mittelalterlichen Hymnus zurückgriff.

Martin Luther war es auch, dem wir den deutschen Text verdanken. Dieser ist eine Übersetzung aus dem ursprünglich lateinischen Wortlaut: VENI REDEMPTOR GENTIUM.

Die dt. Übersetzung aus Martin Luthers Feder ist nicht gerade für Konfirmanden/-innen geeignet, aber es sind nicht nur die Konfirmanden/-innen, die besonders mit der ersten Strophe Verstehensschwierigkeiten haben:

“Nun komm, der Heiden Heiland…”

Orgelchoral (auch Instrumentalensemble oder Sologesang) zu Strophe 1

Der Text dieser ersten Strophe ist nicht mehr unsere Sprache und Grammatik. Wir müssen heute die Worte, die zur Zeit Martin Luthers bestimmt verstanden wurden, neu übersetzen, ihn mit unserer Sprache sagen.

Nicolaus Bruhns, hat zu diesem ersten Vers eine Choralphantasie geschrieben, deren ersten Teil wir soeben hörten. Nicolaus Bruhns, im Dez. 1665 in Schwabstedt (bei Husum) geboren, Schüler von Dietrich Buxtehude, war Komponist, Organist und Violinist. Er ist nur 32 Jahre alt geworden und hinterließ Orgelwerke und Kirchenkantaten.

Was mag den jungen Komponisten gerade bei diesem Adventslied bewegt haben? In seiner Choralphantasie folgt er den vier Liedzeilen.

1) Nun komm, der Heiden Heiland,

2) der Jungfrau Kind erkannt,

3) daß sich wunder alle Welt,

4) Gott solch Geburt ihm bestellt.

Auffällig ist, daß Nicolaus Bruhns sich nur diesem ersten Vers widmet. Seine Choralphantasie klingt wie ein Versuch, den Inhalt des ersten Verses zu umschreiben und zu deuten. Vielleicht hat er im ersten Liedvers die inhaltliche Mitte gesehen.

VENI REDEMPTOR GENTIUM, heißt die erste Liedzeile im ursprünglichen lateinischen Text. Eine wörtliche Übersetzung ergibt: KOMM, ERLÖSER DER VÖLKER. Das ist ein Hilferuf, ein Ruf nach Befreiung. Erlösen bedeutet im biblischen Sinn: einen Menschen, der Schulden hatte und wegen Zahlungsunfähigkeit als Sklave genommen wurde, loskaufen, ihn lösen. Wo brauche ich Befreiung, Lösung aus einer Situation, aus der ich mir selbst nicht helfen kann? Wo brauchen die Völker jemanden, der sie befreit und losbindet?

VENI REDEMPTOR GENTIUM, KOMM, ERLÖSER DER VÖLKER – Hören wir jetzt den ersten Teil der Choralphantasie von Nicolaus Bruhns. Achten wir auf die drei Unterstimmen, die im motettischen Stil diesen Hilferuf zitieren, und auf den Sopran, der als frei kolorierende Oberstimme geführt wird.

Choralphantasie Teil I

Der Erlöser, der wieder ganz macht, was zerrissen und zerbrochen war, wird in der zweiten Liedzeile mit Maria, der Mutter Jesu, in Verbindung gebracht. Es geht um die Erkenntnis dieser Verbindung. Für Maria steht das Wort “Jungfrau”. Eine alte Verheißung aus der Bibel Israels klingt in diesem Wort an, die Botschaft des Propheten Jesaja: “Siehe, eine Jungfrau ist schwanger und wird einen Sohn gebären, den wird sie nennen Immanuel (d.h. Gott mit uns).

OSTENDE PARTUM VIRGINIS steht im lateinischen Text, den Martin Luther sehr frei und für uns heute kaum noch verständlich wiedergegeben hat: “der Jungfrauen Kind erkannt”. Wörtlich sagen die drei lateinischen Worte: ZEIGE (OFFENBARE, ERKLÄRE) DIE GEBURT DURCH DIE JUNGFRAU.
Unmöglich, daß die ratio des Menschen den ersehnten Erlöser mit einem Menschen in Verbindung bringen kann. Darum die Bitte: Zeige, erweise dich, Du Menschenkind, als der kommende Erlöser. Laß uns ach so vernünftige Menschen zweifeln an unserer Vernunft, laß uns kritisch werden gegenüber unseren allzugewohnten Denkschemata, mit denen wir uns vor dem, was uns gut tun könnte, verschließen. Öffne unsere Augen und Ohren, daß wir sehen und hören.

Im zweiten Teil der Choralphantasie von Nicolaus Bruhns zitieren alle Stimmen motettisch dieses Verlangen nach Klärung. Anschließend gehen sie in ein freies Improvisieren über. Die Sopranstimme wird wie in der ersten Liedzeile durch eine besondere Registrierung hervorgehoben. Im zweiten Abschnitt dieses Teiles fallen die Echostellen auf, ein für die damalige Zeit typisches musikalisches Stilmittel.

Choralphantasie Teil II

“Daß sich wunder alle Welt” – mit dieser Übersetzung hält sich Martin Luther ziemlich wörtlich an den überlieferten Text: MIRETUR OMNE SAECULUM – STAUNEN SOLL DIE GANZE WELT. Ein “Paradigmawechsel” ist angesagt, ein Umdenken, das den Menschen auf einen guten Weg bringt.

Will Nicolaus Bruhns mit dem Taktwechsel im dritten Teil seiner Choralphantasie diese neue Denkrichtung anklingen lassen? Und will er mit der kaum noch zu erkennenden in einer Oberstimme angedeuteten Choralmelodie zum Verlassen der gewohnten und eingefahrenen Bahnen ermutigen?

Choralphantasie Teil III

Was Martin Luther mit den Worten “Gott solch Geburt ihm bestellt” übersetzt hat, läßt sich vom lateinischen Urtext her für uns heute verständlicher sagen.

TALIS PARTUS DECET DEUM heißt: EINE SOLCHE GEBURT STEHT GOTT GUT. Der kommende Erlöser ist der uns menschlich ganz nahe, nicht der ferne und unerreichbare. Der kommende Erlöser befreit uns, um einander menschlich näher zu kommen, einander wahrzunehmen, füreinander dazusein, Offenheit zu wagen und in alledem Vertrauen – auch wenn erfahrungsgemäß noch so viel dagegen steht.

Etwas Befreiendes und Ermutigendes, zum Aufbruch in die Zukunft atmet der vierte Teil der Choralphantasie mit seinen schnellen Verzierungsfiguren, immer wieder ist die Melodie dazwischen solistisch zu hören bis zu einem ganz freien virtuosen Schluß.

Bitten wir Gott an diesem zweiten Adventssonntag: „Komm, Erlöser der Völker, komm auch zu uns“, und bekräftigen wir jetzt diese Bitte, in dem wir in das Adventslied einstimmen (EG 4,1-5).

Amen.

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