Zurückschauen und weitergehen mit Gott und seinem heilsamen Ruf zur Besinnung
Ausschau nach tragender Gewissheit (certitudo) contra fatale Sebstsicherheit (securitas)
Predigttext: Jesaja 30,8-17 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision1984)
8 So geh nun hin und schreib es vor ihnen nieder auf eine Tafel und zeichne es in ein Buch, daß es bleibe für immer und ewig. 9 Denn sie sind ein ungehorsames Volk und verlogene Söhne, die nicht hören wollen die Weisung des HERRN, 10 sondern sagen zu den Sehern: »Ihr sollt nicht sehen!« und zu den Schauern: »Was wahr ist, sollt ihr uns nicht schauen! Redet zu uns, was angenehm ist; schauet, was das Herz begehrt! 11 Weicht ab vom Wege, geht aus der rechten Bahn! Laßt uns doch in Ruhe mit dem Heiligen Israels!« 12 Darum spricht der Heilige Israels: Weil ihr dies Wort verwerft und verlaßt euch auf Frevel und Mutwillen und trotzet darauf, 13 so soll euch diese Sünde sein wie ein Riß, wenn es beginnt zu rieseln an einer hohen Mauer, die plötzlich, unversehens einstürzt; 14 wie wenn ein Topf zerschmettert wird, den man zerstößt ohne Erbarmen, so daß man von seinen Stücken nicht eine Scherbe findet, darin man Feuer hole vom Herde oder Wasser schöpfe aus dem Brunnen. 15 Denn so spricht Gott der HERR, der Heilige Israels: Wenn ihr umkehrtet und stille bliebet, so würde euch geholfen; durch Stillesein und Hoffen würdet ihr stark sein. Aber ihr wollt nicht 16 und sprecht: »Nein, sondern auf Rossen wollen wir dahinfliehen«, - darum werdet ihr dahinfliehen, »und auf Rennern wollen wir reiten«, - darum werden euch eure Verfolger überrennen. 17 Denn euer tausend werden fliehen vor eines einzigen Drohen; ja vor fünfen werdet ihr alle fliehen, bis ihr übrigbleibt wie ein Mast oben auf einem Berge und wie ein Banner auf einem Hügel (= Signalstange, um Nachrichten von Ortschaft zu Ortschaft weiterzugeben).Vorbemerkung angesichts des Seebebens in Südostasien
Bedrängend stehen uns in diesen Tagen die Bilder des südostasiatischen Seebebengebietes vor Augen. Inzwischen sollen es über 50 Tausend Menschen sein, die von den Fluten überrascht und in den Tod gerissen wurden. Hunderttausende Überlebende trifft bitterstes Leid und Not, Trauer um ihre Angehörigen. Kyrie, Kyrie, eleison. Die Schlimme Katastrophe mit allem, was sie ausgelöst hat, in uns bewegt und aufwühlt, sie darf nicht vor den Kirchentüren bleiben. Wie gehen wir in unseren Gottesdiensten mit den Schreckensmeldungen um? Wie nehmen wir sie in Liturgie und Predigt auf? Etwa in Verbindung mit der Theodizeefrage? Was bedeutet es, wenn wir im Glaubensbekenntnis "den Allmächtigen" bekennen? Hätte Gott die Möglichkeit gehabt, die Katastrophe zu verhindern? Oder in Verbindung mit der Frage nach der Existenz Gottes? Hat es denn noch einen Sinn, von einem Gott zu reden, der wie in der biblischen Sinftlut- und in der Exodusgeschichte den Glauben und das Elend seiner Geschöpfe sieht und rettend eingreift? Auf die Stimmen möchte ich hören, die " nicht im heroischen und glaubensstarken Sinn, sondern voller Betroffenheit und Schwachheit " Gottes Liebe, sein empfindsames und mitleidendes Herz, gegen die bitteren Erfahrungen unserer Lebenswirklichkeit stellen. "In der Welt habt ihr Angst", sagt Jesus, "aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden". "Nichts kann uns scheiden von der Liebe Gottes...", heißt es in der Epistel zum Altjahresabend. Als eine solche mich nicht im Stich lassende Stimme möchte ich mit meiner Gemeinde auch den Tages- bzw. Wochenspruch hören: "Barmherzig ( = wie eine Mutter in ihren Schoß nehmend) und gnädig ist Gott, geduldig und von großer Güte". Zurückhaltung will ich mir auferlegen, die Katastrophe deuten zu müssen, geschweige denn, ihr irgendeinen Sinn zu geben. Ich entscheide mich, nach dem Glockengeläut und noch vor dem (Orgel-)Vorspiel eine Kerze anzuzünden, eine Kerze des Gedenkens, der Klage, des Hilfeschreies KYRIE ELEISON und zugleich der Hoffnung auf den Gott der Liebe, der in den Fluten mit untergeht, mitschreit, mitstirbt und seine Geschöpfe nicht allein lässt. In der Predigt halte ich es, um angesichts der Seebebenkatastrophe möglichen Missverständnissen zu entgegnen, für dringend geboten, zumindest auf die bedingte Verheißung einzugehen: "Wenn ihr umkehrtet und stille bliebet, so würde euch geholfen", heißt es in V.15. Für das Verständnis dieser über zweieinhalbtausend Jahre alten Prophetenworte ist es sehr wichtig, die Situation zu bedenken, in die hinein sie einmal gesprochen wurden. Der Prophet Jesaja wollte sein Volk, das biblische Israel im 8.Jahrhundert v. Chr., zurückrufen auf den Weg der heilsamen Gebote Gottes. Diese Worte sind aber nicht angesichts einer herannahenden Naturkatastrophe gesagt, dass etwa man daraus schließen könnte, Gott hätte seine Hilfe verweigert. Eine Alternative zum Perikopentext ist die Jahreslosung, über die in vielen Gemeinden an Silvester und Neujahr gepredigt wird. Für das Neue Jahr 2005 stammt sie aus Lukas 22,32, es sind Worte Jesu: "Ich aber habe für dich gebeten, dass dein Glaube nicht aufhöre". Meine Predigt über den Perikopentext lasse ich in diese ebenso tröstlichen wie ermutigenden Worte Jesu münden. Vielleicht entscheide ich mich aber doch noch für die Jahreslosung. (Zitate von Gerhard von Rad stammen aus: Gerhard von Rad, Predigten, 2.Aufl., München 1978, S.134-140: 135.139)Liebe Gemeinde!
“Wenn ihr umkehrtet und stille bliebet, so würde euch geholfen; durch Stillesein und Hoffen würdet ihr stark sein.” Um es vorwegzunehmen und möglichen Missverständnissen zu wehren: Diese Worte sind nicht angesichts einer herannahenden Naturkatastrophe gesagt, dass man daraus schließen könnte, Gott hätte seine Hilfe verweigert. Das biblische Israel gegen Ende des 8.Jahrhunderts v. Chr. hatte sich von Gott abgewandt. Der Prophet Jesaja wollte es zurückrufen auf den Weg der heilsamen Gebote Gottes. Das ist die Tendenz der Botschaft, die uns im Buch des Propheten Jesaja überliefert ist und uns heute am Altjahresabend mit auf den Weg ins Neue Jahr begleiten soll.
“Aber ihr wolltet nicht”, kommentiert der Prophet. Jesaja blickt damit auf seine Predigten zurück, mit denen er sich im Auftrag Gottes an sein Volk wandte, einladend, auf das Wort Gottes zu hören, mahnend und warnend, wenn es in der Gefahr stand, sich von Gott abzuwenden, aufrüttelnd, wenn es sich in fahrlässiger Sicherheit glaubte, aber immer auf die Einsicht des Volkes hoffend.
Jesaja musste jedoch erleben, wie seine Botschaft auf Widerwillen stieß und zu seinen Lebzeiten erfolglos blieb. Darum schrieb er sie nieder, überzeugt damit von Gott beauftragt zu sein, in der Hoffnung, daß seine Botschaft in späteren Zeiten Hörende findet – und sie sucht sie bis heute.
I.
Wie kamen die Menschen damals dazu, diese Botschaft abzulehnen? Kennen wir Worte wie Stillesein und Hoffen in unserer christlichen Tradition nicht allzu gut, wer wollte daran etwas Anstößiges finden? Für viele war und ist es bis heute ein Ausdruck von besonderer Frömmigkeit, immer still zu sein, wenn andere meinen, in einer bestimmten persönlichen oder gesellschaftlichen Situation etwas sagen zu müssen. “Reden ist Silber, Schweigen ist Gold”, heißt ein Sprichwort. Hat das der Prophet gemeint: Sich zurückziehen und abschirmen von der Welt und ganz für sich einer stillen Hoffnung leben? Nein, “mit diesem ‘Laß die Welt Welt sein’ hat dieses Prophetenwort nichts zu tun” (Gerhard von Rad).
Die Situation damals: In Jerusalem war in politischer Hinsicht Ruhe eingekehrt, was die Bevölkerung verständlicherweise aufleben ließ, wodurch sich aber viele auch in eine gewisse Sattheit, Selbstgenügsamkeit und Trägheit treiben ließen. Dem Propheten gaben sie eine Abfuhr mit den Worten: “Was wahr ist, sollt ihr uns nicht schauen! Redet zu uns, was angenehm ist; schauet, was das Herz begehrt!” (V.10)
Die Mauer, mit der ihr euch umgebt wie mit einem Panzer, ist brüchig, sie kann schnell rieseln und unversehens einstürzen, entgegnet der Prophet auf dieses Sünde der allzu Sicheren. Mit “Sünde” bezeichnet der Prophet ein Fehlverhalten der Menschen, die sich selbst genug sind (V.13). Noch ein anderes Bild gebraucht der Prophet: Wie wenn ein Topf zerschmettert wird und in tausend Stücke zerfällt, so kann es auf einmal mit eurer festgefügten Weltanschauung gehen. Erleben nicht auch wir heute, wie brüchig und zerbrechlich der Friede in der Welt, die gesellschaftlichen Verhältnisse, unser Leben, unsere Beziehungen, unser Glück sind?
II.
Es gibt zu jeder Zeit Menschen – und mit solchen müssen wir auch die biblischen Propheten vergleichen -, die um der Wahrheit willen ihre Stimme erheben und sprechen, auch wenn es nicht gerade angenehm ist, ihnen zuzuhören, weil sich nämlich bei uns etwas verändern müsste, weil wir uns vielleicht schnell zu entscheiden hätten, eine andere Wegrichtung einzuschlagen, unserem Leben eine andere Richtung zu geben, lange aufgerichtete Mauern zu durchbrechen und einen selbst verursachten Scherbenhaufen als Chance eines Neuanfanges zu begreifen…
Von Martin Luther wissen wir, dass er zwischen einer fatalen Selbstsicherheit, der “securitas”, und einer tragenden Gewißheit, der “certitudo”, unterschied. In der securitas ist sich der Menschen selbst genug, bleibt stehen, tritt auf der Stelle, verkrümmt sich in sich selber und mauert sich ein. Die certitudo ermutigt ihn, sich dem Leben zuzuwenden, sich auch schwierigen Lebenssituationen zu stellen, sie lässt ihn immer wieder neu nach dem Sinn seines Lebens fragen und danach, was er selbst tun kann, sie ruft bei ihm eine kritische Wahrnehmung des Tagesgeschehens und so mancher selbstberuhigenden Weltanschauungen wach, sie schult ihn im Empfinden für Recht und Gerechtigkeit und was den Menschen und die Schöpfung gefährdet…
Sich den Lebenssituationen stellen wie sie sind, kann uns verletzlich und unruhig machen im Erleben von rätselhaften und beängstigenden Schicksalsschlägen und Abgründen. Es ist also – so hören wir es durch die prophetische Botschaft – gerade kein Zeichen von Frömmigkeit, wenn wir nur auf Angenehmes aus sind, nicht zu Beschönigendes schönreden oder gar wegschauen, uns der Konfrontation entziehen, uns nicht fordern und bewegen lassen.
III.
Hören wir jetzt nocheinmal die Botschaft des Propheten Jesaja: Wenn ihr umkehrtet und stille bliebet, so würde euch geholfen; durch Stillesein und Hoffen würdet ihr stark sein.
Merken wir, welche Bewegung in dem Stillesein und Hoffen mitschwingt? Der Prophet nennt umkehren und stillbleiben, stillbleiben und hoffen, in einem Atemzug! Umkehren – damit ist meine Bereitschaft, mich zu korrigieren, angesprochen, eine eingeschlagene falsche Wegrichtung nicht stur – nur weil ich mich nicht blamieren will – weitergehen, sondern die Richtung ändern. Darin liegt etwas Heilsames, Gottes Heil für uns Menschen. Darum hat “umkehren” im biblischen Sinn mit unserer Hinwendung zu Gott zu tun. Auf Ihn hin soll sich unser Stillesein und Hoffen richten. “Denn” – so bekennt der betende Mensch in einem Psalm – “bei dir ist die Quelle des Lebens und in deinem Lichte sehen wir das Licht”.
Dies gilt uns auch und gerade dann, wenn Schweres in unser Leben einbricht. Es darf nicht so weit kommen, dass wir uns in uns selbst zurückziehen. Marie von Ebner-Eschenbach hat einmal gesagt: “Nicht, was wir erleben, sondern wie wir empfinden, was wir erleben, macht unser Schicksal”. Mit stillbleiben meint der Prophet kein Verstummen, sondern ein Hoffen. Die Hoffnung auf Gott ist das Vertrauen, daß Gott uns im Leid nicht im Stich läßt, sondern – selbst am Leid leidend und mitleidend – mit uns in seine Zukunft des Lebens geht. Die Hoffnung auf Gott schließt die Hoffnung ein, daß Menschen dort sind, wo ein anderer Mensch dringend Hilfe braucht.
Wo waren wir in diesem Jahr, und wo wollen wir im Neuen Jahr sein? Der Heidelberger Theologe Gerhard von Rad sagte einmal in einer Predigt: “Ich glaube, Gott freut sich derer, die ihm aufmerksam und vertrauensvoll auf die Hände sehen; und ich glaube, er wird ihnen die Erleuchtung und die Kräfte, deren sie bedürfen, nicht verweigern”. Gott im Neuen Jahr stillehalten – das heißt: Sich von ihm zur Umkehr bewegen lassen, also zur täglichen Besinnung, und zur Hoffnung, die uns den Lebensmut gibt und bewahrt.
Darum möchte ich im Neuen Jahr umkehren können, wo es lebensnotwendig ist, mir helfen lassen, wo ich Hilfe brauche, und als ein Mensch voller Hoffnung dem Leben, der Welt, Gottes Schöpfung zugewandt sein und immer wieder Momente der Stille finden, die mich stärken auf dem von Gott verheißenen Weg, der zum Leben führt. Die Worte Jesu, die als Jahreslosung über dem Neuen Jahr 2005 stehen, ermutigen mich dazu und geben mir das nötige Vertrauen: Ich aber habe für dich gebeten, dass dein Glaube nicht aufhöre.
Amen.