“Komm und sieh es!” – Begegnungen unter offenem Himmel
Predigttext: Johannes 1,(35)43-51(Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
Die ersten Jünger Jesu 35 Am nächsten Tag stand Johannes abermals da und zwei seiner Jünger; 36 und als er Jesus vorübergehen sah, sprach er: Siehe, das ist Gottes Lamm! 37 Und die zwei Jünger hörten ihn reden und folgten Jesus nach. 38 Jesus aber wandte sich um und sah sie nachfolgen und sprach zu ihnen: Was sucht ihr? Sie aber sprachen zu ihm: Rabbi - das heißt übersetzt: Meister -, wo ist deine Herberge? 39 Er sprach zu ihnen: Kommt und seht! Sie kamen und sahen's und blieben diesen Tag bei ihm. Es war aber um die zehnte Stunde. 40 Einer von den zweien, die Johannes gehört hatten und Jesus nachgefolgt waren, war Andreas, der Bruder des Simon Petrus. 41 Der findet zuerst seinen Bruder Simon und spricht zu ihm: Wir haben den Messias gefunden, das heißt übersetzt: der Gesalbte. 42 Und er führte ihn zu Jesus. Als Jesus ihn sah, sprach er: Du bist Simon, der Sohn des Johannes; du sollst Kephas heißen, das heißt übersetzt: Fels.) 43 Am nächsten Tag wollte Jesus nach Galiläa gehen und findet Philippus und spricht zu ihm: Folge mir nach! 44 Philippus aber war aus Betsaida, der Stadt des Andreas und Petrus. 45 Philippus findet Nathanael und spricht zu ihm: Wir haben den gefunden, von dem Mose im Gesetz und die Propheten geschrieben haben, Jesus, Josefs Sohn, aus Nazareth. 46 Und Nathanael sprach zu ihm: Was kann aus Nazareth Gutes kommen! Philippus spricht zu ihm: Komm und sieh es! 47 Jesus sah Nathanael kommen und sagt von ihm: Siehe, ein rechter Israelit, in dem kein Falsch ist. 48 Nathanael spricht zu ihm: Woher kennst du mich? Jesus antwortete und sprach zu ihm: Bevor Philippus dich rief, als du unter dem Feigenbaum warst, sah ich dich. 49 Nathanael antwortete ihm: Rabbi, du bist Gottes Sohn, du bist der König von Israel! 50 Jesus antwortete und sprach zu ihm: Du glaubst, weil ich dir gesagt habe, daß ich dich gesehen habe unter dem Feigenbaum. Du wirst noch Größeres als das sehen. 51 Und er spricht zu ihm: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ihr werdet den Himmel offen sehen und die Engel Gottes hinauf- und herabfahren über dem Menschensohn.Vorbemerkung zum Predigttext, zur Predigt und zum Gottesdienst
Die Perikope ermöglicht verschiedene Schwerpunkte: Zwei Jünger Johannes des Täufers treten in den Jüngerkreis Jesu ein, nur von einem erfahren wir den Namen (vgl. die synoptische Überlieferung): Andreas, der Bruder des Simon Petrus (V.35-39), Andreas gewinnt seinen Bruder Simon Petrus für Jesus (V.40-42), Jesus ruft Philippus (in Peräa?) in die Nachfolge (V.43-44). Ich konzentriere mich auf die Szene, in welche die (m.E. bewusst dramaturgisch aufgebaute) Szene mündet, die Begegnung des Philippus und Jesu mit Nathanael (V.45-51). Der geographische Ort spielt im Gegensatz vielleicht zu den chronologischen (möglicherweise symbolischen) Angaben (s. Joh 1,19-2,11)offensichtlich keine Rolle. Die theologisch-kerygmatische Mitte der Perikope ist durch den Hinweis des Johannes des Täufers auf die Bedeutung Jesu als der Messias (V.41 vgl.V.45)umschrieben: "Siehe, das ist Gottes Lamm" (V.35). Nathanaels "Erleuchtung" war, dass er in Jesus von Nazareth mehr als den jüdischen Rabbi, den Thoralehrer, erkannte. Mit seinem inneren Auge sah er den Sohn Gottes (V.49)und stimmte damit in das Bekenntnis des Johannes des Täufers ein (V.34). Gibt es in der Antwort Jesu (V.50) auf das Bekenntnis Nathanaels eine innere Verbindung zu Joh 20,29 ("Selig sind, die nicht sehen und doch glauben")? V.51 greift mit dem schönen Bild vom offenen Himmel die Geschichte von Jakobs Traum in Bethel auf. Das Herauf- und Herabfahren der Engel über dem Menschensohn umschreibt die lebendige Beziehung zwischen Jesu, des Gottessohnes, mit Gott und der himmlischen Welt. Welche Begegnungen und Gotteserfahrungen, Einsichten und Lichtblicke, wird uns das Neue Jahr 2005 bringen? Wie werden wir unsere persönlich und beruflich bestehenden Beziehungen gestalten, welche werden wir neu eingehen? Im Anfang des Gottesdienstes soll durch Kerzenanzünden und Fürbitten der Opfer und der Angehörigen der südostasiatischen Seebebenkatastrophe gedacht werden.Lieder:
All Morgen ist ganz frisch und neu (EG 440), Lob, Ehr sei Gott (EG 24,15), Gott gab uns Atem (EG 432), Von Gott will ich nicht lassen (EG 365,1), Lass mich dein sein und bleiben (EG 157). Zur Perikope empfehle ich die immer noch anregende Auslegung von Hermann Strathmann (NTD 4, Göttingen 1963, S.50-55, besonders auch seine Reflexion des Verhältnisses der Johannesperikope zu den synoptischen Darstellungen Mk 1,16-20; Mt 4,18-22).Liebe Gemeinde!
Was wäre ein Leben ohne Begegnungen. Sie schaffen Beziehungen und prägen uns. Die Erfahrung mit weniger schönen Begegnungen verstärken unseren Wunsch, Menschen zu begegnen, die uns gut tun.
“Komm und sieh!”, so lädt Philippus Nathanael zu einer Begegnung mit Jesus ein. Philippus gehörte – wie wir vorher erfahren – erst seit kurzem mit Andreas und dessen Bruder Simon Petrus zum engsten (Jünger-)Kreis um Jesus. Philippus wollte Nathanael für Jesus gewinnen. Voller Begeisterung teilte er ihm mit: Wir haben den gefunden, von dem Mose im Gesetz und die Propheten geschrieben haben, (den Messias, V.4l), Jesus, Josefs Sohn, aus Nazareth (V.45). Nathanael aber winkt ab mit den Worten: Was kann aus Nazareth Gutes kommen! Darauf die Reaktion des Philippus: “Komm und sieh es!”
Beispielhaft, wie sich Philippus um Nathanael bemüht. So schnell lässt er ihn nicht laufen. ‘Deine Skepsis kann ich verstehen, aber komm doch zuerst und schau ihn Dir an, bevor Du abwinkst’. Philippus fand Nathanael unter einem Feigenbaum; es gelang ihm immerhin, ihn von dort hervorzuholen, um sich mit ihm auf den Weg zu Jesus zu begeben.
Sich unter einem Feigenbaum niederlassen zu können, war für den (frommen) Israeliten mehr als etwas Alltägliches. Wie das Sich-Niederlassen-Können unter einen Weinstock war es Zeichen, dass Gott die messianische Heilszeit kommen lässt, Zeichen für ein umfassend friedevolles Leben. So hören wir z.B. beim Propheten Micha (4, l.3f.): “In den letzten Tagen aber…werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen. Es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen. Ein jeder wird unter seinem Weinstock und Feigenbaum wohnen, und niemand wird sie schrecken…” Darum nahmen die Rabbiner gern unter einem Feigenbaum Platz, wenn sie in der Bibel lasen und in den überlieferten Schriften auf die Stimme Gottes horchten, nach dem von Gott verheißenen Leben forschten und auf Erleuchtung hofften. Wir können es uns vorstellen, wie schön es ist, unter einem Baum sich niederzulassen – “ich träumt in seinem Schatten so manchen süßen Traum”, heißt es in einem unserer Volkslieder. Kein geringerer als Gautama Buddha hatte seine entscheidenden Erleuchtungen unter einem Feigenbaum.
Vermutlich war der aus dem galiläischen Kana stammende (Joh 21,2) Nathanael ein Schriftgelehrter, der – voller Freude an Gottes Weg weisenden Geboten, der Thora – darin mit Eifer studierte, und bedacht darauf war, in seiner Gegenwart Zeichen der von Gott verheißenen messianischen Zeit zu entdecken. Jetzt können wir auch seine abweisenden Worte verstehen: “Was kann aus Nazareth Gutes kommen!” Denn jeder Bibelkundige wusste damals: Nazareth spielt in der Bibel Israels keine Rolle. Vielmehr richtete sich alle Hoffnung auf Bethlehem, von dorther sollte der Messias, der von Gott verheißene König der Heilszeit kommen. Nathanael schien sich gerade in die Lektüre von Jakobs Traum in Bethel vertieft zu haben, in das Staunen Jakobs: “Fürwahr, Gott ist an dieser Stätte, und ich wusste es nicht” und darüber, wie Himmel und Erde durch eine Himmelsleiter verbunden waren, als Philippus ihn findet und dem kritischen Menschen zuruft: “Komm und sieh es!”
Dann kommt es zur Begegnung mit Jesus. Ging bereits Philippus einladend auf den kritisch geschulten Nathanael ein, so erlebt er bei Jesus einen respektvollen unverhofften Empfang: “Siehe, ein rechter Israelit, in dem kein Falsch ist!” (V. 47) Darauf Nathanael betroffen: Woher kennst du mich? Und die Antwort Jesu: Bevor Philippus dich rief, als du unter dem Feigenbaum warst, sah ich dich. Dieses tiefe umfassende Erkennen Nathanaels durch Jesus lässt uns hoffen, dass auch wir uns von Jesus im guten Sinn erkannt, angenommen und geliebt wissen dürfen. Dies klingt in dem schönen Weihnachtslied “Ich steh an deiner Krippen hier” an, dort heißt es in der zweiten Strophe: “Da ich noch nicht geboren war, da bist du mir geboren und hast mich dir zu eigen gar, eh ich dich kannt, erkoren. Eh ich durch deine Hand gemacht, da hast du schon bei dir bedacht, wie du mein wolltet werden”(EG 37). Stimmen wir jetzt doch in diese Liedstrophe ein!
Jesu Suchen und in ihm Gottes Suchen nach uns geht unserer Gott- und Lebenssuche weit voraus. Bevor wir den Weg nach innen, zur Mitte unseres Lebens, zu Jesus, zu Gott gehen, sind wir schon an die Hand genommen. Welch eine zutiefst beruhigende Vorgabe für unser Leben.
Nathanael hat es erfahren dürfen, dass seine tiefe Hoffnung auf den Messias, den König Israels, den Christus, in der Begegnung mit Jesus, Josefs Sohn, aus Nazareth, gestillt wurde. Er konnte bekennen: Rabbi, du bist Gottes Sohn, du bist der König von Israel! (V.49) So wird Nathanael zum Repräsentanten der christlichen Hoffnung auf den Messias, dessen Name Jesus heißt. Diese Hoffnung muss uns von der israelitisch-jüdischen Erwartung des Messias nicht trennen, sie kann uns vielmehr in dem Glauben verbinden, dass Gott die neue Welt voller Gerechtigkeit und Frieden schaffen, alle Tränen von unseren Augen abwischen und alles, alles neu machen wird.
Jesus sprach zu Nathanael, wohl anknüpfend an dessen Lektüre des Jakobstraumes in Bethel: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ihr werdet den Himmel offen sehen und die Engel Gottes hinauf- und herabfahren über dem Menschensohn. Nathanael hat den offenen Himmel über Jesus erfahren dürfen. Der Name Nathanael bedeutet: “Gott hat (es) gegeben”. In der überraschenden Begegnung mit Jesus hat Gott Nathanael die Augen für den Sohn Gottes, das wahre Leben geöffnet. Nathanael ist ein Licht aufgegangen, er hat erkannt: In Jesus berühren sich Himmel und Erde, in Ihm ist die Fülle des Lebens. Komm und sieh es!
Amen.