Mensch, wo bist du?

Nach dem Essen vom Baum der Erkenntnis: Leben in Zweideutigkeiten – Kultur, Freiheit, Verantwortung

Predigttext: 1.Mose 3, 1-19 (20-24)
Kirche / Ort: Fellbach
Datum: 13.02.2005
Kirchenjahr: Invokavit (1. Sonntag der Passionszeit)
Autor/in: Pfarrer Jürgen Bossert

Predigttext: 1. Mose 3, 1- 24; Übersetzung nach Martin Luther (Revision 1984)

1 Aber die Schlange war listiger als alle Tiere auf dem Felde, die Gott der HERR gemacht hatte, und sprach zu dem Weibe: Ja, sollte Gott gesagt haben: ihr sollt nicht essen von allen Bäumen im Garten? 2 Da sprach das Weib zu der Schlange: Wir essen von den Früchten der Bäume im Garten; 3 aber von den Früchten des Baumes mitten im Garten hat Gott gesagt: Esset nicht davon, rühret sie auch nicht an, dass ihr nicht sterbet! 4 Da sprach die Schlange zum Weibe: Ihr werdet keineswegs des Todes sterben, 5 sondern Gott weiß: an dem Tage, da ihr davon esset, werden eure Augen aufgetan, und ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist. 6 Und das Weib sah, dass von dem Baum gut zu essen wäre und dass er eine Lust für die Augen wäre und verlockend, weil er klug machte. Und sie nahm von der Frucht und aß und gab ihrem Mann, der bei ihr war, auch davon, und er aß. 7 Da wurden ihnen beiden die Augen aufgetan, und sie wurden gewahr, dass sie nackt waren, und flochten Feigenblätter zusammen und machten sich Schurze. 8 Und sie hörten Gott den HERRN, wie er im Garten ging, als der Tag kühl geworden war. Und Adam versteckte sich mit seinem Weibe vor dem Angesicht Gottes des HERRN unter den Bäumen im Garten. 9 Und Gott der HERR rief Adam und sprach zu ihm: Wo bist du? 10 Und er sprach: Ich hörte dich im Garten und fürchtete mich; denn ich bin nackt, darum versteckte ich mich. 11 Und er sprach: Wer hat dir gesagt, dass du nackt bist? Hast du nicht gegessen von dem Baum, von dem ich dir gebot, du solltest nicht davon essen? 12 Da sprach Adam: Das Weib, das du mir zugesellt hast, gab mir von dem Baum, und ich aß. 13 Da sprach Gott der HERR zum Weibe: Warum hast du das getan? Das Weib sprach: Die Schlange betrog mich, so dass ich aß. 14 Da sprach Gott der HERR zu der Schlange: Weil du das getan hast, seist du verflucht, verstoßen aus allem Vieh und allen Tieren auf dem Felde. Auf deinem Bauche sollst du kriechen und Erde fressen dein Leben lang. 15 Und ich will Feindschaft setzen zwischen dir und dem Weibe und zwischen deinem Nachkommen und ihrem Nachkommen; der soll dir den Kopf zertreten, und du wirst ihn in die Ferse stechen. 16 Und zum Weibe sprach er: Ich will dir viel Mühsal schaffen, wenn du schwanger wirst; unter Mühen sollst du Kinder gebären. Und dein Verlangen soll nach deinem Manne sein, aber er soll dein Herr sein. 17 Und zum Manne sprach er: Weil du gehorcht hast der Stimme deines Weibes und gegessen von dem Baum, von dem ich dir gebot und sprach: Du sollst nicht davon essen -, verflucht sei der Acker um deinetwillen! Mit Mühsal sollst du dich von ihm nähren dein Leben lang. 18 Dornen und Disteln soll er dir tragen, und du sollst das Kraut auf dem Felde essen. 19 Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du wieder zu Erde werdest, davon du genommen bist. Denn du bist Erde und sollst zu Erde werden. 20 Und Adam nannte sein Weib Eva; denn sie wurde die Mutter aller, die da leben. 21 Und Gott der HERR machte Adam und seinem Weibe Röcke von Fellen und zog sie ihnen an. 22 Und Gott der HERR sprach: Siehe, der Mensch ist geworden wie unsereiner und weiß, was gut und böse ist. Nun aber, dass er nur nicht ausstrecke seine Hand und breche auch von dem Baum des Lebens und esse und lebe ewiglich! 23 Da wies ihn Gott der HERR aus dem Garten Eden, dass er die Erde bebaute, von der er genommen war. 24 Und er trieb den Menschen hinaus und ließ lagern vor dem Garten Eden die Cherubim mit dem flammenden, blitzenden Schwert, zu bewachen den Weg zu dem Baum des Lebens.

Zur Predigt und Liturgie

Dass der Predigttext die „Sündenfallgeschichte“ ist, hat wirkungsgeschichtlich viele seiner Facetten, Aussagen und Erzählstränge in den Hintergrund treten lassen. Deshalb wird in dieser Predigt umfocussiert, auch durchaus im Contra zu mancher Auslegungsgeschichte, mit dem Ziel, nicht den Menschen klein zu machen, sondern im Sinne Bonhoeffers bei seinen Stärken zu behaften. So verarbeitet die Predigt den aitiologischen Charakter der Geschichte zu einer aktuellen Bestandsaufnahme: Wir leben eben nicht im Paradies. Statt regressiver Sehnsüchte nimmt sie die Ambivalenzen dieses Zustands kritisch auf, der Verlust des Paradieses wird ja als Urdatum der Kultur erzählt. Die damit einhergehende Freiheit wird gern genossen, die daraus folgenden Konsequenzen und Verantwortlichkeiten weit weniger. Aber genau diese gilt es, mit Gottes Hilfe, in der Zweideutigkeit menschlichen Lebens und all seiner Lebensumstände wahrzunehmen, theoretisch wie praktisch. Liedervorschläge, Psalm und Lesung: Er weckt mich alle Morgen (EG 452), Gott gab uns Atem (EG 432), Bewahre uns Gott (EG 171); Psalm 51; Lesung: Offenbarung 22, 10 – 17.

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Liebe Gemeinde!

Wir Menschen sind schon längst nicht mehr im Paradies

Im Paradies befinden wir Menschen uns schon längst nicht mehr. Mühevoll, arbeitsreich und oft schmerzlich ist das alltägliche Leben. Das, was ein Mensch für seinen Lebensunterhalt braucht, das muss hart erarbeitet werden – und heutzutage kann ein Mensch froh sein, wenn er Arbeit hat. Nicht einmal Arbeit ist bei uns mehr selbstverständlich. Das Leben zu bewältigen ist alles andere als einfach, leicht und spielerisch.

Auch die Beziehungen zwischen den Menschen sind oft alles andere als harmonisch und freundschaftlich. Angefangen von der Beziehung zwischen Mann und Frau bis hin zu den Beziehungen zwischen den Völkern. Misstrauen, Angst, Neid und Feindschaft prägen oftmals diese Beziehungen. Eine harmonische, friedliche und gelingende Beziehung ist ein seltenes Gut und braucht viel Arbeit.

Wir Menschen sind schon längst nicht mehr im Paradies. Wir sind hinausgeworfen in ein Leben, das mühevoll ist, das anstrengt und oft feindlich ist. Das stellt schon der Schreiber dieser langen Geschichte fest: Arbeitsreiches Leben, Geburtswehen und der Versuch, den anderen Menschen, oft gar den Partner, die Partnerin, zu beherrschen. Dies macht das alltägliche Leben aus.

Der elterlich bergende Schutz des Paradieses, der wie ein Mantel uns wärmend umhüllt und birgt, der ist fort, ein für allemal. Wir Menschen sind verdammt dazu, unser Leben selbst in die Hand zu nehmen und zu bewältigen, wir sind verdammt dazu, erwachsen zu werden und zu sein. Die kindliche Unschuld, die es erlaubt hat, naiv und vorurteilslos miteinander umzugehen, sich dem anderen einfach anzuvertrauen, das alles ist gewichen. Wir Menschen sind dazu verdammt selbst so etwas wie Gott sein zu müssen. Wir müssen unser Leben bewältigen, indem wir hart arbeiten und schaffen. Indem Menschen die Natur mühevoll kultivieren – die Steine vom Acker klauben, eggen, pflügen, säen, in der Hoffnung, dass die Saat aufgeht, sie ernten und das tägliche Brot backen können. So vor allem in früheren Zeiten. So auch heute noch. Mit ihrem Verstand, ihren Ideen und ihrer Phantasie müssen die Menschen die Probleme ihres Lebens und ihrer Lebenswelt angehen…

Das Urdatum der Kultur

Wir Menschen müssen unser Dasein, unser Leben bewältigen, indem wir Kultur gegenüber der Natur schaffen, nachdem uns die Augen aufgetan sind. So machten sich die ersten Menschen Kleider, nachdem ihnen die Augen geöffnet wurden – die erste Kulturleistung, noch im Paradies hervorgebracht. Indem Menschen Kulturleistung vollbringen, haftet ihnen etwas schöpferisch-Göttliches an. Die Prophezeiung der Schlange hat sich fast erfüllt: „Ihr werdet sein wie Gott“. Und Gott der Herr selbst stellt fest: „Siehe, der Mensch ist geworden wie unsereiner und weiß, was gut und böse ist“. Nun, ganz Gott wollte Gott die Menschen das nicht werden lassen und warf sie aus dem Paradies, damit sie nicht auch noch vom Baum des Lebens essen.

Er warf sie hinaus in ein Leben, in dem die Menschen selbst Verantwortung tragen müssen, in dem sie selbst Entscheidungen fällen und dafür dann gerade stehen müssen; in ein Leben, in dem die Menschen die Folgen ihres Tuns tragen müssen. Und Gott hat es ja zugelassen, dass der Mensch die Verantwortung tragen und Entscheidungen fällen kann. Gott hat zugelassen, dass die Menschen vom Baum der Erkenntnis essen. Und dieses Essen, die köstliche Frucht zu verspeisen und zu genießen, das hatte Folgen: Den Menschen wurden die Augen aufgetan – Götterdämmerung.

Die Augen wurden aufgetan und: Die erste Kulturleistung wurde vollbracht, ja musste vollbracht werden. Sie mussten sich Kleider machen. „Da wurden ihnen beiden die Augen aufgetan, und sie wurden gewahr, dass sie nackt waren, und flochten Feigenblätter zusammen und machten sich Schurze.“ Die erste greifbare Folge der Tat: Die Menschen wurden einander gegenüber misstrauisch; sie fühlten sich dem anderen ausgeliefert, weil sie völlig bloß waren. Blöße und Nacktheit, ein Zeichen dafür, dass ein Mensch dem anderen gegenüber völlig offen ist, sich ihm voll und ganz anvertraut und öffnet. Das ging nun verloren. Die Menschen mussten sich schützen, wollten sie dem anderen nicht völlig ausgeliefert sein; Misstrauen trat ein; die Blöße galt es zu bedecken. Es galt sich zu schützen mittels der ersten Kulturleistung.

Konsequenzen des Handelns, Verantwortlichkeit – und die Ausflucht

Doch die Tat der Menschen, das Essen vom Baum der Erkenntnis, hatte noch weitere Folgen. Die Menschen können unterscheiden zwischen dem, was gut und dem, was böse ist. Zumindest meinen sie, dass sie das könnten. Ob sie das wirklich können, das ist die Frage. Zumindest können sie unterscheiden, und indem sie unterscheiden, können sie wählen, sie können das Gute oder das Böse wählen. Und schließlich: Menschen sind ansprechbar auf das, was sie gewählt haben. Sie sind verantwortlich, sie können haftbar gemacht werden. Die Menschen werden auf ihr Handeln hin angesprochen, und sie müssen sich dem stellen. Sie müssen dann auch die Folgen ihres Tuns tragen, manchmal wohl ertragen.

Damals war es Gott, der die Menschen ansprach und auf ihr Tun aufmerksam machte. Gott spaziert in der Abenddämmerung im Garten. Die Menschen verstecken sich. Sie fürchten sich. Gott sucht sie und ruft nach ihnen. „Adam, wo bist du?“ Zunächst spricht Gott den Mann an und befragt ihn auf sein Tun: „Warum hast du das getan? Warum hast du vom Baum der Erkenntnis gegessen, obwohl ich das verboten habe?“ Der Mann flüchtet sich in Ausflüchte. Er versucht, sich heraus zu reden: Die Frau habe ihm davon gegeben und Gott habe ihm ja schließlich die Frau zur Seite gestellt. Der Mann macht die Frau für sein Tun verantwortlich und indirekt sogar Gott. Sich selbst nimmt er nicht als verantwortlich war. Auch die Frau versucht, sich mit einer Ausrede aus der Verantwortlichkeit herauszuwinden. Die Schlange war es, die habe es ihr eingegeben, dass sie essen sollte.

Diese Szene stellt eine Gerichtsverhandlung dar. Die Tat wird festgestellt, die Täter dingfest gemacht; es wird nach den Gründen der tat gefragt; die Angeklagten werden aufgefordert, Stellung zu beziehen. Und: Sie flüchten sich in Ausflüchte, in Ausreden. Menschlich, allzu menschlich klingt das. Das kommt einem sehr bekannt vor: Ein Vergehen wird festgestellt; die Täter sind bekannt, aber sie stehen nicht zu ihrem Vergehen, sie suchen nach Ausreden; die Umstände waren es oder andere Menschen; ja es scheint den Tätern gar nicht bewusst zu sein, was sie taten, dass sie eine Grenze überschritten haben, die sie nicht hätten überschreiten, übertreten dürfen. Das dünkt bekannt…

Heutige Hinweise auf Kausalitäten und Verantwortlichkeiten

Damals war es Gott, der die Menschen auf ihr Tun hin befragte, der sie auf ihre Grenzüberschreitung hinwies. Heute sind es die kommenden Generationen, die ihre Eltern und Großeltern befragen und auf die Folgen menschlichen Handelns aufmerksam machen, Menschen aus der „Dritten Welt“, welche die erste Welt auf ihr Handeln hin befragen und auf Grenzüberschreitungen aufmerksam machen; und schließlich die Natur, die Schöpfung selbst, die den Menschen auf die Folgen seiner Kulturleistung hinweist, auf das Überschreiten von Grenzwerten.

Alles in allem werden die Folgen menschlichen Handelns in ihrer ganzen Tragweite oft spät, ja zu spät erkannt, und sie werden oftmals erst durch Anstöße von außen, von anderen Menschen oder der Natur, bewusst; der Mensch ist sich oft selbst der Tragweite seines Tuns überhaupt nicht bewusst. Das ist ein Dilemma. Ein weiteres Dilemma: Der Mensch kann unterscheiden, er weiß, was gut und böse ist, er kann wählen, er muss wählen, er kann sich zwischen gut und böse entscheiden. Doch kann er das wirklich? Darin liegt die Ambivalenz, die Zweideutigkeit unseres menschlichen Tuns, unseres Lebens: Wir müssen uns entscheiden zwischen gut und böse, richtig und falsch, lebensförderlich und lebensfeindlich. Doch, was ist gut, was böse, was richtig, was falsch, was lebensförderlich, was lebensfeindlich? Oft ist das nie eindeutig zu entscheiden. Die Atomkraft, die Kernenergie zum Beispiel; oder auch ein bloßes Messer, man kann einen Apfel schälen, oder einen Menschen umbringen. Die Frucht des Baumes brachte den Menschen auf eine höhere Kulturstufe, sie brachte Fortschritt, Kleidung, Klugheit, Entscheidungsfähigkeit; aber sie brachte zugleich mit sich Heimatlosigkeit, Misstrauen…

Leben in Zweideutigkeiten

Mit dieser Zweideutigkeit unseres Handelns müssen wir Menschen leben. Sie gehört zu unserem Leben schon von alters her. Das Gute und das Schlechte, das negative und das Positive, das Leben fördern zu können, es aber auch zerstören zu können, das gehört zu uns. Leben und Tod, das sind zwei Pole unseres Lebens. Dazwischen spielt es sich ab. Das Böse und Tödliche ist nichts, was als eine zweite göttliche Macht, eine Art Dämon neben Gott und dem Menschen anzusehen wäre. Das Böse, das Schlechte, das Lebensfeindliche, ist durch und durch menschlich. Mit ihm müssen wir leben. Jedoch sollten wir es bändigen und zähmen. Mittels unserer guten Gaben, es bändigen durch die Fähigkeit, das Gute erkennen und uns dafür entscheiden zu können. Das, was aufbaut, suchen und umsetzen, das, was Leben fördert, auch und gerade in der Folgenabschätzung unserer Handlungen. Gott gab uns die Gabe, Lebensfeindliches zu bändigen und zu zähmen, gegebenenfalls auch uns selbst zu zähmen. Mit seiner Hilfe schaffen wir es. Gott ist bereit, uns zur Seite zu stehen. Gott hat sich nicht abgewandt. Bevor Gott die Menschen aus dem Paradies warf, hat er ihnen noch bessere Kleider, aus Fellen, gemacht, damit sie der Kälte widerstehen können.

Amen.

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