Ein Leben danach? – Geburtsschmerz und Geburtsfreude

Inmitten unserer Gräber das Geheimnis des Ostermorgens feiern

Predigttext: Johannes 16,16-23
Kirche / Ort: Heidelberg-Kirchheim
Datum: 17.04.2005
Kirchenjahr: Jubilate (3. Sonntag nach Ostern)
Autor/in: Pfarrer Dr. Vincenzo Petracca

Predigttext: Johannes 16,16-23a (Einheitsübersetzung)

Noch kurze Zeit, dann seht ihr mich nicht mehr, und wieder eine kurze Zeit, dann werdet ihr mich sehen. Da sagten einige von seinen Jüngern zueinander: Was meint er damit, wenn er zu uns sagt: Noch kurze Zeit, dann seht ihr mich nicht mehr, und wieder eine kurze Zeit, dann werdet ihr mich sehen? Und was bedeutet: Ich gehe zum Vater? Sie sagten: Was heißt das: eine kurze Zeit? Wir wissen nicht, wovon er redet. Jesus erkannte, daß sie ihn fragen wollten, und sagte zu ihnen: Ihr macht euch Gedanken darüber, daß ich euch gesagt habe: Noch kurze Zeit, dann seht ihr mich nicht mehr, und wieder eine kurze Zeit, dann werdet ihr mich sehen. Amen, amen, ich sage euch: Ihr werdet weinen und klagen, aber die Welt wird sich freuen; ihr werdet bekümmert sein, aber euer Kummer wird sich in Freude verwandeln. Wenn die Frau gebären soll, ist sie bekümmert, weil ihre Stunde da ist; aber wenn sie das Kind geboren hat, denkt sie nicht mehr an ihre Not über der Freude, daß ein Mensch zur Welt gekommen ist. So seid auch ihr jetzt bekümmert, aber ich werde euch wiedersehen; dann wird euer Herz sich freuen, und niemand nimmt euch eure Freude. An jenem Tag werdet ihr mich nichts mehr fragen.

Exegetische Impulse

Die Abgrenzung des Predigttextes (VV 16-23a) ist sinnvoll, obwohl der Vers 23 auseinandergerissen wird, da in V 23b ein anderer Themenkreis, das Beten, angeschnitten wird und V 23b durch eine deutliche Zäsur von V 23a getrennt ist („Amen, amen, ich sage euch“). V 17-19 habe ich nicht herausgenommen, da das Unverständnis der Jünger über die „kurze Zeit“ mit dem Unverständnis der Predigtgemeinde korrespondiert. Das erste „eine kurze Zeit“ (V 16a) meint den Tod Jesu. Das zweite „eine kurze Zeit“ (V 16b) ist indes nicht eindeutig. In der Regel wird es auf Ostern gedeutet. Es allein auf Ostern zu beziehen, genügt aber nicht, denn in V 23a wird Bezug auf die Parusie genommen. Zudem ist in V 22 vor allem die johanneische Lesergemeinde im Blick und von daher ist eine ausschließliche Eingrenzung auf die Situation unmittelbar nach Ostern nicht hinreichend. Das zweite „eine kurze Zeit“ (V 16b) blickt wohl zunächst auf Ostern, darüber hinaus aber auch auf die Parusie.

Literatur:

Udo Schnelle, Die Abschiedsreden im Johannesevangelium, in: ZNW 80 (1989), S. 64-79.

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Liebe Schwestern und Brüder,

Geburtsschmerz an Karfreitag

Ein rätselhafter Satz! Es war die Nacht vor seinem Tod. In seiner Abschiedsrede sagt Jesus: „Noch kurze Zeit, dann seht ihr mich nicht mehr und wieder eine kurze Zeit, dann werdet ihr mich sehen“. Ja, ein rätselhafter Satz, denn auch die Jünger sind ratlos: „Was heißt das? Wir wissen nicht, wovon er redet!“ Für die Jünger vor Karfreitag ist der Ausspruch Jesu wohl auch kaum zu verstehen.

„Noch kurze Zeit, dann seht ihr mich nicht mehr“. Wie kann man das verstehen? Jesus blickt auf seinen bevorstehenden Tod. Noch wenige Stunden, meine Freunde, dann werde ich am Kreuz sterben. Ihr werdet mich nicht mehr sehen, denn ich werde tot sein. Der Satz hat eine Fortsetzung: „Und wieder eine kurze Zeit, dann werdet ihr mich sehen“. Wie ist dies nun wieder zu verstehen?

Jesus blickt auf Ostern. Auf seine Auferstehung. Aber sein Blick bleibt nicht bei Ostern stehen. Er blickt auch noch weiter. Auf den Tag, an dem die Glaubenden nichts mehr fragen werden. Welchen Tag meint er damit? Den Tag seiner Wiederkunft. Den Tag, an dem der Auferstandene alle Toten auferweckt. Am Tag der allgemeinen Totenauferstehung wird es keine Fragen mehr geben, sondern nur noch Antworten.

Tod und Auferstehung. Jesus vergleicht sie mit einer Geburt. „Wenn die Frau gebären soll, ist sie bekümmert, weil ihre Stunde da ist“. Die Frau hat Angst vor den Wehen. So wie viele Angst haben vor der Stunde des Todes. Doch Jesus fährt fort: „Aber wenn die Frau das Kind geboren hat, denkt sie nicht mehr an ihre Not über der Freude, daß ein Mensch zur Welt gekommen ist“. Gegen den Anschein sind die Wehen die sichtbaren Vorboten des baldigen freudigen Ereignisses. Nach den Wehen kommt die Freude der Geburt, und die Geburtsschmerzen werden vergessen. Es ist seltsam, aber Freude ist ohne Schmerz nicht zu haben. Ähnlich ist es mit Gottes neuer Welt, meint Jesus: Nach der Angst und Not kommt die Freude der Neugeburt. Es lohnt sich, die heftige, aber kurze Zeit des Leidens durchzuhalten. Gott selber wird die Trauer in Freude verwandeln. Der Karfreitag ist für Jesus eine Geburt. Er ist der Beginn neuen Lebens…

Freude an Ostern

Geburtsschmerz und Geburtsfreude. Das ist das zentrale Bild des heutigen Predigttextes. Verweilen wir doch einmal etwas länger bei diesem Bild. Es gibt da ja noch eine wichtige Hauptfigur. Über diese schweigt der Predigttext. Aber, wie mag es dem Kind dabei ergehen? In diesem Prozeß von Geburtswehen und Geburtsstunde? Es gibt dazu eine schöne Geschichte. Ich möchte sie Ihnen erzählen. Und von ihr aus dann nochmals auf den Predigttext blicken. Die Geschichte stammt aus Amerika. Der Verfasser ist unbekannt. Sie handelt davon, wie ein Embryo die Geburt erlebt. Genauer gesagt, sind es zwei Embryos. Die Geschichte trägt den Titel: Leben danach?

Es geschah, daß in einem Schoß Zwillingsbrüder empfangen wurden. Die Wochen vergingen, und die Knaben wuchsen heran. In dem Maß, in dem ihr Bewußtsein wuchs, stieg ihre Freude. „Sag, ist es nicht großartig, daß wir empfangen wurden? Ist es nicht wunderbar, daß wir leben?!” Die Zwillinge begannen die Welt zu entdecken. Als sie aber die Schnur fanden, die sie mit ihrer Mutter verband und die ihnen die Nahrung gab, da sangen sie vor Freude: „Wie groß ist die Liebe unserer Mutter, daß sie ihr eigenes Leben mit uns teilt!” Als aber die Wochen vergingen und schließlich zu Monaten wurden, merkten sie plötzlich, wie sehr sie sich verändert hatten. „Was soll das heißen?” fragte der eine. „Das heißt”, antwortete der andere, „daß unser Aufenthalt in dieser Welt bald seinem Ende zugeht”. „Aber ich will gar nicht gehen”, erwiderte der eine, „ich möchte für immer hier bleiben”. „Wir haben keine andere Wahl”, entgegnete der andere, „aber vielleicht gibt es ein Leben nach der Geburt!” „Wie könnte das sein?” fragte zweifelnd der erste, „wir werden unsere Lebensschnur verlieren, und wie sollten wir ohne sie leben können? Und außerdem haben andere vor uns diesen Schoß verlassen, und niemand von ihnen ist zurückgekommen und hat uns gesagt, daß es ein Leben nach der Geburt gibt. Nein, die Geburt ist das Ende!” So fiel der eine von ihnen in tiefen Kummer und sagte: „Wenn die Empfängnis mit der Geburt endet, welchen Sinn hat denn das Leben im Schoß. Es ist sinnlos. Womöglich gibt es gar keine Mutter hinter allem”. „Aber sie muß doch existieren”, protestierte der andere, „wie sollten wir sonst hierhergekommen sein. Und wie könnten wir am Leben bleiben?” „Hast du je unsere Mutter gesehen?” fragte der eine. „Womöglich lebt sie nur in unserer Vorstellung. Wir haben sie uns erdacht, weil wir dadurch unser Leben besser verstehen können”. Und so waren die letzten Tage im Schoß der Mutter gefüllt mit vielen Fragen und großer Angst. Schließlich kam der Moment der Geburt. Als die Zwillinge ihre Welt verlassen hatten, öffneten sie ihre Augen. Sie schrieen. Was sie sahen, übertraf ihre kühnsten Träume.

„Leben danach?“ heißt die Geschichte. Sie erzählt vom Leben nach der Geburt. Zwei embryonale Zwillinge fragen sich, ob es ein Leben nach der Geburt gibt. Indes, Sie haben es sicherlich gleich bemerkt: Die Geschichte ist ein Gleichnis. Tatsächlich handelt sie über die Frage, ob es ein Leben nach dem Tod gibt. Das Gleichnis versteht die Geburt als eine Art Tod. Von daher fragt es: Gibt es ein Leben nach dem Tod? Ganz ähnlich also wie der Predigttext. Auch er setzt Tod und Geburt gleich. Auch er beschäftigt sich mit der Frage des Lebens nach dem Tod.

Doch anders als das Gleichnis bringt der Predigttext die Frage der Totenauferstehung in ein Verhältnis zur Auferstehung Jesu und zu seiner Wiederkunft: In der Auferstehung Jesu wird die allgemeine Totenauferstehung teilweise vorweggenommen. Aus diesem Grund, liebe Gemeinde, feierten wir vor drei Wochen am Ostersonntag einen Gottesdienst auf dem Friedhof. Die Auferstehung Jesu ist Hoffnung für unsere Verstorbenen. Da Jesus von den Toten auferstanden ist, ist der Tod nicht das Ende, sondern die Geburt neuen Lebens. So machte es Sinn, daß wir inmitten unserer Gräber das Geheimnis des Ostermorgens feierten. So macht es auch Sinn, daß wir nachher im Fürbittgebet der Verstorbenen dieser Woche gedenken.

Unsicherheit bis zur Wiederkunft

Leben danach. Unsere Zwillinge im Mutterbauch zweifeln. Es könnten zwei aus unserer Mitte sein. Ihre Fragen über das „Leben danach“ ähneln den Fragen und Zweifeln, die viele von uns haben: Auferstehung der Toten? Ein Leben nach dem Tod? Kann man das glauben?

Zunächst haben die Zwillinge Freude am Leben. Sie entdecken die Nabelschnur, die ihnen Nahrung gibt. Durch diese Schnur wissen sie sich mit ihrer Mutter verbunden. Die Mutter steht im Gleichnis für Gott. Der Schöpfer hat uns aus Liebe geschaffen, am Anfang wissen das die Zwillinge. Doch dann beginnt die Zeit der Angst. Sie entdecken, daß sie sich verändern. Plötzlich reicht die Nabelschnur nicht mehr. Der eine fordert andere sichtbare Beweise. Zweifel und Fragen beginnen zu quälen.

Sind es nicht auch unsere Fragen: Es läßt sich physikalisch nicht beweisen, daß Gott existiert. Niemand hat ihn je gesehen, lebt er vielleicht nur in unseren Vorstellungen und Wünschen? Gibt es Gott wirklich? Es läßt sich biologisch nicht beweisen, daß es ein Leben danach gibt. Auferstehung der Toten. Kann man das glauben? Oder besser nicht? Das Johannesevangelium, aus dem unser Predigttext stammt, kennt die Frage nach den sichtbaren Beweisen. Die Zeit, in der Jesus nicht sichtbar ist, ist eine Zeit der Unsicherheit für die Glaubenden. Des Schwankens. Des Zwiespalts. Der inneren Bedrängnis. Das Evangelium begegnet all dem mit der Verheißung: „Selig, die nicht sehen und doch glauben!“ (Joh 20,29)

Selig, die nicht sehen und doch glauben! Dieser Satz gilt für die Zeit, in der wir Jesus nicht sehen. Aber, so betont der Predigttext, es kommt der Tag, an dem wir Jesus wiedersehen werden. An diesem Tag werden wir nichts mehr fragen. An diesem Tag, werden wir keine quälenden Zweifel mehr haben. Und nichts wird uns bekümmern, sondern unser Herz wird sich freuen. Wir werden sehen. Wieder-Sehen. Der Predigttext sagt nichts Konkretes über die Umstände der Wiederkunft Jesu. Es wird nicht berichtet, wie Jesus Gerechtigkeit und Frieden für alle Zeiten aufrichten wird. Es wird nicht einmal die allgemeine Totenauferstehung berichtet. Der Text schweigt diskret. Er deutet nur ganz vage an: Ihr werdet nichts mehr fragen…

Auch unsere Geschichte über die Zwillinge sagt nichts Genaues über das Leben danach. Es wird erzählt, daß der unvermeintliche Tag der Geburt kommt. Was wird geschehen? Wir alle, die wir geboren wurden, wissen wie die Geschichte ausgehen muß: Es gibt ein Leben nach der Geburt! Und richtig. Die Zwillinge schreien bei der Geburt. Die eigene Geburt soll für einen Menschen ein furchtbarer Augenblick der Angst sein, behaupten Psychologen. Der Schrei der Zwillinge ist in der Geschichte indes kein Schrei der Angst, sondern der freudigen Überraschung. Sie öffnen die Augen und sehen: Doch was sie sehen, übertrifft ihre kühnsten Träume. Ja, so wenig wie sich ein Embryo das Leben außerhalb des Mutterbauches vorstellen kann, so wenig können wir uns die Totenauferstehung und das Leben danach vorstellen. Alles reden davon, kann nur in Bildern und Gleichnissen geschehen. Aber, wenn auch alles reden über die göttliche Welt nur Stückwerk ist, so bedeutet dies nicht, daß es diese Welt nicht gibt! Das Gleichnis will uns Mut machen: Auch wenn wir Gott nicht sehen, auch wenn niemand aus dem Jenseits zurückgekommen ist, um uns davon zu erzählen, auch wenn wir uns ein Leben danach nicht vorstellen können, dennoch gibt es diese geheimnisvolle Welt.

Auch der Predigttext will Hoffnung machen, indem er präzisiert: Der Tod Jesu an Karfreitag ist als Geburtswehen der kommenden Welt zu verstehen. Seit Ostern sind wir neugeboren, unsere Not ist in Freude verwandelt. Wir leben seitdem in Erwartung der göttlichen Welt. Und sie übertrifft unsere kühnsten Träume…

Amen.

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