Freude an Gott aus Kindermund
Beschädigtes Leben sieht neue Perspektiven
Predigttext: Matthäus 21,14-17 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
14 Und es gingen zu ihm Blinde und Lahme im Tempel, und er heilte sie. 15 Als aber die Hohenpriester und Schriftgelehrten die Wunder sahen, die er tat, und die Kinder, die im Tempel schrien: Hosianna dem Sohn Davids!, entrüsteten sie sich 16 und sprachen zu ihm: Hörst du auch, was diese sagen? Jesus antwortete ihnen: Ja! Habt ihr nie gelesen: »Aus dem Munde der Unmündigen und Säuglinge hast du dir Lob bereitet«? 17 Und er ließ sie stehen und ging zur Stadt hinaus nach Betanien und blieb dort über Nacht.Eine Szene aus dem Tempel in Jerusalem. Stellen wir uns vor, wir wären mit einem Reporter im Tempel verbunden, dann könnte es etwa so lauten: Guten Tag in die Hauptstadt Jerusalem, Matthäus, Sie haben das Geschehen an der heiligen Stätte verfolgt. Was sind Ihre Eindrücke? – Also es ist unglaublich, was sich hier abspielt. Ich befinde mich im prachtvollen Heiligtum. Bis genau auf den heutigen Tag wird hier die jahrtausendalte Tradition gehütet, es gelten die ewigen Gesetze, Hauptsache es herrscht die gewohnte Ordnung. Das heißt: Gesichtskontrolle am Tempeleingang: Zutritt nur für Gesunde und Normale mit gutem Erscheinungsbild. Und plötzlich tritt Jesus ins Rampenlicht. Ich dachte, ich trau meinen Augen nicht: Denn im gleichen Moment erstürmen Blinde und Lahme den Tempel. Bisher völlig unvorstellbar, dass gesellschaftliche Randgruppen den heiligen Boden entweihen. Ich erlebe augenblicklich eine äußerst heikle Situation, es dreht sich jetzt alles um den Wunderheiler Jesus sowie um diese Menschen zweiter Klasse, also um die mit einem Makel Versehenen. Quasi ein Skandal. Denn Jesus ignoriert erstmals ein Tabu, nämlich die bisher abgeschobene kranke Gesellschaft und – ebenso gefährlich – er boykottiert religiöse Spielregeln; und das kann eigentlich nur Ärger geben. Denn die aufmerksamen Kleriker wachen über die strikte Tempelanweisung: Betreten verboten für Blinde und Lahme.
Matthäus, fürs erste vielen Dank. Wir machen hier eine kleine Zäsur, bleiben Sie bitte in der Leitung. Wir schalten kurz zurück. Ich möchte Sie, liebe Zuhörer, fragen: Kennen Sie das, nicht mehr dabei sein zu dürfen, ausgegrenzt und abgesondert? Mir fällt der Traum einer jungen Frau ein, die im Krankenhaus liegt. Sie erzählt: “Ich wurde in einen Güterwaggon gesperrt, da war es ganz dunkel, und ich war ganz allein drin. Ich habe dann gerufen, wo ich wäre. Mir wurde gesagt: ‚Du bist auf dem Abstellgleis!’ Ich habe gebeten, mein Mann möchte mich doch besuchen, aber dann hieß es, mein Mann könnte nicht kommen. Ich sei ja auf dem Abstellgleis”. Soweit dieser Traum. Wir können uns leicht in die Situation einfühlen. Abgestellt sein, nicht mehr dazugehören, nicht mehr gebraucht werden. Das Leben geht weiter, doch ohne mich. Wie schrecklich das Bild, im finstern Güterwaggon eingesperrt zu sein. Wie in einem Gefängnis zu kauern. Die Frau schreit nach ihm, ihrem Mann, doch ihr Schrei geht ins Leere. Wie furchtbar, so abgeschoben zu sein, ausgeklammert vom pulsierenden Leben! Es kamen Blinde und Lahme zu Jesus im Tempel. Und er heilte sie, die Ausrangierten sind wieder dabei, die Gestalten zweiter Klasse sind gleichgestellt. Er heilte sie, d.h. sie erleben Licht und Sonne, frische Kraft beflügelt sie. Kurzum: beschädigtes Leben sieht neue Perspektiven! Jesu Geist verleiht guten Start in den Alltag.
Wir sind jetzt wieder mit Matthäus verbunden. Hallo Jerusalem! Was ist inzwischen passiert? – Nun, ich sehe augenblicklich die hochroten Köpfe des Klerus. Die religiöse Chef-Etage ist bestürzt, ja äußerst verärgert über die dramatische Situation. Jesus durchbricht hier sämtliche Ordnungen. Soeben hat er Stigmatisierte geheilt. Ein absolutes Novum hier im Heiligtum. Und bei diesem mirakulösen Akt strömen jetzt lauthals Kinder durch das Haupttor. Sie schreien offenbar fromme Parolen: Hosianna, Heil dem König Israels. Das ist auf Jesus gemünzt. Die kleinen, unbefangenen, krächzenden Akteure sind von seinen Wundern begeistert. Sie stimmen Jesus instinktiv zu, ahnungslos wie sie sind. Man hört sie juchzen, sie applaudieren ihm, der diese abgeschobenen, unliebsamen, lästigen Kranken rehabilitiert. Er gibt ihnen damit ihre Würde zurück, er schenkt ihnen Selbstbewusstsein. Momentan ist die Stimmung angeheizt und gereizt. Die Tempelhüter kochen vor Wut, sprechen ihn auf das Spektakel an. Und er gibt ihnen Nachhilfe in Bibelkunde: Ob sie denn Psalm 8 nicht kennen, dass nämlich aus Kindermund die Freude an Gott kommt. Gerade sehe ich, wie Jesus die konsternierten Kleriker stehen lässt und sich zum Tempelausgang begibt. Soviel für heute aus Jerusalem.
Liebe Zuhörer, ich entnehme diesem Bericht, dass Jesus auf ausgegrenzte Menschen zugeht, ihnen gut ist. Die auf dem Abstellgleis befreit er, beseelt sie mit neuem Lebensschwung. Die Kinder, die Unverdorbenen, die einfach Fühlenden, jubeln Jesus zu. Sie verstehen seine Wunder, erwärmen sich dafür. Sie haben kapiert: Gott ist nahe, wenn man Menschen aufrichtet. Gott ist nahe, wenn man Menschen befähigt, selber zu gehen. Gott ist nahe, wenn man Menschen neue Lebensorientierung vermittelt. Wenn es uns gelingt, einen einzigen zu stärken, der müde ist in seiner Verzweiflung bis zur Gelähmtheit, dann verehren wir Gott. Und wenn wir einem Hoffnung schenken, der umnachtet ist bis zur Erblindung, dann verehren wir Gott.
Kinder jubeln Jesus zu: Hosianna! Sie kannten den Hosianna-Ruf aus der Schule, es ist ein freudiger Zuruf zu Ehren Gottes. Es ist die Freude über den Wundertäter Jesu. “Wunder gibt es immer wieder, man muss sie nur sehen”, heißt es in einem Schlagertext. Wunder muss der Mensch erzählen, Wunder muss er besingen. Der Liederdichter Paul Gerhardt erinnert uns daran: “Ermuntert euch und singt mit Schall Gott unserm höchsten Gut, der seine Wunder überall und große Dinge tut”.
Wenn Sie gefragt würden: “Was ist für Sie ein Wunder?”, was würden Sie antworten? Ist es nicht der Mensch, dieses Wunderwerk? Ein wunderbares Wesen, übrigens das einzige Wesen, das nach dem Bild eines Gottes geschaffen ist. Ein Wunder der Schöpfung. Bei dem Schriftsteller Phil Bosmans hört sich das so an:
“Das Klopfen meines Herzens, hundertdreitausendmal am Tag, gratis. Es ist nicht zu glauben. Ich atme jeden Tag zwanzigtausendmal, und für die hundertsiebenunddreißig Kubikmeter Luft, die ich dazu nötig habe, wird mir keine Rechnung ausgestellt. Ich bin ein Wesen mit Millionen Gehirnzellen, die immer unter Strom stehen, und kilometerlangen Nervenbahnen. Millionen von Signalen werden blitzschnell durchgegeben vom Kopf zu den Händen und von den Augen zum Herzen, in alle Richtungen und durch alle Teile des Körpers. Alles Leben auf Erden bekommt ein festes Programm eingebaut. Nur der Mensch kann sein eigenes Lebensprogramm wählen.”
Wunder muss der Mensch besingen. Wenn es im weltbekannten “Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren” in der dritten Strophe heißt: “…der dir Gesundheit verliehen, dich freundlich geleitet”, dann hat das für mich immer ganz besondere Bedeutung. Denn ich weiß, dass es tausende von Möglichkeiten gibt, krank zu werden. Schon über Nacht kann es mich erwischen. Bisher aber ist mir Gesundheit verliehen. Ich bin davon verschont geblieben,
dass ich Schwerhörigkeit oder ein Augenleiden geerbt habe;
dass ich im Mutterleib missgebildet herangewachsen bin;
dass ein bösartiger Tumor in meinem Kopf gewachsen ist.
Gesundheit gratis. Umsonst. Ohne eigene Leistung. Ein Wunder. Wünschenswertestes Gut sämtlicher Güter unter der Sonne. “Der dir Gesundheit verliehen, dich freundlich geleitet”, mir höchstpersönlich gelten diese Verse und allen,
denen es wohlergeht,
die gutes Blut in ihren Adern haben,
die auf dem Damm sind.
Diese Verse gelten allen ohne beschädigte Bandscheibe, ohne Magen- und Darmgeschwür und ohne Herzinfarkt. Sie alle leben bevorzugt, mit Vorsprung, mit Vorteil. Verliehene Gesundheit, ein Wunder, ein unverdientes Privileg: alles ohne meine Kraft und ohne meinen Einfluss. Auf diese Weise wirkt der Gott, der Wunder tut.
Ich wünsche jedem, dass er auf Menschen mit besonderen Bedürfnissen zugeht, sie aufrichtet. Und mein Wunsch ist, dass ein jeder Gottes Wunder erfahren möchte, damit er davon erzählen und singen kann.