Gods own country
Der lange Weg Gottes mit seinem Volk – und mit uns
Predigttext: Hesekiel 34, 1-16.31 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
1 Und des Herrn Wort geschah zu mir: 2 Du Menschenkind, weissage gegen die Hirten Israels, weissage und sprich zu ihnen: So spricht Gott der Herr: Wehe den Hirten Israels, die sich selbst weiden! Sollen die Hirten nicht die Herde weiden? 3 Aber ihr esst das Fett und kleidet euch mit der Wolle und schlachtet das Gemästete, aber die Schafe wollt ihr nicht weiden. 4 Das Schwache stärkt ihr nicht, und das Kranke heilt ihr nicht, das Verwundete verbindet ihr nicht, das Verirrte holt ihr nicht zurück, und das Verlorene sucht ihr nicht; das Starke aber tretet ihr nieder mit Gewalt. 5 Und meine Schafe sind zerstreut, weil sie keinen Hirten haben, und sind allen wilden Tieren zum Fraß geworden und zerstreut. 6 Sie irren umher auf allen Bergen und auf allen hohen Hügeln und sind über das ganze Land zerstreut, und niemand ist da, der nach ihnen fragt oder auf sie achtet. 7 Darum hört, ihr Hirten, des Herrn Wort! 8 So wahr ich lebe, spricht Gott der Herr: weil meine Schafe zum Raub geworden sind und meine Herde zum Fraß für alle und meine Hirten nach meiner Herde nicht fragten, sondern die Hirten sich selbst weideten, aber meine Schafe nicht weideten, 9 darum, ihr Hirten, hört des Herrn Wort: 10 So spricht Gott der Herr: Siehe, ich will an die Hirten und will meine Herde von ihren Händen fordern; ich will ein Ende damit machen, dass sie Hirten sind, und sie sollen sich nicht mehr selbst weiden. Ich will meine Schafe erretten aus ihrem Rachen, dass sie sie nicht mehr fressen sollen. 11 Denn so spricht Gott der Herr: Siehe, ich will mich meiner Herde selbst annehmen und sie suchen. 12 Wie ein Hirte seine Schafe sucht, wenn sie von seiner Herde verirrt sind, so will ich meine Schafe suchen und will sie erretten von allen Orten, wohin sie zerstreut waren zur Zeit, als es trüb und finster war. 13 Ich will sie aus allen Völkern herausführen und aus allen Ländern sammeln und will sie in ihr Land bringen und will sie weiden auf den Bergen Israels, in den Tälern und an allen Plätzen des Landes. 14 Ich will sie auf die beste Weide führen, und auf den hohen Bergen in Israel sollen ihre Auen sein; da werden sie auf guten Auen lagern und fette Weide haben auf den Bergen Israels. 15 Ich selbst will meine Schafe weiden, und ich will sie lagern lassen, spricht Gott der Herr. 16 Ich will das Verlorene wieder suchen und das Verirrte zurückbringen und das Verwundete verbinden und das Schwache stärken und, was fett und stark ist, behüten; ich will sie weiden, wie es recht ist. 31 Ja, ihr sollt meine Herde sein, die Herde meiner Weide, und ich will euer Gott sein, spricht Gott der Herr.Exegetische (I.) und homiletische (II.) Bemerkungen zum Predigttext
I. Hes 34,1-16.31 steht innerhalb des endredaktionellen dreigliedrigen eschatologischen Schemas (vgl. auch Jeremia) am Beginn der Verheißungen für das eigene Volk: 1 – 24 Drohungen gegen Juda und Jerusalem 25 – 32 Drohungen gegen andere Völker 33 – 48 Verheißungen für das eigene Volk. Freilich entspricht die redaktionelle Gliederung nicht den drei Perioden in Hesekiels Verkündigung. Hier ist zu unterscheiden: 1. Periode (593/2-587): unbedingte Unheilsankündigung 2. Periode (586-585): bedingte Heilsankündigung 3. Periode (nach 585): unbedingte Heilsankündigung Inhaltlich gehört Kap 34 (Hirtenrede) zu den bedingten Heilsweissagungen (vgl. auch Kap. 13). Hier gilt: Wehe den Gottvergessenen („Hirten“ oder Propheten), Heil den Frommen. Das ist Hesekiels Trost für die Exulanten, deren einer auch er ist (Hes. 1,1). Der Predigttext enthält nicht die vv 17-30. Ich halte das für eine gute – auch exegetisch gerechtfertigte – Entscheidung. Denn während zuvor das Gericht über die Hirten (= die Könige in Jerusalem) und Gnade über die Herde (= das verstreute Volk) erging, wird nun gerichtet zwischen fettem und magerem Schaf und zwischen Widdern und Böcken, also zwischen Gottvergessenen und Frommen im Volk. Und nicht mehr Gott selbst wird ihr Hirte sein, sondern sein designierter Knecht und Messias (v 23). V 24 versucht das wieder einzufangen, indem „ich, der Herr, ihr Gott sein will“ und „mein Knecht David der Fürst“. Vv 17-22.23-24 gehen demnach anderen Gedanken nach. Wieweit vv 25ff wieder an v 16 anschließen, ist fraglich. Sie malen die realistische Heilshoffnung von vv 11ff fast im Sinne eines urzeit-endzeitlichen Friedens aus. Auf jeden Fall bringt v 31 eine pointierte Zusammenfassung in Gestalt der abgewandelten Bundesformel. Er gehört, wenn vielleicht auch nicht unbedingt aus exegetischen, so doch aus homiletischen Gründen in den Predigttext mit hinein, der „Gottes Selbstbestimmung zur Liebe“ (H. Spieckermann) entfaltet.Literaturhinweis:
H. Spiekermann, Gottes Liebe zu Israel, Tübingen 2004, bes. S. 197ff. II. V 31 zieht sich wie ein roter Faden durch den Predigttext. Er ist das Thema, er ist das große Versprechen Gottes, das von Anfang an galt und noch gilt, auch heute noch. Dieses Versprechen beinhaltet Gottes Treue zu seinem Volk und garantierten Landbesitz (vv 13f). Diese unbedingte Treue zu seinem Volk weckt beim Verkündiger die Frage: Wo stehen wir? Sind wir dadurch ausgeschlossen von der Kindschaft und der Herrlichkeit und den Bundesschlüssen und dem Gesetz und dem Gottesdienst und den Verheißungen (Röm 9,4)? Paulus hatte eine andere Perspektive. Wir müssen die Frage angesichts Hes 34 neu durchdenken – aus unserer Perspektive. Dabei wird erkennbar, dass schon das Alte Testament eine Brücke baut von Israel zur Welt (neben Psalm 33 auch Jes 45,22; 49,6; 60,3). So kommt, was Israel gilt, auch den Völkern zu Gute, im AT verheißen, im NT sich in der Erwählung Jesu Christi („... dies ist mein lieber Sohn...“) realisierend. So wird die alte Bundesverheißung zur Realisierung des neuen Bundes: „Ich in euch und ihr in mir“. Es ist die Spur Gottes, die zu uns führt, ohne an seinem auserwählten Volk vorüberzugehen. Das möchte ich als Prediger ohne Minderwertigkeitskomplex, aber auch ohne Überheblichkeit sagen.Zwei Liedvorschläge:
„Harre, meine Seele“ (EG 593); „Herr, deine Liebe ist wie Gras und Ufer“ ( nicht in jedem EG; z.B. Kirchentagsliederheft DEK 1981 Nr. 80).Liebe Gemeinde!
„Es grenzt schon an ein Wunder, dass das israelische Volk bis heute überlebt hat.“ Der mir das gesagt hat, ist durchaus kein wundergläubiger Mensch. Aber das grenzt für ihn schon an ein Wunder. Ich füge hinzu: Es ist ein Wunder. Wie viele Völker und Kulturen sind untergegangen im Laufe der Geschichte: die Hethiter und Sumerer, die Ostgoten und die Westgoten, die Inkas und die Komantschen. Israel hat überlebt, seit mehr als 3000 Jahren! Und das trotz vieler Verschleppungen und Verfolgungen, trotz der Enteignung des Landes und der Zerstreuung in alle Winde, trotz des Holocaust. Es ist ein Wunder.
Israel – Gods own country
Wo Wunder geschehen, da ist Gott mit im Spiel. Für mich ist er hier auch mit im Spiel. Denn er ist der große Wagenlenker der Geschichte. Und als solcher hat er aus unzählig vielen Völkern eines auserwählt und gesagt: „Du sollst mein Volk sein“. Warum er sich gerade Israel auserwählt hat und nicht das chinesische Reich, das weiß ich nicht. Das muss ich auch nicht wissen. In diesem Volk Israel jedenfalls will er hörbar, sichtbar, fühlbar nahe sein. An dieses Volk hat er sich ganz fest und feierlich gebunden: „Ich will euer Gott sein, und ihr sollt mein Volk sein“. Zu keinem anderen Volk hat er das gesagt, nur zu Israel. Und er hat es immer wieder ganz fest und feierlich wiederholt, wenn das Volk in Gefahr war oder unterzugehen drohte: „Ich will euer Gott sein, und ihr sollt mein Volk sein“ (Jeremia 7,23; 24,7; Hes. 37,27 u.ö). Israel – und sonst kein anderes Land – ist Gods own country.
Das Exil – die bittersüße Wahrheit
Genau das versucht auch der Prophet Hesekiel seinen verschleppten Landsleuten zu verkünden. Sie leben im Exil in Babylon. Ein Exil, das sie sich nicht freiwillig gewählt haben, sondern in das sie nach der Eroberung Jerusalems im Jahr 597 v.Chr. verschleppt worden sind. Sie haben keine Heimat mehr, sie haben keinen Tempel mehr; wenn sie nun noch aufgehen in dem fremden Volk, dann sind sie die gottverlassenen Stiefkinder des Universums. Hesekiel ist bei ihnen. Er ist auch einer von denen, die deportiert wurden. Und dort, in der Fremde, beruft Gott ihn zum Propheten. Er hat eine himmlische Vision und hört Gottes Stimme: „Geh hin zu den Weggeführten und sage ihnen die Wahrheit“. Und Gott legt die Wahrheit in seinen Mund, die teils bitter, teils süß ist. Von dieser teils bitteren, teils süßen Wahrheit hören wir auch im 34. Kapitel des Prophetenbuches.
(Lesung des Predigttextes)
Ihr seid meine Herde
Liebe Gemeinde! Das ist die Wahrheit: „Ja, ihr sollt meine Herde sein, … und ich will euer Gott sein, spricht Gott der Herr“. Gott steht zu seinem auserwählten Volk, und darum hat es damals auch überlebt. Und darum hat es in der Geschichte immer wieder überlebt. „Ihr sollt meine Herde sein,… und ich will euer Gott sein.“ Auch hier, abgeschnitten von euerm Land, abgeschnitten von euerm Tempel, abgeschnitten von eurer Tradition. Das ist es, was Hesekiel seinen verzweifelten Landsleuten als Wort des Herrn verkündigen darf und womit er sie stärkt. „Auch ohne Land seid ihr mein Volk, auch in der Verlorenheit bleibt ihr mein Volk.“ Weil Gott das erklärt hat und immer wieder in der Geschichte erklärt hat, darum hat Israel überlebt – als Zeichen Gottes in der Welt.
Ich werde euer Hirte sein
Auch heute noch lebt jüdischer Glaube aus dem Dreiklang von Bibel, Volk und Land. Alles ist von Gott geschenkt: Sein Volk zu sein und das Land zu besitzen, das geht auf ganz alte Verheißungen zu Zeiten Abrahams zurück; und die Thora hat Gott den Israeliten am Sinai geschenkt. – Gottes Treueversprechen kann ihnen niemand nehmen, die Hebräische Bibel auch nicht, das Land aber sehr wohl. Das ist damals geschehen. An den Wassern von Babylon sehnen sie sich zurück in ihr Land, nach einer Wieder-Vereinigung in Jerusalem. Aber Gott warnt sie durch Hesekiel vor den selbstgefälligen, egoistischen und gottvergessenen Herrschern dort – vor den Hirten, die nur selbst fett werden wollen und für die Schwachen nichts übrig haben. „Schaut nicht zurück in die Vergangenheit, die ist passé. Die Zukunft liegt vor euch, wenn ihr mir vertraut.“ Aus dem Munde Hesekiels erfahren sie, dass Gott sie wieder in ihr Land bringen wird, aber er will ihr Hirte sein, denn es ist schließlich seine Herde.
Der weite Blick Gottes – auch wir
Israel ist Gods own country. Das ist gewisslich wahr. Wenn das aber so ist, was ist dann mit uns? Sind dann wir die Stiefkinder des Universums? Nein, das sind wir nicht. Israel ist und bleibt das auserwählte Volk, gelegentlich nennt die Hebräische Bibel es sogar den Knecht oder den Sohn Gottes. Aber zugleich ist der Glaube Israels von einer ungeahnten Weite. Der Psalm 33 knüpft an den Erfahrungen Israels an: „Des Herrn Wort ist wahrhaftig, und was er zusagt, das hält er gewiss. Er liebt Gerechtigkeit und Recht“. Und dann kommt der weite Blick: „Die Erde ist voll der Güte des Herrn“ (vv 4 u. 5). In diese Güte des Herrn ist die ganze Erde mit hineingenommen; in diese Güte des Herrn sind auch wir mit hineingenommen, wenn wir ihm zu Liebe Recht und Gerechtigkeit walten lassen. Gottes Güte ist weit. „Herr, deine Liebe ist wie Gras und Ufer, wie Wind und Weite, und wie ein Zuhaus.“ In dieser Liebe dürfen auch wir zu Hause sein. Und ohne Israel etwas wegzunehmen, darf auch ich dies hören: Ich will euer Gott sein, und ihr sollt mein Volk sein.
Erwählt in Christus
Ich soll es freilich anders hören. So als hätte die Hirtenrede Hesekiels eine Fortsetzung in Christus. Als die Zeit gekommen war, hat Gott sich einen Sohn erwählt, einen einzelnen Menschen aus seinem auserwählten Volk. Und er wird sagen: „Ich bin´s“. „Ich bin der gute Hirte.“ Und er kommt auch zu seiner bedrängten Gemeinde und ist mitten unter ihr: „Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie, und sie folgen mir; und ich gebe ihnen das ewige Leben, und sie werden nimmermehr umkommen, und niemand wird sie aus meiner Hand reißen“. (Johannes 10,27.28)
„Ich will euer Gott sein, und ihr sollt mein Volk sein.“ Dieser Gott ist in Christus zu Israel und zur Welt gekommen. Er ist zur Welt gekommen, um sein Versprechen in seiner unaussprechlichen Güte zu vertiefen. Er gibt sich selbst in unser Herz hinein: „Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht“. (Johannes 15,5).
Der lange Weg Gottes – mit uns
Welch einen Weg hat Gott da mit der Menschheit zurückgelegt! Es hat einmal angefangen mit Mose. Dem war Gott in dem brennenden Dornbusch erschienen. Und auf Moses Frage, wer er sei, hat er ihm geantwortet: „Ich bin, der ich bin“. Sein Wesen blieb verhüllt. Bei den Propheten hat er seine Güte und sein Gesicht gezeigt: „Ich will euer Gott sein, und ihr sollt mein Volk sein“. Und in Christus ist er nicht nur mit uns, sondern in uns und wir in ihm. Welch ein Weg hat unser Gott da mit uns Menschen zurückgelegt. Und Christus hat verheißen, diesen Weg weiter mit uns zu gehen: „Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende“.
Amen.