Die Bibel hat siebenzig Gesichter
Jeder Mensch steht täglich in der Gefahr, das Leben zu verfehlen, auch der/die ernsthafteste Bibelkenner/in
Predigttext: Johannes 5,39-47 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
39 Ihr sucht in der Schrift, denn ihr meint, ihr habt das ewige Leben darin; und sie ist's, die von mir zeugt; 40 aber ihr wollt nicht zu mir kommen, daß ihr das Leben hättet. 41 Ich nehme nicht Ehre von Menschen; 42 aber ich kenne euch, daß ihr nicht Gottes Liebe in euch habt. 43 Ich bin gekommen in meines Vaters Namen, und ihr nehmt mich nicht an. Wenn ein anderer kommen wird in seinem eigenen Namen, den werdet ihr annehmen. 44 Wie könnt ihr glauben, die ihr Ehre voneinander annehmt, und die Ehre, die von dem alleinigen Gott ist, sucht ihr nicht? 45 Ihr sollt nicht meinen, daß ich euch vor dem Vater verklagen werde; es ist einer, der euch verklagt: Mose, auf den ihr hofft. 46 Wenn ihr Mose glaubtet, so glaubtet ihr auch mir; denn er hat von mir geschrieben. 47 Wenn ihr aber seinen Schriften nicht glaubt, wie werdet ihr meinen Worten glauben?Theologisch-homiletische Reflexion
Die Perikope Johannes 5, 39 - 47 wurde in der Geschichte der Kirche oft für antijudaistische Polemik missbraucht. Sie spiegelt historisch die Auseinandersetzung zwischen judenchristlichen Mitgliedern der jungen johanneischen Gemeinde im 1. Jahrhundert n. Chr. mit Angehörigen der jüdischen Gemeinde um das Verständnis der Bibel Israels als (messianisches) Zeugnis von Jesus (Vers 47 vergleiche Lukas 16, 31), in dessen Person das aus der Liebe Gottes (agapae tou theou, Vers 41) quellende (ewige) Leben präsent ist (zooae aioonios, Vers 39f). Der als Jesusrede stilisierte Abschnitt gehört in den Kontext einer Antwort an die jüdischen Gläubigen (5, 19 - 47), die Jesus wegen einer Heilung am Sabbat (5, 1 - 9a) und seiner besonderen Gottesbeziehung (Vers 9b – 15 + 16 – 18 + 39f + 43a) angreifen. Mit der harten auf Autorisierung und Legitimation zielenden Anklage Jesu (Vers 42 + 44) ist eine (leicht zu überhörende) Klage über die Verkennung seiner göttlichen Bestimmung - ausgerechnet durch die "Bibelkundigen" seiner Zeit - verbunden (Vers 39f + 43). Dass Jesus sie vor Gott nicht "verklagen" will (Vers 45a), möchte ich hervorheben und zu einer intensiven Bibellektüre im Horizont eines offenen christlich-jüdischen - und im umfassenderen Sinn interreligiösen - Dialogs ermutigen.Liebe Gemeinde!
„Wenn dein Kind dich morgen fragt…“, heißt die biblische Losung aus dem 5.Mosebuch (6,20) zum diesjährigen 30. Evangelischen Kirchentag in Hannover, der heute mit einem Gottesdienst ausklingt. Was geben wir unseren Kindern auf ihren Lebensweg mit? Was antworten wir ihnen auf ihre Lebensfragen, auf ihre Kindersorgen und Lebensängste? Wie geben wir ihnen unsere ganz persönlichen Lebenserfahrungen weiter und besonders unseren Glauben, unsere Religion und Kultur, so dass sie damit gestärkt und mutig in ihre Zukunft gehen können? Werden wir unseren Kindern eine Hilfe, eine Lebenshilfe sein, damit sie das Leben finden, das wahre, das „ewige“ Leben?
Es ist bedrängend zu wissen: Das Leben zu verfehlen, ist zu jeder Zeit möglich. Da ist etwas für uns zum Greifen nahe, und wir merken es nicht. Wir haben die Chance des Lebens, und wir nehmen sie nicht wahr. Darum ist es eine Herausforderung für jeden einzelnen Menschen, um das wahre Leben, den wirklichen Sinn unseres Daseins, zu ringen. Auch wissenschaftlich wird heute z.B. in Theologie, Philosophie und Psychologie verstärkt nach den Sinn – und Beziehungszusammenhängen des Lebens geforscht. Verbindliche Orientierung und eine Ethik sind gefragt, die der Bestimmung des Menschen und der ganzen Schöpfung gerecht werden.
Im Predigttext hören wir von Menschen, die in der Bibel nach dem ewigen Leben suchen. Es waren Angehörige der damaligen jüdischen Gemeinde. Die Bibel war ihnen heilig. Sie waren überzeugt, darin den Zugang zum Leben, zum ewigen Leben zu finden. Aber was ist das – “ewiges Leben”, und was wissen wir davon? Im christlichen Glaubensbekenntnis bekennen wir die “Auferstehung der Toten und das ewige Leben”. Es klingt darin die Hoffnung auf etwas Kommendes, noch Ausstehendes, an, auch eine Sehnsucht nach etwas, das bleibt und beständig ist über den Tod hinaus. Ist das mit “ewigem Leben” gemeint?
Die Bibel ist mit Aussagen und Beschreibungen über ein Leben nach dem Tod äußerst zurückhaltend. Aber es gibt Andeutungen. Im Gleichnis Jesu vom reichen Mann und dem armen Lazarus (Evangelium zum 1. Sonntag nach Trinitatis, Lukas 16, 19 – 31) erscheint die Welt nach dem Tod für den einen Menschen als ein Ort der Qual, für den anderen als Ort des Trostes. Durch ihr Verhalten im Leben, so erzählt das Gleichnis, haben sie sich ihr Leben nach dem Tod selbst geschaffen. Eine Warnung “von drüben” wird im Gleichnis abgelehnt. Abraham antwortet: Sie haben Mose und die Propheten…- d.h. die Bibel. Hören sie nicht, was in der Bibel steht, so werden sie sich auch nicht überzeugen lassen, wenn jemand von den Toten aufersteht. Auf Mose (und die Propheten) wollten sie doch gerade hören, jene jüdischen Gläubigen, von denen in unserem Abschnitt des Johannesevangeliums die Rede ist. Sie hatten einen bewundernswerten Forscherdrang. Unermüdlich suchten sie nach dem Sinn der Bibeltexte.
Sich in der Bibel auskennen, mit ihr vertraut sein – bedeutet dies, das Wesentliche im Leben zu haben? Jene, die damals in der Bibel nach etwas Verbindlichem suchten, kommen hier überraschend schlecht weg. Hart klingen die Worte, mit denen Jesus ihnen abspricht, trotz eifrigen Bibellesens auf der wahren Lebensspur zu sein. Jesus muss ihnen erklären: sie – die Schrift, die Bibel – ist es, die auf mich hinweist. Das Leben, wonach sie suchen, hat etwas mit ihm, Jesus, zu tun – ein Appell auch an uns heute!
Überraschend betont der Evangelist Johannes, wenn er vom ewigen Leben spricht, nicht das jenseitige, nach dem Tod beginnende, sondern das gegenwärtige Leben. Auffällig, wie das Wort “Leben” gleichbedeutend neben dem Wort “ewiges Leben” steht. Der Evangelist verbindet das ewige Leben mit der Person Jesu. Es ging Johannes um die Erkenntnis: Jesus steht zu den biblischen Verheißungen des ewigen Lebens nicht im Widerspruch, sondern entspricht ihnen zutiefst! Für die einen war damals diese Botschaft Grund und Stärkung ihres Glaubens angesichts vieler Einwände, ein Zeichen, dass Gott seine Verheißungen erfüllt. Für die anderen war der unerhörte Anspruch Jesu ein Stein des Anstoßes, Grund zum Zweifel und Unglauben. Der Evangelist Johannes gibt uns damit Einblick in das Ringen um das Verständnis der Bibel Israels, den ersten großen Teil unserer späteren christlichen Bibel. Juden und Christen lesen bis heute in derselben Bibel, aber beide verstehen sie anders. Es ist so geblieben, wir ringen in den Religionen um die Bedeutung und um das richtige Verständnis der Bibel, ob auf dem Kirchentag oder hier im Gottesdienst und bei anderen Gelegenheiten. Auch Jesus stellt sich der Auseinandersetzung, er wendet sich von seinen Kritikern nicht ab, sondern steht ihnen Rede und Antwort.
Der Streit damals um die Bibel wird zugleich ein Streit um Jesus. Stand in seiner Person der lang ersehnte Messias vor aller Augen? Wer ist und wer war Jesus wirklich? Diese Frage bewegte die Gemüter damals nicht weniger als heute. Anstößig, ja ärgerlich war für viele die menschlich vertraute Art, in der Jesus von Gott und seiner Beziehung zu ihm redete, sein Anspruch, in Gottes Auftrag zu handeln. Unverständlich war für andere, dass gerade Er, der im Namen Gottes kommt, es so schwer hat, aufgenommen zu werden, während andere, die sich selbst die Ehre geben, offene Türen finden. Die Worte Jesu klingen enttäuscht und wie eine Klage: Wenn ein anderer kommen wird in seinem eigenen Namen, den werdet ihr annehmen. Jesus ringt um Anerkennung seines Wirkens im Namen Gottes, um Vertrauen, um Glauben. Jesus ist die Beziehung zu uns und unsere Beziehung zu ihm wichtig. Johannes beschreibt sie als ein “zu ihm kommen”, “ihn aufnehmen”, “ihm (und seinen Worten) glauben” und in alledem nicht seine eigene, sondern “die Ehre des alleinigen Gottes suchen” – „Allein Gott in der Höh sei Ehr, heißt es in einem Lied (EG 179).
Jesus sucht auch bei uns heute die Liebe Gottes, dass sie unser Leben bestimmt. Wir haben keinen Grund, wegen Jesu ungewöhnlich harter Anklage gegen die damaligen Angehörigen jüdischen Glaubens auf unsere älteren Schwestern und Brüder herabzusehen. Ob Juden oder Christen – jeder Mensch steht täglich in der Gefahr, das Leben zu verfehlen, auch der ernsthafteste Bibelkenner. Welchen Wissens- und Lebensschatz haben wir mit der Bibel!
Die Bibel hat siebenzig, das heißt: unendlich viele Gesichter, betont eine jüdische Tradition. Das ist eine Einladung, die verschiedenen Meinungen über die Bibel ohne Polemik zu hören. So bleiben wir – Juden und Christen und alle, die das Leben suchen – offen für das darin angesagte Kommen Gottes in seinem Christus. Ist es wirklich auszuschließen (ich nehme einen Gedanken des jüdischen Theologen David Flusser auf), dass der Messias, auf den die Juden warten, sich als der erweist, auf den die Christen hoffen?
Möchten wir mit Philippus, von dem wir am Anfang des Johannesevangeliums hören, ausrufen können: “Wir haben den gefunden, von dem Mose im Gesetz und die Propheten geschrieben haben, Jesus, Josephs Sohn aus Nazareth” (Johannes 1, 45) – Jesus, das Leben, das ewige Leben, Jesus, der zur Lebendigkeit herausfordert. In ihm wendet uns der Gott Israels sein Gesicht voller Liebe und Lebenswillen zu und ruft uns auf seine Lebensspur. Diese Zuwendung dauert an, davon können wir unseren Kindern etwas weitergeben, mit ihnen gemeinsam suchen in der Gewissheit, dass diese Zuwendung trägt – hier im Leben und über dieses Leben hinaus, in alle Ewigkeit.
Amen.