Ein offenes Wort zur rechten Zeit

Die Vergangenheit klären, um Zukunft zu ermöglichen

Predigttext: 1.Mose 50,15-21
Kirche / Ort: 55288 Schornsheim
Datum: 19.06.2005
Kirchenjahr: 4. Sonntag nach Trinitatis
Autor/in: Pfarrer Kurt Rainer Klein

Predigttext: 1. Mose 50,15-21

Die Brüder Josefs aber fürchteten sich, als ihr Vater gestorben war, und sprachen: Josef könnte uns gram sein und uns alle Bosheit vergelten, die wir an ihm getan haben. Darum ließen sie ihm sagen: Dein Vater befahl vor seinem Tode und sprach: So sollt ihr zu Josef sagen: Vergib doch deinen Brüdern die Missetat und ihre Sünde, dass sie so übel an dir getan haben. Nun vergib doch diese Missetat uns, den Dienern des Gottes deines Vaters! Aber Josef weinte, als sie solches zu ihm sagten. Und seine Brüder gingen hin und fielen vor ihm nieder und sprachen: Siehe, wir sind deine Knechte. Josef aber sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Stehe ich denn an Gottes Statt? Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk. So fürchtet euch nun nicht; ich will euch und eure Kinder versorgen. Und er tröstete sie und redete freundlich mit ihnen.

Vorbemerkungen

Die Josefsnovelle beginnt mit den Träumen Josefs und endet mit der Verneigung der elf Brüder vor Josef. Damit haben sich die Träume Josefs letztendlich bewahrheitet. Dazwischen liegt eine Geschichte, die spannend und aufregend zugleich ist, weil das (gute) Ende zu keiner Zeit absehbar ist. Sie zeigt aber, dass Gott auch auf krummen Linien gerade schreibt. Obgleich der Weg des Josef verworren ist, ist Gott mit ihm und führt zum Guten, was menschlich gesehen böse beabsichtigt war. Am Ende steht die Schuld zwischen Josef und seinen Brüdern, sowie die Angst auf Seiten der Brüder und die Güte auf Seiten Josefs. Die Brüder berufen sich auf den Vater Jakob, um ihre blutsbrüderliche Verbundenheit gegen jegliche Vergeltungsabsicht Josefs zu stellen. Josef demütigt sich, nicht Gott zu sein, dem allein zukommt über Gut und Böse zu richten. Das Lebensfazit Josefs - im Rückblick betrachtet - besagt, dass die Brüder zwar böse Absichten hegten, aber Gott Josef einen "guten" Weg geführt hat. Verletzung und Versöhnung, Verbitterung und Vergebung sind für uns Menschen eine wesentliche Lebens- und Glaubensfrage. Zukunft wird nur angstfrei möglich, wenn die Vergangenheit bereinigt losgelassen wird. Die Kraft zu vergeben erwächst aus der Sicht, dass Gott es - rückblickend geschaut - gut mit mir gemeint hat. Wer schon im Blick nach vorne darauf vertraut, ist auf einem guten Weg.

Ein englisches Sprichwort zu Vergeben und Vergessen:

If you bury a dead dog, bury tail and all. (Wenn du einen toten Hund begräbst, begrabe auch den Schwanz.)

Eine Geschichte zu Frage: Was ist Glück oder Unglück?

Ein Bauer hatte sehr mageres Land zu beackern, nur einen Sohn, der ihm half, und nur ein Pferd zum Pflügen. Eines Tages lief ihm das Pferd davon. Alle Nachbarn kommen und bedauerten den Bauern ob seines Unglückes. Der Bauer blieb ruhig und sagte: "Woher wisst ihr, dass es Unglück ist?" In der nächsten Woche kam das Pferd zurück und brachte zehn Wildpferde mit. Die Nachbarn kamen wieder und gratulierten ihm zu seinem Glück. Wieder blieb der Bauer ruhig und sagte: "Woher wisst ihr, dass es Glück ist?" Eine Woche später ritt der Sohn auf einem der wilden Pferde und brach sich ein Bein. Nun hatte der Bauer keinen Sohn mehr, der ihm helfen konnte. Die Nachbarn kommen und bedauerten sein Unglück. Wieder blieb er ruhig und sagte: "Woher wisst ihr, dass es Unglück ist?" In der folgenden Woche brach ein Krieg aus, und Soldaten kamen ins Tal, um junge Männer mitzunehmen, mit Ausnahme des Bauernsohnes, der nicht mit musste, weil er sich ein Bein gebrochen hatte. (Parabel aus China)

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Es war damals, vor vielen Jahren, längst könnte es vergessen sein. – Josef war gerade siebzehn Jahre alt, der Lieblingssohn seines Vaters Jakob unter zwölf Söhnen, als er anfing Träume zu haben, in denen er die Brüder sich ihm unterwerfen und vor ihm niederfallen sieht. Er hat seine Träume erzählt, vielleicht ein wenig stolz, und die Brüder ergriff Neid und Eifersucht angesichts der Position, die Josef in den Augen seines Vaters genoss. Längst könnten diese Kindheitsträume vergessen sein. Das Leben ist nicht stehen geblieben, die Jahre sind ins Land gegangen, aus den Kindern sind stramme Männer geworden. Wenn, ja wenn nicht Eifersucht und Neid die Brüder zur Boshaftigkeit angestachelt hätte: Als sie eines Tages auf dem Feld waren und Josef – vom Vater gesandt – daherkam, ersannen sie ihn zu töten. Schließlich ändern sie ihren Entschluss, werfen ihn in eine trockene Zisterne und verkaufen ihn für zwanzig Silberstücke einer vorbeikommenden Karawane, die auf dem Weg nach Ägypten ist. Den Vater belügen sie: Josefs Kleider hätten sie blutverschmiert gefunden – sagen sie -, einem wilden Tier sei er wohl zum Opfer gefallen. – Das war diese alte Geschichte, die lange zurücklag und doch nicht vergessen schien.

Das war damals, vor vielen Jahren. Die Zeit ist nicht stehen geblieben, die Jahre sind ins Land gegangen, älter sind sie geworden und gerade haben sie den Vater zu Grabe getragen. Thomas Mann, der Schriftsteller, wagt einen Blick in die Herzen der Söhne: “Verschlossen das Haus, beseitigt der Vater – zehn blicken starr auf den Ziegel der letzten Lücke. Was ist ihnen denn? Sie blicken so fahl, diese zehn, und kauen die Lippen … Ganz offenkundig: Sie fürchten sich. Verlassen fühlen sie sich, beklemmend verlassen. Der Vater ist fort … Bis jetzt war er noch zugegen gewesen … – nun ist er vermauert. Und plötzlich entsinkt ihnen das Herz. Und plötzlich ist ihnen, als sei er ihr Schirm und Schutz gewesen, nur er – und habe gestanden, wo nun nichts und niemand mehr steht, zwischen ihnen und der Vergeltung”. Den Brüdern ist nicht wohl, jetzt wo der Vater – das Bindeglied der Familie – fehlt, und sie dastehen ohne das vermittelnde Wort, ohne die schützende Hand, ohne die beruhigende Vaterperson, bloß gestellt mit ihrer Erinnerung an ihre boshafte Tat. Was wunder, dass sie die Furcht überkommt. Eine alte Geschichte, eine unbereinigte Tat, eine offene Rechnung?!

Plötzlich holt uns die Vergangenheit wieder ein, ängstet, ja bedroht. Jahre des Vergessens mögen dazwischen liegen zwischen dem Geschehen und dem Wiedererstehen. Jahrelang kann eine alte Geschichte im Dunkeln bleiben, um dann wieder ausgegraben und ans Licht gebracht zu werden. Jahrelang kann eine alte Geschichte auch quälen und verfolgen bis in die Träume hinein und immer wieder bohren und nagen. Weil das offene Wort zur rechten Zeit ausgeblieben ist, weil der Mut gefehlt hat zu sagen, was zu sagen nötig gewesen wäre, weil die Hemmungen zu groß waren, einzugestehen anstatt zu verdrängen und totzuschweigen. Ein Wort hätte womöglich genügt und die Kette wäre gesprengt und die Sache ausgestanden gewesen.

Als die Brüder nach Ägypten kamen zum Getreidekauf in einer Zeit der Dürre, da begegneten sie Josef, der zu Macht und Ansehen gekommen war. Im Grunde hatten sich seine Träume erfüllt. Er war der geworden, der über ihnen stand und doch ihr Bruder blieb. Aber auch wenn Josef ihnen zusicherte, dass er im Herzen keinen Zorn und keine Rachegefühle hegte, blieb offensichtlich ein Wort von Seiten der Brüder zu dieser alten Geschichte aus. Weil dieses Wort ausblieb, trugen sie die Last des Gewissens weiter mit sich herum. Sie schwiegen zu damals. Sie hielten still und hofften Zeit zu gewinnen, aber damit war es nicht getan. Nun, wo der Vater nicht mehr ist, gewinnt diese alte Geschichte neu an Macht. Sie flößt den Brüdern Angst ein, sie lähmt, sie trennt auf eigentümliche Art und Weise.

Das veranlasst die Brüder zu einer diplomatischen Aktion. Anstatt dass sie selbst zu ihrem Bruder gehen, schicken sie einen Unterhändler, um Josefs Einstellung zu ihnen in Erfahrung bringen zu lassen. Dieser Vermittler bringt eine Nachricht der Brüder mit, angeblich ein Stück aus dem Testament des Vaters: “Dein Vater befahl vor seinem Tod und sprach: So sollt ihr zu Josef sagen: Vergib doch deinen Brüdern die Missetat und ihre Sünde … Vergib uns, den Dienern des Gottes deines Vaters!” Es mag etwas dran sein: Das schlechte Gewissen der Brüder unterstellt dem Josef böse Absichten. Also verschanzen sie sich hinter dem mutmaßlichen Wort des toten Vaters und verstecken sich hinter dem Versuch, den gemeinsamen Gott zu beschwören. Alles aus ihrer Angst heraus, jetzt könnte ihnen Rache widerfahren, jetzt könnte der Zeitpunkt der Abrechnung gekommen sein. Tun sie es nur aus Angst oder auch, weil ihnen weh tut, was sie Josef angetan haben? Was sind die wahren Motive ihres Handelns?

Ganz gleich, welche Motive sie bewegen … Durch Josefs Reaktion jedenfalls fällt ihnen ein Stein vom Herzen! Was tut Josef? Er weint, wird schwach und zeigt seine Gefühle ohne falsche Scham. Der Mächtige verzichtet, seine Macht zu demonstrieren und abzurechnen. Er begeht die Brücke der Versöhnung, die die Trennung und den Abgrund der Verfehlung überwindet. Er findet Worte gegen die Angst der Brüder: “Fürchtet euch nicht!” Damit stellt er sich mit seinen Brüdern auf eine Stufe anstatt über sie zu herrschen. Er erkennt, dass er auch nur ein Mensch ist, der sein Leben verfehlen und das Leben anderen schwer machen kann. “Stehe ich denn an Gottes Statt?” Diese Frage macht deutlich, wo seine Grenzen liegen, dass er sie sieht und keiner Selbstüberschätzung zum Opfer fällt. Nein, Josef bleibt der Bruder seiner Brüder.

Die alte Geschichte von damals, jahrelang haben die Brüder sie mitgeschleppt. Längst hätte sie vergessen sein können und nicht nur das, sondern auch bereinigt und vergeben. Nach vielen Jahren nun kommt es zum Happy-End. Die Brüder benennen ihre Verfehlung vor dem Bruder, und Josef entlastet sie: “Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen”. Die Brüder erniedrigen sich, der Bruder demütigt sich. So finden sie zusammen im Namen des gemeinsamen Gottes, vor dem sie stehen, der aus krummen Wegen noch gerade Linien macht, der dem Glaubenden alles zum Besten wendet. Ach, diese alte Geschichte, sie beschäftigt uns noch, da hat Gott längst vergeben und aus dem Bösen Gutes werden lassen. Und weil Gott vergibt, längst bevor wir daran denken, können wir getrost zustimmen, so wie Josef es tut.

Vielleicht haben wir schon ähnliche Erfahrungen gemacht?! Und sind in den Strudel eines Konfliktes geraten, der uns gegeneinander aufgebracht hat. Es ist möglich, dass wir auf der Seite der “Brüder” standen, die aufgebracht durch Neid und Eifersucht ihrer Boshaftigkeit freien Lauf ließen, um sich dann jahrelang mit dieser alten Geschichte zu quälen. Oder standen wir auf der Seite des “Josefs”, erlitten Unrecht, und Gott ließ unsere Rachegefühle verstummen, weil er unserem Leben doch den richtigen Lauf und seinen Sinn gab. Es mag sein, dass das verstummte Gespräch, der abgebrochene Kontakt, irgendwann wieder in Gang gekommen ist, aber ohne die alte Geschichte zu bereinigen, ohne sie zur Sprache kommen zu lassen.

“Ich habe vergeben, aber vergessen kann ich nicht!” So hört man es oft. Das mag der Standpunkt des Stolzes, der Verbitterung und Verhärtung sein, auf jeden Fall ist es der Standort vor der Versöhnung. Vergeben, aber nicht vergessen – so wird die ungeklärte Vergangenheit weiter mitgeschleppt, die alte Geschichte steht immer zur Aufwärmung, zur Neuauflage bereit. Wer sagt, er hat vergeben, aber nicht vergessen, ist auf halbem Weg stehen geblieben. Die Versöhnung steht noch aus. Dieses zweiseitige Geschehen, die Vergangenheit zu klären, um gemeinsame Zukunft zu ermöglichen, wie das geht und was das heißt – die Geschichte von “Josef und seinen Brüdern” macht’s uns überdeutlich.

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