Wo bleibst du?
Jesus ruft auch noch heute: Kommt, und ihr werdet sehen
Dem zukünftigen Prälaten von Südbaden, meinem derzeitigen Kollegen in Heidelberg, Pfarrer Dr. Hans Pfisterer, in großer Mitfreude über seine Wahl und mit ganz herzlichen Segenswünschen
Predigttext: Johannes 1,35-42 (Übersetzung: Elberfelder, revidierte Fassung 1993)
35 Am folgenden Tag stand Johannes wieder da und zwei von seinen Jüngern; 36 und hinblickend auf Jesus, der umherging, spricht er: Siehe, das Lamm Gottes! 37 Und es hörten ihn die zwei Jünger reden und folgten Jesus nach. 38 Jesus aber wandte sich um und sah sie nachfolgen und spricht zu ihnen: Was sucht ihr? Sie aber sagten zu ihm: Rabbi - was übersetzt heißt: Lehrer - wo hältst du dich auf? 39 Er spricht zu ihnen: Kommt, und ihr werdet sehen! Sie kamen nun und sahen, wo er sich aufhielt, und blieben jenen Tag bei ihm. Es war um die zehnte Stunde. 40 Andreas, der Bruder des Simon Petrus, war einer von den zweien, die es von Johannes gehört hatten und ihm nachgefolgt waren. 41 Dieser findet zuerst seinen eigenen Bruder Simon und spricht zu ihm: Wir haben den Messias gefunden - was übersetzt ist: Christus. 42 Und er führte ihn zu Jesus. Jesus blickte ihn an und sprach: Du bist Simon, der Sohn des Johannes; du wirst Kephas heißen - was übersetzt wird: Stein. 43 Am folgenden Tag wollte er nach Galiläa aufbrechen, und er findet Philippus; und Jesus spricht zu ihm: Folge mir nach! 44 Philippus aber war von Betsaida, aus der Stadt des Andreas und Petrus. 45 Philippus findet den Nathanael und spricht zu ihm: Wir haben den gefunden, von dem Mose in dem Gesetz geschrieben und die Propheten, Jesus, den Sohn des Josef, von Nazareth.Vorbemerkung
Die Predigt halte ich zum Konfirmationsjubiläum. Bis heute zögerte ich, ob ich mich im Hinblick auf den besonderen Kasus für den traditionellen Perikopentext entscheide oder ob ich einen anderen Bibeltext auswähle, vielleicht auch eine Themapredigt ausarbeite. Ich landete (wie so oft) bei der Perikope, die mich vom unentwegten Suchen nach etwas "Geeigneterem" entlastet. Gott sei Dank. Exegetische Fragen nach dem Verhältnis zwischen Jesus und Johannes, ob Jesus vielleicht schon in jüngeren Jahren, als bisher angenommen, (zeitweise) zu den Johannesjüngern gehörte, lasse ich beiseite. Dennoch empfehle ich, das spannende Kapitel „Jesus und Johannes der Täufer“ von Ludger Schenke zu lesen (in: Ludger Schenke u.a., Jesus von Nazareth – Spuren und Konturen, Stuttgart 2004, S. 84-105). Ich gehe auch nicht auf das Problem der Jüngerreihe und ihrer besonderen Zählfolge im vierten Evangelium ein - es tut Simon Kephas/Petrus bestimmt gut, nicht immer als Primus genannt zu werden. Und ich vernachlässige schließlich die Auseinandersetzung mit den verschiedenen Messias/Christusvorstellungen, will aber den Ausruf des Johannes - Siehe, das Lamm Gottes! - bedenken (V.36), der den Messias (V.41 vgl. V.45) deutlich soteriologisch qualifiziert, als den Leidenden, den Duldenden, den um des Lebens der Menschen willen, dass sie es „in Überfluss haben“ (Johannes 10,10, Elberfelder Übersetzung), Sich-Aufopfernden. Die Predigtvorbereitung hat mich in die Bewegung/Dynamik des Bibeltextes überraschend hineingenommen, die durch Johannes den Täufer angestoßen und durch Jesus, den Sohn des Josef, von Nazareth, in Schwung gebracht wird. Ich will verweilen bei der Frage Jesu: Was sucht Ihr? Und bei der Frage der beiden Johannesjünger: Rabbi, wo hältst du dich auf (wörtlich im griechischen Urtext: Wo bleibst du)? Schließlich bei dem Ruf Jesu: Kommt, und ihr werdet sehen!Liebe Gemeinde!
Was für eine Begegnung heute, besonders für Sie, liebe Jubilarinnen und Jubilare. Schön, einander wiederzusehen. Erinnerungen – schöne und weniger schöne – an die gemeinsame Schul- und Konfirmandenzeit werden wach. Nicht alle, die zu den Jubiläumsjahrgängen gehören, sind heute versammelt. Einige sind verstorben, andere können aus gesundheitlichen oder terminlichen Gründen nicht kommen. Wir denken an sie alle.
I.
Was hat Sie, liebe Jubilarinnen und Jubilare dazu bewegt, am Konfirmationsjubiläum teilzunehmen? Die Antwort fällt Ihnen bestimmt nicht schwer: Die Schulkameradinnen und Schulkameraden wieder zu sehen, miteinander ins Gespräch zu kommen, sich auszutauschen, Anteil zu nehmen an Freude und Leid, wovon jede und jeder berichten kann. Und nicht zuletzt um zu fragen: Wo wohnst Du, wie oft bist Du schon umgezogen, fühlst Du Dich an Deinem Wohnort so richtig zu Hause?
Die Frage nach unserem Zuhause können wir auch im übertragenen Sinn verstehen/ist transparent auch für ein übertragenes Verständnis: als die Frage nach dem, wonach jeder einzelne Mensch strebt, was ihn erfüllt, ihm Zufriedenheit, Geborgenheit und das Gefühl eines sinnvollen Lebens gibt. Vielleicht können wir einander heute sagen, wie es uns bisher auf den Wegen durch das Leben erging, was uns gut tat und was sich schwer auf unsere Seele legte. Was habe ich in meinem Leben gesucht und was habe ich gefunden? Was hatte oder habe ich an meiner Familie, meinem Freundes-und Bekanntenkreis? Welche Lebenserfahrungen und welches „Lebenswissen“ möchte ich bewahren und an meine Kinder und Enkelkinder weitergeben?
Was für eine Begegnung heute, welche Chance bietet dieser Festtag. Welche Überraschungen wird er uns bringen, die uns vielleicht freuen und uns auf unserem Lebensweg stärken. Ich wünsche Ihnen heute, liebe Jubilarinnen und Jubilare, liebe Angehörigen und liebe Gemeinde, gute Begegnungen, dass Sie am Ende dieses Festes sagen können: Es war ein guter Tag.
II.
Damit wären wir nahe bei der Erfahrung der ersten Jünger Jesu (Andreas, sein Bruder Simon/Petrus, Philippus und Nathanael), von welcher der Evangelist Johannes berichtet. Hören wir aus dem 1.Kapitel des Evangeliums nach Johannes die Verse 35 bis 42.
(Lesung des Predigttextes)
Vergegenwärtigen wir uns kurz die Szene: Johannes der Täufer kommt in Begleitung zweier seiner Jünger zum wiederholten Male zu Jesus. Er sieht ihn umhergehen und ruft aus: „Siehe, das Lamm Gottes“. Es waren aber nicht diese Johannesworte, sondern die Worte Jesu, welche die beiden Johannesjünger dazu bewegten, Jesus nachzufolgen, ihm hinterherzugehen. Wir erfahren im Bibeltext nichts Näheres über die Worte, die Jesus aussprach. Aber wir können ahnen, dass es Worte waren, die es für sie hell werden ließ und in ihnen ein großes Verlangen weckten, diesem Wanderprediger zu folgen, den Rabbi kennenzulernen und seiner Lehre zu lauschen. Vielleicht hatten ihnen seine Worte etwas von der Bedeutung jenes Ausrufes aus dem Mund ihres geistlichen Lehrers Johannes aufgeschlossen – „Siehe, das Lamm Gottes“. Das Bild vom Lamm, das Johannes auf Jesus überträgt, kann uns heute helfen, „einzustecken“, wenn andere „austeilen“, zu ertragen und zu tragen. An einer anderen Stelle des Johannesevangeliums stehen Worte, die Jesus damals bei der hier beschriebenen Situation so oder ähnlich gesprochen haben könnte, als er den sich um ihn Versammelnden erklärte, worin er seinen Auftrag sah und wozu er sich von Gott berufen wusste: Ich bin gekommen, damit sie Leben haben und (es in) Überfluss haben (Johannes 10, 10, Übersetzung Elberfelder). Der Zusammenhang verdeutlicht: Jesus ist nicht gekommen, um uns etwas wegzunehmen, Leben zu mindern oder es uns wie ein Dieb zu stehlen, sondern um uns die Augen für die Fülle des Lebens zu öffnen und solches Leben uns zu schenken.
Dass Jesus nicht einfach „Mitläufer“ wollte, erkennen wir an seiner Reaktion, als der die beiden Jünger sah: „Was sucht ihr?“, fragte er sie. Damit spricht sie Jesus auf ihre ganz persönlichen Lebensfragen an, auf das, was sie bewegt und umtreibt, auf ihre Wünsche, Sorgen und Hoffnungen. Und Jesus nimmt sie mit seiner Frage an sie ernst. Er sucht in ihnen nicht blinden Gehorsam, sondern eigenständige Persönlichkeiten, die ihren eigen Weg gehen, suchen und finden werden. Genug, wenn Jesus in ihnen die Sehnsucht nach einem Leben geweckt hat, das mehr ist, als unsere Augen sehen.
III.
Ist Ihnen aufgefallen, dass die Jünger auf die Frage Jesu, was sie suchten, nicht direkt antworten (etwa: Wir sind auf der Suche nach einem spirituellen Leben, nach dem, was unserer Seele Halt gibt), sondern eher indirekt mit einer Frage: „Rabbi, wo hältst du dich auf“ (Martin Luther übersetzte: „Rabbi, wo ist deine Herberge?“). Ich verstehe ihre Frage so: Es geht ihnen nicht um irgendeine Ideologie, sondern um „Lebenspraxis“, darum interessiert sie es so brennend, wo und wie dieser Lehrer lebt, von dem eine solche Anziehungskraft auf sie ausgeht.
Jesus überfällt sie nicht mit Belehrungen, sondern lässt sie an seinem Lebensalltag teilhaben, er macht kein Geheimnis aus seiner Lebensweise, lässt sich gleichsam „in die Karten schauen“. So können die Suchenden sehen, wahrnehmen, sich anregen und bewegen lassen, können sich mit dem Rabbi auseinandersetzen, sich für oder gegen ihn entscheiden, für oder gegen seine Lehre, sein „Lebenswissen“ und „Gotteswissen“. „Es war um die zehnte Stunde“, als sie am Aufenthaltsort Jesu waren, so hören wir. Das war die Zeit etwa zwei bis drei Stunden vor Sonnenuntergang. Den Abend versteht man im Orient bis heute als der Beginn eines neuen Tages. Welch eine Symbolik für jene beiden Jünger!
Vielleicht haben die beiden schon auf dem Weg mit ihm gesehen, wo sein eigentliches Zuhause ist: bei dem Menschen, der in einer schwierigen Lebenssituation Hilfe braucht, bei dem Kranken, den die Unruhe quält, bei dem Sterbenden, der Angst hat, ins Nichts zu versinken, bei dem Traurigen, dem auf einmal der Boden unter den Füßen weggezogen scheint. Dort baut Gott sein Haus. In Jesus von Nazareth, dem Sohn des Josef, hat Gott uns sein Gesicht zugewandt und uns seine Gesinnung gezeigt: Hilfesuchende dürfen nicht im Stich gelassen werden, sie brauchen Begleitung, Kranke dürfen nicht aufgegeben werden, sie brauchen unseren Besuch, Sterbende dürfen nicht sich selbst überlassen bleiben, sie brauchen eine Hand, die sie hält, Traurige dürfen nicht gemieden werden, sie brauchen ein Gegenüber, das sie auffängt. An vielen Baustellen braucht es noch Mitarbeitende, damit die vielen menschenfeindlichen Erdenhäuser zu Gotteshäusern werden.
Gott baut sein Haus aber auch da, wo die Freude, Lebensfreude, ist. Oft ist in den biblischen Jesusgeschichten von Festen die Rede, an denen Jesus teilnahm (denken wir z.B. an die Hochzeit von Kana). Jesus hat mitgefeiert, mitgegessen und getrunken, er war kein Spielverderber und hat bestimmt zur Fröhlichkeit beigetragen, vielleicht hat er dadurch sogar Kraft bekommen, um seine Arbeit, sein Mission, zu erfüllen. So sind wir an diesem Festtag mit ihm in guter Gesellschaft, an seinem Tisch beim Heiligen Abendmahl und nach dem Gottesdienst im Gemeindehaus beim Mittagsbüffet und weiteren Festprogramm.
Jesus ruft auch noch heute: Kommt, und ihr werdet sehen. Wer seinen Ruf hört, hat in ihm den Messias, den Christus, gefunden, den Gott in die Welt gesandt hat, damit wir durch ihn Leben haben und (es in) Überfluss haben. Heiliges Leben. Es ist für alle da. Nehmen wir einander wie Andreas seinen Bruder Simon an die Hand. Alle sollen die Chance haben, es zu finden, dafür setzte sich Jesus mit unendlicher Geduld und Liebe ein. „Siehe, das Lamm Gottes“ – „Kommt, und ihr werdet sehen“.
Amen.