Wir haben die Trümmer des Tempels nicht als Beutestücke
Heilsraum für alle Völker - Wider eine Vereinnahmung des Judentums durch das Christentum
Zum Israelsonntag – eine Vorbemerkung der Redaktion
Der 10.Sonntag nach Trinitatis ist in der evangelischen Kirche dem Israelgedenken gewidmet (vgl. den Tag des jüdischen Gedenkens – 9.Av, der in diesem Jahr auf den 14.August fällt – an die Zerstörung des Ersten Tempels 589 v.Chr., des Zweiten Tempels 70 n.Chr. und des Endes des gescheiterten Bar Kochba-Aufstandes 135 n.Chr.). Eine triumphale Haltung der Kirche gegenüber der Synagoge, als sei die Kirche „das neue Israel“ geworden, ist seit dem Synodalbeschluss der Rheinischen Kirche vom 11.01.1980 „Zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden“ Gott sei Dank nicht mehr möglich: „Wir glauben die bleibende Erwählung des jüdischen Volkes als Gottes Volk und erkennen, dass die Kirche durch Jesus Christus in den Bund Gottes mit seinem Volk hineingenommen ist“. Diese Erklärung und die in anderen Landeskirchen folgenden, welche die bleibende Treue Gottes zu seinem Volk neu und entschieden ins Bewusstsein heben, finden seit 1999 (Gottesdienstbuch für die EKU und VELKD) in den neuen Perikopentexten zum Israelsonntag Ausdruck. Für den diesjährigen 10.Sonntag nach Trinitatis ist Exodus 19,1-6 (Perikopenreihe III, statt Johannes 2,13-22) als Predigttext vorgesehen (vgl. Perikopenreihe I: Markus 12,28-34, II: Römer 9,1-8.14-16, IV: Jesaja 62,6-12; Sirach 36,13-19, V: Johannes 4,19-26, VI: Römer 11,25-32). Wenn das Heidelberger Predigt-Forum zum Israelsonntag dennoch neben Exodus 19,1-6 auch eine Predigtausarbeitung zu dem traditionellen Predigttext Johannes 2,13-22 (vgl. den ebenfalls traditionellen Perikopentext der 3.Reihe: 2.Könige 25,8-12) veröffentlicht, soll gezeigt werden, dass mit diesem Text eine Predigt, die das Bekenntnis zu der oben erwähnten bleibenden Treue Gottes zu seinem Volk Israel bewahrt, durchaus möglich ist. Eine „emphatische und im gesamtbiblischen Horizont sich vollziehende Interpretation des Bibeltextes“ (Heinz Janssen) wird nicht dem jahrhundertelangen, schwerwiegenden und wirkungsgeschichtlich verheerenden Irrtum verfallen, der die Kirche als „neues Gottesvolk“ an die Stelle des („alten“) Gottesvolkes Israel setzte. Günter Scholz in seiner Predigt zu Johannes 2,13-22: „Wir haben die Trümmer des Tempels nicht als Beutestücke, …sondern sie gehören dem Einen, der Neues daraus macht“. (Zum Israelsonntag vgl.: Gottesdienst Praxis, Serie A, III.Perikopenreihe, Bd. 3, hg. v. Erhard Domay, Gütersloh 2005, S.122f.) Heinz Janssen redaktion@predigtforum.dePredigttext: Johannes 2,13-22 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
13 Und das Passafest der Juden war nahe, und Jesus zog hinauf nach Jerusalem. 14 Und er fand im Tempel die Händler, die Rinder, Schafe und Tauben verkauften, und die Wechsler, die da saßen. 15 Und er machte eine Geißel aus Stricken und trieb sie alle zum Tempel hinaus samt den Schafen und Rindern und schüttete den Wechslern das Geld aus und stieß die Tische um 16 und sprach zu denen, die die Tauben verkauften: Tragt das weg und macht nicht meines Vaters Haus zum Kaufhaus! 17 Seine Jünger aber dachten daran, dass geschrieben steht (Psalm 69,10): »Der Eifer um dein Haus wird mich fressen.« 18 Da fingen die Juden an und sprachen zu ihm: Was zeigst du uns für ein Zeichen, dass du dies tun darfst? 19 Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Brecht diesen Tempel ab, und in drei Tagen will ich ihn aufrichten. 20 Da sprachen die Juden: Dieser Tempel ist in sechsundvierzig Jahren erbaut worden, und du willst ihn in drei Tagen aufrichten? 21 Er aber redete von dem Tempel seines Leibes. 22 Als er nun auferstanden war von den Toten, dachten seine Jünger daran, dass er dies gesagt hatte, und glaubten der Schrift und dem Wort, das Jesus gesagt hatte.Exegetische und homiletische Bemerkungen
Exegetische Bemerkungen
Die Tempelreinigung gehört zum Erzählgut aller vier Evangelisten. Johannes unterscheidet sich jedoch signifikant im Deutewort Jesu. Bei den drei Synoptikern müssen sich die Händler im Tempel den schweren Vorwurf gefallen lassen: „`Mein Haus soll ein Bethaus heißen (für alle Völker)`, ihr aber habt eine Räuberhöhle daraus gemacht“ (Mk 11,17parr.). Was die Hohenpriester und Schriftgelehrten hören und worauf hin sie ihm einmal mehr nach dem Leben trachten. D.h.: Jesu Tempelkritik wird ein entscheidender Anstoß für seinen Tod (bei Matthäus nicht so deutlich, möglicherweise weil er die Passion stärker als andere an den Schriftbeweis knüpft). Bei Johannes fehlt das Scheltwort Jesu. Der Tempelreinigung folgt ein Jesuswort, das diese eindeutig als „Zeichen“ (v 18) im johanneischen Sinn apostrophiert: „Brecht diesen Tempel ab, und in drei Tagen will ich ihn aufrichten“ (v 19). Was die Juden – wiederum typisch johanneisch – missverstehen und was Johannes zu erklären sich bemüßigt fühlt: „Er aber redete vom Tempel seines Leibes“ (v 21). D.h. Tempelreinigung und Deutewort werden bei Johannes zum Symbol für Jesu Tod und Auferstehung. Damit werden die Gewichte verschoben. Johannes geht es nicht um harsche Tempel- und Händlerkritik und um den dadurch beschleunigten Weg in den Tod, der Tempel ist für Jesus nicht mehr Objekt, sondern er wandelt sich zum Subjekt: „Ich bin der Tempel“, freilich nicht ohne Erinnerung daran, dass der Eifer um sein Haus ihn fressen werde ( v 17). Aber dieses Gefressen-Werden ist Durchgang auf dem Weg zum Aufgerichtet-Werden (v 19). Der Ausblick auf die Wiederaufrichtung des Tempels seines Leibes ist Ziel der johanneischen Perikope. Das Wort von der Tempelzerstörung wird auch bei den Synoptikern überliefert, einmal indirekt im Zusammenhang mit dem Prozess Jesu (Mk 14,58/Mt 26,61), zum anderen als Spott der am Kreuz Vorübergehenden (Mk 15,29f/Mt 27,29f), beide Male jedoch die Todesmelodie begleitend. Umso mehr hebt sich die johanneische Intention des Tempelwortes davon ab. Bestätigt wird diese Analyse durch die Zeichen, die Jesus jeweils im Kontext der Tempelreinigung tut: die Verfluchung des Feigenbaums bei Markus (und Matthäus), ein Zeichen, das letztlich Israel trifft und das, sollte es verstanden werden, nicht ohne Folgen für Jesus bleiben kann; das Weinwunder zu Kana bei Johannes als Zeichen der angebrochenen Heilszeit. Der Hinweis auf Abbruch und Wiederaufrichtung des „Tempels“ geschieht während des ersten von vier Jerusalem-Aufenthalten. Diese Szene ist zwar nicht frei von Missverständnissen, aber frei von einem Festnahme- oder gar Tötungsversuch. Bei den drei folgenden Jerusalem-Aufenthalten (7,10ff; 10,22ff; 12,12ff) ist das anders. Dort läutet die Passionsglocke deutlich. Dass das hier nicht der Fall ist, unterstreicht die Aussage, dass in Christus ein neuer Heilsraum für alle eröffnet ist.Homiletische Bemerkungen
Die johanneische Profilierung der Perikope entlastet mich von der Bürde, gerade am Israel-Sonntag von der Kritik Jesu am Tempelmissbrauch reden zu müssen. Diese gäbe zwar Anlass, den Semper-Reformanda-Gedanken aufzugreifen, aber eher ein reformatorisches als ein christlich-jüdisches Anliegen. Ich lege den Schwerpunkt meiner Predigt also genau dahin, woraufhin auch die johanneische Preikope zielt, auf die Eröffnung eines neuen Heilsraums für alle Völker in Christus. Dabei möchte ich der Gefahr und dem Missverständnis einer siegreichen Vereinnahmung des Judentums durch das Christentum, so wie es die Darstellung von „Kirche“ und „Synagoge“ am Straßburger Münster nahe legt, entgehen. Um nicht in derartige Frontstellungen zu geraten, hilft mir ein anderes Bild, das ich von einem Gang über einen Friedhof in Florenz mitgebracht habe: ein Grabmal, das einen kaputten Tempel darstellt, aus dem sich ein Kreuz erhebt, das Ganze als behauener Stein stilisiert. Es ist ohne Frage ein Symbol. Als solches ist es vieldeutig. Als Grabmal steht es für Tod und Auferstehung, für zerbrochene Hoffnungen und einer neuen Lebensbewältigung im Glauben. Im Zusammenhang mit der Perikope gewinnt es für mich einen weiteren Sinn: Es ist viel kaputt gegangen im Verhältnis zwischen Christen und Juden, mehr als nur der Tempel, und doch hat Gott aus den Trümmern etwas erwachsen lassen, was Hoffnung bringt für die ganze Welt. Warum es nicht ohne Trümmer ging, diese Frage ist weder historisch noch theologisch beantwortbar.Liebe Gemeinde!
„Als er nun auferstanden war von den Toten“, da gab es den Tempel noch in Jerusalem, den Tempel, der eine zentrale Rolle spielte und eine überragende Bedeutung hatte für alle gläubigen Juden. „Als er nun auferstanden war von den Toten“, da gab es den Tempel noch, aus dem er alle Viehhändler und Börsenmakler auf radikale Weise vertrieben hatte.
60 Jahre danach
Als aber ca. 60 Jahre später Johannes sein Evangelium schrieb, da gab es ihn nicht mehr, den Tempel; die Römer hatten ihn bei der Niederschlagung eines jüdischen Aufstandes in Brand gesteckt und zerstört. Übrig blieb nur eine Mauer, die wir heute als die Klagemauer kennen. Das Judentum war im Herz getroffen. Was ihnen blieb, waren von nun an nur noch die Gottesdienste in ihren Synagogen.
Der Evangelist Johannes lässt Jesus ein Zeichen tun: Jesus stürzt alles um. Aber es ist bereits alles umgestürzt zur Zeit des Johannes. Der Evangelist Johannes lässt Jesus etwas prophezeien, was längst eingetroffen ist: der Tempel in Trümmern. „Das Alte ist vergangen; siehe, Neues ist geworden“, diese Melodie höre ich zwischen den Zeilen heraus. Das Alte ist vergangen, ja: der Tempel ist nicht mehr. Aber was ist das Neue? Der Evangelist Johannes sagt auch das sehr deutlich: Jesus Christus ist nun das Licht der Welt. Nicht mehr leuchtet der Tempel vom Berge herab. Jesus Christus ist der Weg, die Wahrheit und das Leben. Wer in ihm bleibt, der wird viel Frucht bringen und den Vater sehen.
Christus contra Tempel, Christentum contra Judentum?
Christus contra Tempel, Christentum contra Judentum, soll das nun das Thema sein am heutigen Sonntag, dem 10. Sonntag nach Trinitatis, der auch Israel-Sonntag heißt? Christentum contra Judentum – das kann nicht das Thema sein – weder heute noch zu irgendeiner Zeit. Nicht allein wegen der schrecklichen Vorkommnisse der jüngsten Vergangenheit, sondern auch schon deswegen nicht, weil wir Christen als wilder Zweig eingepfropft sind in den edlen Ölbaum, wie Paulus sagt, und dadurch teilhaben an der Kraft der Verheißungen Gottes, die die Wurzel aus dem Boden zieht.
Ach, könnte ich doch dabei bleiben, bei diesem schönen Bild: die gemeinsame Wurzel von Christentum und Judentum, wir ein Zweig von Gottes Gnaden an diesem edlen Baum, ernährt von der Wurzel, getragen vom Stamm. Doch das ist heute nicht mein Bild. Heute werde ich durch ein anders Bild herausgefordert: Tempel dahin – macht nichts! Christus ist ja da. Nach allem, was geschehen ist, und nachdem wir – nicht zuletzt auch durch Paulus – gelernt haben, Respekt voreinander zu haben, ein schwer verdaulicher Brocken.
Das Grabmal von Florenz
Mir hilft ein sehr eigenwillig gestaltetes Grabmal, mich an den Text anzunähern. Ich habe es auf einem Friedhof in Florenz entdeckt. Auf dem Sockel liegen kreuz und quer umgestürzte Säulen und Teile eines kaputten Tempeldaches. Das Alte trägt nicht mehr, das Alte ist zusammengefallen. Aus den Trümmern erhebt sich, gleichsam daraus erwachsend, aus demselben Material ein deutlich sichtbares Zeichen, das Kreuz. Das Neue hat Form und Gestalt angenommen. Darf man – auch im Sinne des Evangelisten Johannes sagen: Nicht das Unheil durchzieht als bleibende Spur diese Welt, sondern das Heil – es ist auch an dem Ort, wo einst der Tempel stand?
Ich möchte noch ein wenig bei diesem etwas außergewöhnlichen Grabmal stehen bleiben. Wenn ich die Bibel bebildern dürfte, ich würde es der Tempelreinigung, wie Johannes sie schildert, zuordnen. Denn es macht ohne Beschönigungen die Fakten klar: Der Tempel ist dahin. Jesus hat ihn, obwohl er mehrfach im Tempel lehrte, aber anders als die Schriftgelehrten, von innen heraus erschüttert; die Römer haben ihn dann geschliffen. Ich kenne kein Zeugnis, dass Christen darüber besonders traurig gewesen wären, wohl aber darüber, dass sie wenig später als zu verfolgende Sekte aus dem jüdischen Synagogenverband ausgeschlossen wurden. Es kam offenbar zu blutigen Verfolgungen – das Johannesevangelium deutet Abgründe an. Er lässt Jesus ankündigen: „Es kommt … die Zeit, dass, wer euch tötet, meinen wird, er tue Gott einen Dienst damit“.
Christenverfolgungen durch Juden, später Judenverfolgungen durch Christen: Es ist viel kaputt gegangen, nicht nur der Tempel; aber der kaputte Tempel steht auch für die Brüche und Einbrüche, die es im Verhältnis dieser beiden Abrahamskinder immer wieder gab bis hin zum Brudermord. Das alles ist Fakt. Die gemeinsame Geschichte von Christen und Juden ist leider auch eine Geschichte der gegenseitigen Trennungen und Verletzungen, eine Geschichte der Brüche und Einbrüche. Der Tempel, das gemeinsame Dach, ist unwiederbringlich zerstört. Das ist Fakt.
Fakt ist aber auch, dass das Kreuz – und ich bin noch bei der Deutung des Grabmals – aus demselben Material ist wie die Trümmer. Das heißt: Wir haben die Trümmer des Tempels nicht als Beutestücke, über denen wir uns erheben könnten, sondern sie gehören dem Einen, der Neues daraus macht. Sie gehören dem, der spricht: „Brecht ihr nur diesen Tempel ab, ich will ihn wieder aufrichten“. Ihm, ihm allein gehören die Trümmer des Tempels. Wenn nicht nur wir, sondern auch andere Religionen, die sich um den Tempelberg streiten, dies verstehen würden, dann wäre Friede unter den Religionen und Völkern einen entscheidenden Schritt näher gerückt. Ihm, ihm allein gehören die Trümmer des Tempels, und sie sind gleichsam der Mutterboden, aus dem das Neue erwächst, das Kreuz, in dem sich alles Unheil dieser Welt brennpunktartig trifft und zugleich überwunden wird.
Die besondere Beziehung zwischen Christen und Juden
Es ist schade, dass es so kommen musste: dass das Neue nur auf den Trümmern des Alten entstehen konnte. Genau das macht die Beziehungen zwischen Juden und Christen zu besonders schwierigen Beziehungen. Es mag uns stärken auf unserem gemeinsamen Weg durch die Zeit, dass das Neue aus demselben Material ist wie das Alte. Das macht die besondere Beziehung möglich. Das ist auch ein Zeichen für die Kontinuität des Alten im Neuen durch alle Brüche hindurch. Für eine Kontinuität allerdings, die wir nicht setzen, indem wir den Juden das Alte wegnehmen und es usurpieren, sondern für eine Kontinuität, die Christus stiftet, indem er sagt: Ihr fallt aus dem Raum des Heils nicht heraus, auch wenn es keinen Tempel mehr gibt. Ihr bleibt im Raum des Heils, wenn ihr in mir bleibt. Ich bin der lebendige Tempel. Wer in mir bleibt, der wird mein Zeugnis hören und den Vater sehen.
Der Heilsraum Christi, ein unsichtbarer Tempel für alle
Christus will – so lässt Johannes ihn sagen – den eingerissenen Tempel in drei Tagen wieder aufrichten. Gegen alle Missverständnisse erläutert Johannes: Er redet vom Tempel seines Leibes. Damit auch wir es verstehen – wie die Jünger nach der Auferstehung: Er redet vom Heilsraum, der er seit der Auferstehung selbst ist. Wir sind in seinem Heilsraum, wenn wir in ihm bleiben und leben. Aber nicht nur wir, alle haben die Chance, in seinen Heilsraum einzutreten. Er ist für alle da, auch für die, die bis heute ohne Tempel sind. Der Eintritt ist frei, aber er wird nicht umsonst sein.
Um nicht ein neues Missverständnis zu erzeugen: Es geht nicht um eine siegreiche Kirche gegenüber einer geknickten Synagoge. Sondern es geht um die Hoffnung, als ein Gottesvolk, das durch die Zeit wandert, eines Tages vereint zu sein in dem Raum, den Gott uns geschenkt hat, im Heilsraum Christi, mehr als ein Gebäude, jenseits aller Strukturen, erfüllt von seinem heiligen Geist.
Amen.