Familie

Eine andere Art der Familienzusammengehörigkeit, die nichts mit den Genen zu tun hat

Predigttext: Markus 3,31-35
Kirche / Ort: Westerende Kirchloog (26632 Ihlow/Ostfriesland)
Datum: 21.08.2005
Kirchenjahr: 13. Sonntag nach Trinitatis
Autor/in: Pastorin coll. Theda Wolthoff

Predigttext: Markus 3,31-35 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)

Und es kamen seine Mutter und seine Brüder und standen draußen, schickten zu ihm und ließen ihn rufen. Und das Volk saß rings um ihn. Und sie sprachen zu ihm: Siehe, deine Mutter und seine Brüder und deine Schwestern fragen nach dir. Und er antwortete ihnen und sprach: Wer ist meine Mutter und meine Brüder? Und er sah ringsum auf die, die um ihn im Kreise saßen und sprach: Siehe, das ist meine Mutter und das sind meine Brüder! Denn wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter.

Zur Gemeindesituation

Ostfriesische Landgemeinde ohne fromme Prägung, bisher kaum bis gar keine Akademiker im Gottesdienst, vor allem ältere Leute, die im Alltag ausschließlich plattdeutsch sprechen, aber zunehmend auch jüngere ab 35 Jahren (v.a. Frauen) und Konfirmandinnen und Konfirmanden. Das Durchschnittsalter ist etwa 40-70 Jahre alt. Die Predigerin ist seit einem dreiviertel Jahr als Pastorin coll. (auf Probe) in der Gemeinde.

Zur Liturgie

Eingangsgebet: Gütiger Gott! Du bist ein Gott, der seine Menschen liebt. Du siehst das Elend, der Menschen. Deshalb hast du deinen Sohn geschickt, dass er uns in Liebe dient. Lass uns nach auch gütig und barmherzig werden - nach seinem Vorbild und nicht vorübergehen an denen, die uns brauchen. Erhöre uns um Jesu Christi willen. Amen. (nach: Evangelisches Gottesdienstbuch, Berlin 2000) Lieder: „Wohl denen, die da wandeln“ (EG 295), „Bei dir Jesu will ich bleiben“ (EG 406, Predigtlied), „Brich mit den Hungrigen dein Brot“ (EG 420), „Hilf Herr, meines Lebens“ (EG 419).

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Liebe Gemeinde!

Das Thema „Familie“ hat wieder Hochkonjunktur. Ob es am Wahlkampf der Parteien liegt, der schon wieder heftig in Gang gekommen ist – der Wahlmonat September ist ja nicht mehr weit hin. Überall beschwören uns die Stimmen, ob in Politik oder in der Kirche, wie wichtig Familie als Keimzelle für die Gesellschaft, für jeden einzelnen Menschen um seiner gesunden Entwicklung willen ist.

Wie steht Jesus eigentlich zum Thema Familie? Soweit wir wissen hat er ja nie geheiratet, hat er keine Kinder gehabt. Hat für Jesus Verwandtschaft eine Rolle gespielt? Der Predigttext für den heutigen Sonntag gibt uns darauf eine Antwort. Er steht bei Markus im 3. Kapitel, die Verse 31-35.

(Lesung des Predigttextes)

Wahre und falsche Verwandtschaft

Bezeichnend ist die Überschrift, die die Lutherbibel diesem Abschnitt gegeben hat: Jesu wahre Verwandte. Der Predigttext unterscheidet also zwischen wahren und unwahren, falschen Verwandten. Das kennen wir allzu gut aus unserer Gesellschaft. Eine Zeit lang gab es eine grassierende Bewegung: Männer, die herausfinden wollten, ob das Kind, das sie zusammen mit ihrer Partnerin haben, wirklich ihr Kind ist oder ein Kuckucksei. Auf allen Kanälen in den Talkshows konnte man gut geschminkte und gut gelaunte Moderatorinnen sehen, die mit einem süffisanten Lächeln einen Umschlag in der Hand hielten: „Hier drin steht’s geschrieben. Ob du, Manfred, Michael, ob du Thomas der echte Vater bist oder ob dir deine Partnerin das Kind nur unterjubeln wollte“. Bei diesen Shows kam nie der Eindruck auf als hätte auch nur einer der Beteiligten den Überblick darüber, über welche Schicksale mit nur einem Blatt Papier entschieden wurde. Väter, die jahrelang im Glauben für ihre Familie gelebt und gearbeitet haben, lassen sich durch diese eine Untersuchung alles zerstören. Kinder, wie Ralf, wie Tobias oder Mario und wie sie alle heißen, die in der Gewissheit aufgewachsen sind, dass der Mann, der mit dem sie jedes Wochenende zum Fußball gefahren sind, der ihr Vorbild und Beschützer ist – werden mit der zweifelhaften Wahrheit konfrontiert: Der Mann, Papa, der soll nun auf einmal nicht mehr Papa sein, sondern einer, mit dem ich gar nichts zu tun habe.

Mütter, die durch ihr unreifes und fahrlässiges Verhalten eine ganze Familie auf´s Spiel setzen, weil sie vor Jahren nicht den Schneid hatten, ehrlich und offen zu sein und ihre Beziehungen in Ordnung zu bringen. Die ihrem Kind den Vater nehmen, der nicht zu ersetzen ist.

Die wahre Verwandtschaft. Die spielt nicht nur damals bei Jesus eine entscheidende Rolle im Leben, sondern auch bei uns. Unser Bibeltext wirft die Frage auf: Wer ist denn nun in Wahrheit mit Jesus verwandt? Spontan würden wir doch sagen: Keine Frage! Eindeutig zu klären, da braucht niemand einen geheimen Umschlag öffnen. Seine Mutter Maria und seine Brüder und Schwestern.

Jesus stößt seine Verwandten vor den Kopf

Aber, liebe Gemeinde, mich wundert nur, wie Jesus mit diesen seinen engsten Verwandten, mit seiner eigenen Mutter Maria und seinen Geschwistern umgeht! Nicht, dass ich so blauäugig bin zu meinen, dass so ein Umgang in der Familie selten ist – das nicht. Aber von Jesus – können wir von dem nicht erwarten, dass er sich an das vierte Gebot hält: „Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren“?

Warum geht Jesus so hart mit ihnen um? Wenn er schon nicht mit seinen Geschwistern zu recht kommt, das können der eine oder die andere von uns ihm vielleicht noch zugestehen aus eigener Erfahrung mit den lieben Geschwistern – aber warum weist er auch seine Mutter so barsch ab? Das muss man sich mal vorstellen: die eigene Mutter und die Geschwister vor versammelter Menge derart radikal in Frage zu stellen: „Wer ist (das) – meine Mutter und meine Brüder?“ Ich kann mir die erschrockenen Augen der Umstehenden vorstellen: Die da draußen ja wohl augenscheinlich nicht.

Harter Tobak. Ich habe mich das selbst auch gefragt, warum Jesus es nötig hat, sich so stark von seinen Verwandten abzusetzen. Ich denke, der Zusammenhang des Predigttextes gibt uns darauf einen Hinweis.

Jesus arbeitet fast ununterbrochen. Menschen strömen auf ihn zu, ganze Volksmassen laufen ihm hinterher. Wohin er auch kommt soll er Kranke heilen: Aussätzige, Gelähmte, ein Mann mit einer verdorrten Hand, ja, es waren so viele, dass sie regelrecht über Jesus herfielen, so dass Jesus zeitweise vor der Menge fliehen musste.

In welcher Situation war er? Jesus steht voll im Kampf. Er kämpft gegen die bösen Geister, die in den Menschen wohnen und die nach damaliger Auffassung für die Krankheiten wie Aussatz verantwortlich waren. Ja, sogar mit dem Satan persönlich nimmt er es auf. All das tut er, nicht um seinetwillen. Er ist von Gott beauftragt, durch die Heilungen und die Vertreibung der bösen Geister den Menschen deutlich zu machen: Gottes Reich, Gottes neue Welt bricht an. Das, was ich jetzt an Einzelnen tue, dass ich sie heil mache an Körper und Seele, das ist nur ein Vorgeschmack dessen, was Gott an euch allen tun wird, wenn sich sein Reich durchsetzt.

In dieser göttlichen Mission ist Jesus unterwegs. Er schont sich nicht dabei. Er zieht mit seinen Jüngern von Ort zu Ort und setzt seine ganze Kraft und Macht ein für die Sache seines Vaters. Schwierig ist nur, dass sein Auftreten so einen Aufruhr und so eine Aufregung unter die Leute bringt, dass das auch seine Gegner auf den Plan ruft.

Jesus muss sich auch mit ihnen auseinander setzen. Seine religiösen Gegner, die Schriftgelehrten, werfen ihm vor, dass er sich mit dem Satan persönlich, mit dem Beelzebul, zusammengetan hat, um die bösen Geister auszutreiben. Und dann setzen sie noch einen drauf und behaupten: Dieser Jesus, der ist doch selbst besessen!

Mutter und Geschwister gegen Jesus?

Das alles ist schon hart genug. Aber entscheidend ist für unser Verstehen der Situation, dass sogar die eigenen Verwandten von Jesus in dasselbe Horn stoßen. Sie lassen sich von der Aufregung anstecken und geraten förmlich in Panik. Sie planen, Jesus festzuhalten, weil sie, seine Mutter, seine Geschwister, es selbst auch denken: Jesus, du musst verrückt sein. Jesus, wir können dich und dein Handeln überhaupt nicht verstehen. Jesus, wir müssen dich zurückhalten, bevor noch ein Unglück passiert! Mit diesem Ansinnen gehen sie auf das Haus zu, in dem sich Jesus mal wieder mit einer Menge von Menschen befindet. Die Distanz zwischen ihnen und Jesus ist mittlerweile schon so groß, dass sie selbst gar nicht mehr bis zu Jesus kommen können, sondern jemanden hinschicken, um ihm Bescheid zu sagen, dass sie draußen auf ihn warten.

Die Gefühle von Jesus, die werden nicht überliefert in dem Text bei Markus. Ich weiß nicht, ob der Schock groß war, dass die eigene Mutter, dass Bruder und Schwester ihm in den Rücken fallen. Oder ob Jesus damit schon immer gelebt hat, dass er anders war als die anderen, dass er in seiner Familie immer aufgefallen ist durch sein eigenartiges Verhalten. Denken wir nur mal an die Geschichte vom zwölfjährigen Jesus im Tempel. Schon da ist der Junge Jesus seinen Eltern Maria und Josef fremd gewesen. Und nun, als Erwachsener, vollends.

Sich in der Familie fremd werden

Dass sich Familienangehörige fremd werden, dass kennen wir alle aus dem Alltag. Wir machen auch die Erfahrung, dass wir in dem, was uns wichtig ist, nicht einmal von unseren engsten Verwandten verstanden werden. Mir persönlich ging es auch so. Ich stamme ja, wie Sie wissen, aus einem Pfarrhaus. Nun sollte man ja meinen, dass Pfarrerskindern der Glaube in die Wiege gelegt wird – das ist jedoch absolut nicht der Fall. Meine Geschwister sind fast alle dem Glauben und der Kirche gegenüber eher distanziert eingestellt. Jeder und jede hat dafür gute Gründe, sicher. Einer meiner Brüder, er ist Arzt, sagte einmal zu mir am Anfang meines Theologiestudiums einen Satz, den werde ich wohl nie vergessen: „Du, ich hab dich immer für intelligent gehalten und jetzt studierst du Theologie“.

Verwandt, aber verstanden

Wie verwandt ist man mit seinem eigenen Bruder, mit seiner Schwester oder mit den Eltern, wenn man sich in entscheidenden Dingen des Lebens nicht versteht? Ja, es steht wohl außer Frage, diese Personen, die damals vor 2000 Jahren draußen vor der Tür standen, die waren mit Jesus verwandt. Wenn wir in Talkshow-Manier die genetische Verwandtschaft im Blick haben. Aber Jesus kennt noch eine andere Art der Verwandtschaft, eine andere Art der Familienzusammengehörigkeit, die nichts mit den Genen zu tun hat. Die weit mehr und Tieferes im Blick hat als das. „Wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter.“

Meine Herkunft entscheidet nicht darüber, wie nah jemand Jesus ist! Glauben Sie mir: Sie können aus einer Pastorenfamilie stammen und doch der größte Atheist sein – dafür gibt es in der Geschichte genügend Beispiele, z.B. Friedrich Nietzsche. Ich kann tiefgläubige Eltern haben, die jeden Abend mit mir beten, die mir von Kindheit an von Jesus erzählen, die mich zum Kindergottesdienst bringen und mit mir zusammen nach Antworten auf jede noch so schwere Frage suchen. Trotzdem ist es nicht selten so, dass auch diese Kinder später keinen Zugang zum Glauben haben. Ich weiß, dass darunter viele Leute auch in unserer Gemeinde leiden und sich fragen: Was hätte ich anders machen müssen? Warum geht mein Kind nicht in die Gemeinde?

Aber, liebe Gemeinde, umgekehrt gilt es genauso! Kürzlich sprach mich eine junge Frau an, sie stammt aus der ehemaligen DDR. „Wir haben nie was mit Kirche und Glauben zu tun gehabt. Wir sind nie in die Kirche gegangen, ja eigentlich war das bei uns Zuhause nie ein Thema. „Aber komisch ist das“, sagt die junge Frau, „trotzdem habe ich seit meiner Kindheit meinen Glauben an Gott. Und irgendwie lässt mich das nicht los“. Ich glaube kaum, dass diese Frau das Vater unser und das Glaubensbekenntnis fehlerfrei aufsagen kann. Sie wird auch kaum ein Lied aus dem Gesangbuch kennen. Aber: Diese junge Frau will sich in diesem Jahr noch taufen lassen. Gottes guter Geist ist hier am Werk! Menschen wie sie sind ganz nah dran an Jesus.

Christen sind mit Jesus verwandt

Wer sind die wahren Verwandten von Jesus? Das sind die, die verstehen, in welchem Auftrag er handelt. Das sind die, die ihn für Gottes Sohn halten und erkennen, dass er im Namen Gottes heilt und predigt und sich mit den Menschen an einen Tisch setzt. Wenn man so will, setzt Jesus die Seelen-, die Glaubensverwandtschaft, über die genetische Verwandtschaft. Alle, die an seinen Vater glauben, gehören zu seiner Familie. Damals genau so wie heute. Alle Menschen, die ihre Taufe bewusst leben, die sich in der Gemeinde versammeln, die zum Gottesdienst gehen, die zusammen in der Bibel lesen, die gemeinsam beten und ihren Glauben leben, die sind in Jesus und durch Jesus miteinander verwandt. Dort, wo wir mit unseren Glaubensschwestern und Glaubensbrüdern zusammen sind und über unseren Glauben sprechen, über das, was uns hält und trägt im Leben, fühlen wir uns oft tiefer verstanden als bei Menschen, mit denen wir zufällig verwandt sind.

Liebe Gemeinde, wir sind auch eine Mutter, ein Bruder oder eine Schwester von Jesus. Der, der die Macht hat, es sogar mit den finstersten Mächten aufzunehmen, der stellt sich an unsere Seite, der will unser Bruder sein. Der will ganz eng mit uns verwandt und verbunden sein. Zwischen ihn und uns da passt kein Blatt mehr. Uns kann nichts Besseres passieren als zu dieser Familie, zur Familie Gottes, zu gehören! Dann kann kommen was will, selbst wenn uns die eigenen Leute Zuhause nicht mehr verstehen, wenn die eigene Familie auseinander fällt – wir haben wir haben einen Platz, an den wir gehören. Die Kirchengemeinde hier in Westerende will so ein Ort sein, an dem sie spüren können, dass wir Christinnen und Christen eine große Familie sind. Die Kirche will unser Vaterhaus sein, das uns zu allen Zeiten aufnimmt und uns beherbergt. Kommen Sie immer gerne nach Hause! Schauen Sie bei ihrem Vater und Bruder hinein! Das wünsche ich ihnen und uns allen unser Leben lang.

Amen.

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