Den Menschen neu sehen lernen

Du bist ganz Mensch, von Gott geliebt und gehalten

Predigttext: Markus 1,40-45
Kirche / Ort: Nicolaikirche Elstorf
Datum: 28.08.2005
Kirchenjahr: 14. Sonntag nach Trinitatis
Autor/in: Pastor Dr. habil. Günter Scholz

Predigttext: Markus 1,40-45 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)

40 Und es kam zu ihm ein Aussätziger, der bat ihn, kniete nieder und sprach zu ihm: Willst du, so kannst du mich reinigen. 41 Und es jammerte ihn, und er streckte die Hand aus, rührte ihn an und sprach zu ihm: Ich will's tun; sei rein! 42 Und sogleich wich der Aussatz von ihm, und er wurde rein. 43 Und Jesus drohte ihm und trieb ihn alsbald von sich. 44 und sprach zu ihm: Sieh zu, dass du niemandem etwas sagst; sondern geh hin und zeige dich dem Priester und opfere für deine Reinigung, was Mose geboten hat, ihnen zum Zeugnis. 45 Er aber ging fort und fing an, viel davon zu reden und die Geschichte bekannt zu machen, so dass Jesus hinfort nicht mehr öffentlich in eine Stadt gehen konnte; sondern er war draußen an einsamen Orten; doch sie kamen zu ihm von allen Enden.

Exegetische (I.) und homiletische (II.) Bemerkungen

I. Die Aussätzigenheilung hat ihren Grundbestand in den vv40-42, eine formal in sich geschlossene Heilungsgeschichte. Danach beginnen die kontrovers diskutierten literarkritischen Probleme. Ich stelle die mir einleuchtende Lösung vor: Eine erste Erweiterung ist die Aufforderung, sich dem Priester zu zeigen (vv44b). Dieser Wachstumsring weist auf eine Erzähltradition der Geschichte in der judenchristlichen Gemeinde. Dann wurde sie in den Dienst der Mission auch im hellenistischen Bereich gestellt. Davon legt das Ausbreitungsmotiv (v44a. 45a) Zeugnis ab. Schließlich nimmt die markinische Redaktion das traditionelle missionstheologische Geheimhaltungsgebot (v44a) auf und verstärkt es im Sinne des Messiasgeheimnisses durch v43: der Zuwendung Jesu (v41) korrespondiert seine Abwehr (eines falschen Personverständnisses). Liegt dieser Geschichte eine historische Begebenheit zugrunde? Für den konkreten Einzelfall lässt sich das weder bejahen noch verneinen. J. Gnilka urteilt angemessen: „Sie hat in schematisierter und gesteigerter Form Jesu befreiende Heilungstätigkeit aufbewahrt“. (Das Evangelium nach Markus, EKK II/1, Neukirchen 1978, S. 94). Darüber hinaus aber hat sie einen tieferen Sinn. Sie erzählt vom Anbruch der neuen Zeit, der neuen Schöpfung: Jesu Wort wirkt „sogleich“ (v42) wie Gottes Wort am ersten Tag. Sie ist Ansage der neuen Zeit in narrativer Form. Den Heilungsgeschichten Jesu liegen Bilder der Heilszeit zugrunde. Sie sind als Zitatenkombination aus div. Jesajastellen in Mat. 11,5 / Luk. 7,22 zusammengestellt. In Jes. 29,18 f.; 35,5f.; 42,18; 61,1; 26,19 weisen sie als Hoffnungsbilder in die Zukunft (Futur!) der Erlösungszeit, in Mat. 11,5 / Luk. 7,22 sagen sie die Erlösungszeit als Jetztzeit (Präsens!), als die Zeit Jesu, an. Zwar fehlt gerade die Hoffnung für die Aussätzigen in den jesajanischen Bildern, aber hier lässt sich eine tannaitische Liste heranziehen, die J. Jeremias in seiner Neutestamentlichen Theologie, S. 107, zitiert: “Vier werden einem Toten gleichgestellt: Der Lahme, der Blinde, der Aussätzige, der Kinderlose“. Der Bildcharakter der Aussätzigenheilung erlaubt es, dabei nicht nur an körperlich Kranke zu denken, sondern auch die soziale Dimension zu berücksichtigen, das Ausgesetzt-Sein aus der Gesellschaft. Die andauernde Wirksamkeit des Jetzt macht Heilung und Integration in umfassender Weise auch heute möglich. Die Predigt bezieht sich auf diese Auslegung. Daneben sei noch auf zwei Besonderheiten hingewiesen: Der „Wille“ Jesu und die Funktion des Priesters. Der Aussätzige spricht Jesus auf sein Wollen an (v40). Damit deutet die Erzählung an, dass es keinen magischen Automatismus zwischen Bitte um Heilung und der Heilung selbst gibt. Alles Mirakulöse wird herausgehalten, Jesu Tun allein seinem Willen unterworfen (vgl. Mat. 8,7). So tritt hier zum Wort und zur Tat deutlich der Wille, Heilung und Heil kann nur geschehen, wenn beide wollen, auch heute. Der „Priester“ (v44) ist das Tor zum Leben. In ihm begegnet der Geheilte dem Leben neu. Nicht an ihm vorbei, sondern durch ihn auch allen anderen „zum Zeugnis“. Das Neue ist da, nicht unter Auflösung alter Strukturen, sondern in ihnen (vgl. auch Luk. 17,14). Literatur: Günter Scholz, Didaktik neutestamentlicher Wundergeschichten, Göttingen 1994, S. 114-145. II. Der Predigttext baut eine aus heutiger Sicht historische Szenerie auf. Ich kann diese auserzählen, wie Filme das tun. Aber ich erreiche damit niemanden in der Gegenwart und in unserem Land. Vor allem verschwiege ich die Wirksamkeit des Willens und der Kraft Jesu, die auch noch heute wirken. Ich will und kann von keiner Wunderheilung in der Gegenwart erzählen. Wäre mir eine solche authentisch bekannt, wäre noch zu prüfen, in wessen Namen sie geschah. Und selbst dann noch bliebe die Frage: Warum da und dort und nicht an mir? Ich risse ein seelsorgerliches Problem auf, das ich dann nur noch mit dem unergründlichen „Willen“ erklären könnte. Also mache ich mir den Bildcharakter der Wundergeschichte zu Nutze, entgrenze und vertiefe zugleich den Aussatz hin auf das Ausgesetzt-Sein (Beispiele von Ausgrenzungen finden sich zur Genüge). Dabei lauert die nächste Gefahr: die der Ethisierung der Verkündigung im Sinne einer lehrhaften Gesetzlichkeit: „Auch wir sollten...“. Das Evangelium bliebe auf der Strecke. Wie also zwischen Historisierung und Ethisierung hindurch? – Nur durch Verkündigung der neuen Zeit, der fortwirkenden Jesuszeit, die es mir möglich macht, den Menschen neu zu sehen.

zurück zum Textanfang

Liebe Gemeinde!

Die Aussätzigenheilung, eine historische Szene – weit weg

Wir kennen solche Szenen aus diversen Jesus-Filmen. Aussätzige leben draußen, außerhalb der Stadtmauern, weit entfernt von der Stadt in Höhlen am Rand der Wüste. Sie sind von oben bis unten verhüllt, ihre Gesichter nicht erkennbar. Es sind die Unberührbaren. Niemand darf zu ihnen, und sie dürfen zu niemandem, mit niemandem, Kontakt haben. Sie gelten als unrein. Nicht nur wegen der bakteriellen Ansteckungsgefahr, nicht nur wegen eines allgemeinen Ekelgefühls, sondern weil Aussatz auch als Zeichen religiöser Unreinheit gesehen wird. Ein von Gott gestrafter und gezeichneter Mensch! Und wir sehen nur einen auf die Unberührbaren zugehen, hinaus zu ihren Unterkünften: Es ist Jesus; Jesus, der sich von ihrem schweren Schicksal anrühren lässt und der einen von ihnen berührt. Einen von ihnen, der auf ihn zukommt: „Wenn du willst, kannst du mich rein machen“. Und Jesus will, und tut´s.

Wir kennen solche Szenen aus Filmen. Wir werden mitgenommen in eine längst vergangene Zeit. Wir lassen uns mitnehmen. Wenn das Ende des Films uns wieder in die Gegenwart entlässt, reiben wir uns die Augen und sagen uns: Wie gut, dass wir keine Unberührbaren kennen. Mag es das geben in Kalkutta, wo Schwester Theresa wirkte, oder im Kongo, wo Albert Schweitzer wirkte: bei uns zum Glück nicht.

“Aussätzige“ – mitten unter uns

Aber die Bibel warnt uns auch vor falscher Selbsteinschätzung und vor Überheblichkeit. Sie hält uns das negative Beispiel des Pharisäers vor Augen, der betet: „Ich danke dir, Gott, dass ich nicht so bin wie die anderen Leute“ (Lukas 18,11), und Jesus fragt uns: „Was siehst du den Splitter in deines Bruders Auge und nimmst nicht wahr den Balken in deinem Auge?“ (Matthäus 7,3). Sind wir wirklich nicht so wie andere, die Menschen aus der Gesellschaft aussetzen? Haben wir wirklich nicht den Balken im eigenen Auge?

Passiert nicht dies immer wieder: Ein Konfirmand setzt sich abseits der Gruppe. Er tut das schon ganz von selbst, weil die anderen ihm bedeutet haben: Du gehörst nicht zu uns; und mit Bemerkungen des Abscheus machen sie ihm deutlich: Wir mögen dich nicht. – Aber auch dies lässt sich denken: Die Kirche baut ein Haus, in dem sehr viele Dienste untergebracht sind: Eine Bibliothek, ein Amt für Öffentlichkeitsarbeit, eine Zentralstelle für Gottesdienste und Gemeindeveranstaltungen, Ehe- und Familienberatung. Zudem ein Veranstaltungsraum. Nur die Drogenberatung soll nicht in diesem neuen Haus untergebracht werden.

Beides ist nicht im Sinne Jesu, weder die Ausgrenzung des Konfirmanden noch die Behandlung der Drogenabhängigen wie Aussätzige, die man lieber nicht im unmittelbaren Gesichtsfeld haben möchte. Jesus hat ihn, den Aussätzigen, nicht abgewiesen und da gelassen, wo er ist, sondern er hat ihn in seine Gemeinschaft hineingeholt und ihn so geheilt, Krankheit überwunden und ihn als Reinen dem Leben neu begegnen lassen.

Dem Beispiel Jesu folgen ?

Sollen wir nun dem Beispiel Jesu folgen? Uns auf den Weg des Meisters machen und selbst Meister werden? Wir würden uns total übernehmen. Ich sehe das ja an mir: Ich grenze den Konfirmanden zwar nicht aus; aber ich gliedere ihn auch nicht richtig ein. Und für die Drogis gehe ich auch nicht auf die Straße. Was soll ich denn noch alles tun als vorbildlicher Christ? Nichts noch oben drauf! Jesus wirkt noch heute – durch seinen Willen und durch seinen Geist. Wenn er will, kann er noch heute – reinigen, heilen, retten.

Die neue Zeit erkennen

Können wir also so weitermachen wie bisher? Nein; denn wir leben in einer neuen Zeit. Jesus Christus hat diese neue Zeit gebracht. In der alten Zeit sprach man: „Vier werden einem Toten gleichgestellt: Der Lahme, der Blinde, der Aussätzige, der Kinderlose“. Mit anderen Worten: Der Lahme, der Blinde, der Aussätzige und der Kinderlose, sie sind draußen, abgeschnitten vom Leben, tot. Und einen Toten berührt man nicht. In der alten Zeit sprach man: „Seid getrost und fürchtet euch nicht! Seht, euer Gott wird kommen und euch helfen. Dann werden die Augen der Blinden aufgetan und die Ohren der Tauben geöffnet werden. Dann werden die Lahmen springen wie ein Hirsch, und die Zunge der Stummen wird frohlocken“. (Jesaja 35,4-6).

In der alten Zeit sprach man in der Zukunft und hoffte auf sie. In der alten Zeit hoffte man auf die große Zeitenwende und den Retter, der sie heraufführen wird. – Jetzt aber ist die neue Zeit da. Jesus selbst hat sie gebracht und fordert auf, nur hinzusehen, mehr nicht; hinzusehen, wie die erhoffte Zukunft lebendige Gegenwart ist, in ihm: „…Hört und seht: Blinde sehen und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote stehen auf, und Armen wird das Evangelium verkündet, und selig ist, wer sich nicht an mir ärgert“. (Matthäus 11,5-6). Seitdem gilt: Die neue Zeit ist da, Christ der Retter ist da; sein Wille und sein Geist durchwaltet heute noch Raum und Zeit und erfüllt auch unsere Herzen.

Den Menschen neu sehen lernen

Wir leben in einer neuen Zeit mit einem neuen Herzen. Das lässt uns auch den Menschen neu sehen. Sehen lernen mit den Augen Jesu. Das ist nicht ein Noch-Mehr oben drauf, das ist die innere Einstellung auf die neue Zeit. Jesus hat den Menschen nie über seine Krankheit definiert. Nicht der Aussatz – so schlimm er auch war – bestimmt die Identität dieses Menschen, sondern dass er Geschöpf Gottes ist und als solches geliebt und von ihm gehalten. Wie oft mag er sich gesagt haben: „Ich bin ganz Aussatz“. Die Gesellschaft hat´s ihm klar gemacht, und er hat´s so in sein Inneres übernommen: „Ich bin ganz Aussatz“. – Jesus aber sagt ihm: Du bist ganz Mensch, von Gott geliebt und gehalten. Darum: sei rein!

Ich habe das kürzlich auch so von einer ehemals krebskranken Frau gehört: Sie habe sich nie damit abgefunden, die zu sein, die Krebs hat. Sicher, der Krebs war ein Teil von ihr, aber sie sei doch mehr als nur Krebs. Dieser Gedanke habe ihr geholfen. Der Glaube sagt, dass Christus ihr mit diesem Gedanken geholfen habe.

In der neuen, durch Christus geprägten Zeit ist es uns möglich, den Menschen neu zu sehen: im Konfirmanden nicht nur seine Macke, sondern den – vielleicht etwas besonderen – Mitmenschen, von Gott so geschaffen, im Drogenkranken den Menschen, den Gott liebt als sein Geschöpf und der mehr ist als nur das, was seine Krankheit ausweist. In der neuen, durch Christus geprägten Zeit ist es uns möglich, in Gemeinschaft zu leben mit denen, die sonst außen vor waren; denn Christ der Retter ist da, für mich und für dich.

Amen.

zurück zum Textanfang

Ihr Kommentar zur Predigt

Ihre Emailadresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind markiert.