Sorge für den ganzen Menschen

Dem kranken Menschen mit den Augen Jesu begegnen

Predigttext: Markus 1,40-45
Kirche / Ort: 66989 Nünschweiler
Datum: 28.08.2005
Kirchenjahr: 14. Sonntag nach Trinitatis
Autor/in: Pfarrerin Anke Andrea Rheinheimer

Predigttext: Markus 1,40-45 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)

40 Und es kam zu ihm ein Aussätziger, der bat ihn, kniete nieder und sprach zu ihm: Willst du, so kannst du mich reinigen. 41 Und es jammerte ihn, und er streckte die Hand aus, rührte ihn an und sprach zu ihm: Ich will's tun; sei rein! 42 Und sogleich wich der Aussatz von ihm, und er wurde rein. 43 Und Jesus drohte ihm und trieb ihn alsbald von sich. 44 und sprach zu ihm: Sieh zu, daß du niemandem etwas sagst; sondern geh hin und zeige dich dem Priester und opfere für deine Reinigung, was Mose geboten hat, ihnen zum Zeugnis. 45 Er aber ging fort und fing an, viel davon zu reden und die Geschichte bekanntzumachen, so daß Jesus hinfort nicht mehr öffentlich in eine Stadt gehen konnte; sondern er war draußen an einsamen Orten; doch sie kamen zu ihm von allen Enden.

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Liebe Gemeinde,

immer wieder ist in der Geschichte des Christentums die Frage diskutiert worden, wie sich die Verkündigung des Evangeliums und das heilende Handeln, also kurz gesagt wie sich

Gottesdienst und Diakonie

zueinander verhalten. Oft standen und stehen sich in dieser Frage zwei Extrempositionen gegenüber: Die einen meinen in weltflüchtiger Weise, die Kirche sei keine Sozialagentur, sondern sie sei zuerst und alleine für das Seelenheil zuständig, also für Glaubensfragen, sie solle sich auf ihre eigentliche Aufgabe konzentrieren und das seien Predigt und Seelsorge; auf der anderen Seite hat sich eine Diakonie abgekoppelt, die sich ganz von Kirche und Gemeinde abgelöst hat und die – organisiert in großen Wirtschaftseinheiten wie Krankenhauskonzernen und Altenheimketten – überhaupt nicht mehr nach einer Motivation ihrer Mitarbeiter durch den christlichen Glauben fragt.

Die uns heute aufgegebene biblische Geschichte von der Begegnung Jesu mit dem Aussätzigen zeigt uns, wie Jesus selbst Verkündigung und Heilung, also lehrendes und helfendes Handeln zueinander in Beziehung gestellt hat.

In großer Verzweiflung wendet sich ein Aussätziger an Jesus, der zuvor in der Synagoge in Kapernaum und in anderen Synagogen in Galiläa gelehrt hatte. Der Aussätzige hat ein großes Vertrauen in Jesus, er vertraut auf seinen Willen, ihm als krankem und leidendem Mensch wohl zu tun, und er glaubt an seine Fähigkeit, ihm helfen zu können. Indem sich der Kranke an Jesus wendet, macht er deutlich, was er ihm zutraut:

„Wenn du willst, so kannst du mich reinigen“

Was für eine Erwartung dieses Mannes, der voller Verzweiflung gewesen sein muss! Denn Aussatz, ein Krankheitsbild der Haut und der Gliedmaßen, das wir heute unter dem Oberbegriff Lepra zusammenfassen – eine Krankheit, die leider auch im 20. Jahrhundert noch nicht ausgerottet ist und nach wie vor noch in bestimmten Ländern in Afrika vorkommt – Aussatz war und ist etwas sehr Schlimmes. Nur wenige Krankheiten in der Antike und der Gegenwart sind so furchtbar und wirken so unmenschlich wie der Aussatz. Im Aussatz sahen die Menschen die Geißel Gottes, obwohl er unschuldige Menschen traf. Aussatz war in biblischer Zeit aber nicht nur eine körperliche Krankheit, sondern Aussatz bedeutete, was der Name schon sagt: ausgesetzt und d.h. sozial ausgegrenzt zu sein, ausgestoßen zu sein aus der menschlichen Gemeinschaft. Zum einen aus Furcht vor der Ansteckungsgefahr, also sozial aus medizinischen Gründen. Zum anderen aus Furcht vor Unreinheit, aus religiösen Gründen. Der Aussätzige galt als kultisch unrein, konnte nicht wie alle anderen am gemeinschaftlichen Kultusleben, am Tempelkult in Jerusalem oder am Synagogengottesdienst teilnehmen und war auch sozial und räumlich ausgegrenzt. Aussätzige mussten zur Zeit Jesu in eigenen Quartieren außerhalb der ummauerten Städte und Ortschaften leben. Sie mussten sich durch besondere Haartracht und Kleidung zu erkennen geben, sowie die Gesunden durch Zurufen von „Unrein! Unrein!“ schon von Ferne vor sich warnen. Die Befürchtung, sich anzustecken, war groß, genauso die Angst vor Berührung, durch die sich die kultische Unreinheit auch auf die Gesunden übertragen konnte. Für die Erkrankten bedeutete das alles eine doppelte Ausgrenzung und Isolation: sozial und kultisch, körperliche Krankheit und religiöses Stigma. So lebte ein Aussätziger nicht nur am Rand der Gesellschaft, sondern er galt als Ausgestoßener, als lebendig tot. Im Aussatz trafen körperliche, seelische und geistliche Not zusammen.

Demut, Verzweiflung, Vetrauen

Indem der Aussätzige in der Geschichte sich an Jesus wendet, macht er deutlich, was er ihm zutraut, nämlich diese Isolation aufzubrechen: „Wenn du willst, so kannst du mich reinigen!“, sagt er zu ihm. Er sieht in Jesus offenbar nicht nur seine letzte Chance, sondern er glaubt auch wirklich, dass er die göttliche Vollmacht besitzt, sein Leid zu durchbrechen. Und so bricht der Aussätzige seinerseits alle ihm krankheitshalber auferlegten sozialen Regeln – er kommt zu Jesus, geht direkt auf ihn zu, sucht seine Nähe, die ihm bei allen anderen Menschen verwehrt ist, kommt mit seiner ganzen Verzweiflung und Not zu ihm. Er kommt mit einer dreifachen inneren Haltung: er zeigt seine Demut und Verzweiflung, in dem er Jesus inständig und auf Knien bittet; er ist voller Vertrauen, dass Jesus ihm helfen kann und erkennt aber gleichzeitig die innere Freiheit Jesu an, weswegen er sagt: „Willst du, so kannst du mich reinigen!“

„Und es jammerte ihn“

Wie reagiert Jesus auf diesen Hilferuf? Da, wo seine Zeitgenossen aus Furcht vor Ansteckung in Panik Distanz gesucht hätten, bleibt Jesus stehen. Da, wo sie aus Angst um ihre eigene religiöse Kultfähigkeit sich abgewandt und jede Berührung vermieden hätten, lässt Jesus die verzweifelt gesuchte Nähe zu. Er unterbricht seine Pläne, die Störung hat Vorrang. Er ist auch innerlich bewegt von dieser bewegenden Szene. Es heißt im Bibeltext: „Und es jammerte ihn“. Das griechische Wort hierfür leitet sich her von den Eingeweiden, wir würden also heute sagen: Es ging ihm quasi „durch und durch“. Jesus lässt bis in sein tiefstes Inneres die Not dieses Menschen an sich heran. Und nun geschieht es, dass er auf diesen äußerlich und innerlich verwundeten Menschen schaut und um dieses Kranken willen das für seine Zeitgenossen Ungeheuerliche tut: Er steckt seine Hand aus und rührt ihn an und er sagt zu ihm: „Ich will’s tun; sei rein!“

Jesus bricht um dieses verzweifelt bittenden Menschen willen die kultische und gesellschaftliche Konvention und macht sich im wahrsten Sinne des Wortes „die Hände schmutzig“. Er befreit den Aussätzigen aus seiner sozialen Isolation, die keine Berührung und Begegnung zulässt, er nimmt diese stinkende, von Krankheitsherden übersäte Kreatur als Menschen an. Durch die Berührung signalisiert er ihm: Du bist angenommen bei Gott! Du gehörst dazu! Er stellt ihn wieder in die Mitte der menschliche Gemeinschaft, und er stellt seine religiöse Reinheit wieder her, macht aus dem lebendig Toten wieder ein Mitglied der Gesellschaft.

Sorge für den ganzen Menschen – Jesu Vorbild für die Kirche

Was uns diese biblische Geschichte von der Begegnung Jesu mit dem Aussätzigen vermitteln kann, ist einmal diese Sorge Jesu für den ganzen Menschen, für seine leibliche und seine seelische Not. Jesus stellt nicht eines über das andere, sondern kümmert sich um beides. So wie er auch mit seiner ganzen Person immer für beides eingestanden ist: für die Predigt des Evangeliums und für die heilende Zuwendung zu den Menschen in ihren leiblichen Nöten, sozusagen für Gottesdienst und Diakonie. Dieses Vorbild Jesu, seine Sorge für den ganzen Menschen, soll der Kirche als ganzer Auftrag sein. Soziales Engagement und die Kernaufgaben von Verkündigung und Unterricht lassen sich nicht voneinander trennen und auseinanderdividieren. Beides ist der Kirche als Kirche Jesu Christi aufgetragen. Beides sollte jedoch auch aneinander gebunden sein. Dass sich die Diakonie in vielen Feldern abgekoppelt hat von der Kirche, ist sicher nicht im Sinne des biblischen Auftrags. Heilung und Heil, Diakonie und Verkündigung gehören im Sinne Jesu zusammen.

Was wir noch aus dieser Geschichte mitnehmen können für uns als einzelne Christen, ist das Vorbild der Solidarität Jesu mit dem Aussätzigen, der ihm begegnet, also die Solidarität der Gesunden mit den Kranken. Wer gesund ist, der macht sich oft wenig Gedanken darum, wie es einem Menschen geht, der krank ist, der kann sich weder seine leiblichen Nöte vorstellen, noch sich in seine seelische Verfasstheit hineinversetzen. Aber genau das ist es, was Kranke brauchen: Menschen, die an ihrem Leiden mitfühlen. Menschen, denen es durch und durch geht und die so erst verstehen, was Krankheit und Schwerkranksein wirklich bedeutet. Schwer Kranke brauchen Menschen, die keine Berührungsängste haben, auch wenn es manchmal schwer fällt, sich großem körperlichen und seelischem Leiden im direkten Umgang mit einem Betroffenen auszusetzen.

Solche Solidarität der Gesunden und den Kranken geschieht in der Regel in aller Stille – in den vielen pflegenden Familien, wo ein krankes oder altersschwaches Familienmitglied aufopfernd betreut wird, auch in den Krankenhäusern, in Altenheimen und in Hospizen. Meist wird um diese Pflege und Fürsorge kein großes Aufhebens gemacht. Jesus in der biblischen Geschichte wollte auch kein großes Aufhebens machen, er verbietet dem Geheilten sogar ausdrücklich, davon zu reden, doch der Aussätzige in der Geschichte wird von seiner Freude so mitgerissen, dass er sich nicht an das Schweigegebot Jesu hält, sondern seiner Freude und Dankbarkeit Luft machen muss. Von seinem Glück übermannt bezeugt er, was Jesus ihm getan hat. Und das ist vielleicht ja auch ganz natürlich, dass wir Menschen aus Dankbarkeit das Bedürfnis haben, anderen davon zu berichten, wenn uns jemand wohl getan hat!

Wie wir mit Krankheit und kranken Menschen umgehen

Die Geschichte von der Begegnung Jesu mit dem Aussätzigen ist eine Geschichte, die uns mit der Frage konfrontiert, wie wir mit Krankheit und kranken Menschen umgehen, wie es kranken Menschen in der heutigen Leistungsgesellschaft geht, wo Krankheit zwar professionell verwaltet wird, aber die wirkliche Hinwendung zu kranken Menschen mit ihren leiblichen und seelischen Nöten oft zu kurz kommt. Es ist eine Geschichte, die unseren Blick weiten will, damit wir uns die Perspektive Jesu zu eigen werden lassen, lernen, der Not eines kranken Menschen mit seinen Augen und in seinem Sinn zu begegnen. Für Jesus hat immer beides zusammengehört: die seelische Not und die körperliche Not, das Seelenheil und die körperliche Heilung, die Liebe zu Gott und die Liebe zum Nächsten. Darum sollen auch bei uns Christen Heil und Heilung zusammengehören.

Amen.

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