Gottes Barmherzigkeit hat noch kein Ende
Hoffnung in schwierigsten Lebenssituationen
Predigttext: Klagelieder 3,22-26.31-32 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
22 Die Güte des HERRN ist's, daß wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, 23 sondern sie ist alle Morgen neu, und deine Treue ist groß. 24 Der HERR ist mein Teil, spricht meine Seele; darum will ich auf ihn hoffen. 25 Denn der HERR ist freundlich dem, der auf ihn harrt, und dem Menschen, der nach ihm fragt. 26 Es ist ein köstlich Ding, geduldig sein und auf die Hilfe des HERRN hoffen. 31 Denn der HERR verstößt nicht ewig; 32 sondern er betrübt wohl und erbarmt sich wieder nach seiner großen Güte.Exegetisch-homiletische Erwägungen
Der Predigttext stammt aus dem Buch der Klagelieder, die in fünf Klagegedichten die Situation der Zerstörung Jerusalems im Jahre 587/86 v. Chr. wiedergeben. Die Klagelieder sind als „Schriftauslegung und eschatologische Geschichtsdeutung in poetischer Gestalt“ anzusehen (Christoph Levin). Erst zu späterer Zeit sind sie im jüdischen Gottesdienst als liturgische Texte eingesetzt worden. Im 3. Kap. der Klagelieder spricht der leidende Gerechte. Der Leser wird hineingenommen in seine Betroffenheit über den Zustand Jerusalems und des Volkes Israel. Er spricht ohne wenn und aber aus, wie es ihm geht. Er hat in Gott seinen Adressaten gefunden, dem er seine Klage und Not herausschreien kann. Da wird nichts hineingefressen, da wird nichts schön geredet oder einfach glatt gebügelt, sondern da wird offen ausgesprochen, wie ernst die Lage des Einzelnen und des Volkes ist. Der Verfasser dieser Verse wird mit dem Propheten Jeremia in Verbindung gebracht. Besonders deutlich wird dies in V. 14 und V. 48f., wo Stellen aus Jer 20,7 und Jer 14,7 zitiert werden. Der Gerechte setzt trotz der Lästerung seiner Zeitgenossen unbeirrt auf seinen Gott und wird darin zum Vorbild für ein frommes und weises Verhalten, ja schließlich auch für die Umkehr der vielen. Liest man die vorgegebenen Verse, dann fällt auf, dass der, der hier klagt, seine Hoffnung nicht aufgegeben hat. Der Verfasser jammert nicht, denn Jammern ist statisch, ja sogar lähmend. Hier erleben wir aber etwas dynamisches, etwas was voranbringt, weiterhilft und schließlich von der Klage zum Loben in einem tiefen Gottvertrauen mündet. Die Klagelieder vermitteln etwas von dem festen Vertrauen des Menschen auf Gottes Eingreifen in der Geschichte, auch wenn festgehalten werden muss, dass der Mensch in all seinem Tun nur unzulänglich ist. Die Sprache der Klagelieder bedient sich dabei wichtiger theologischer Begriffe wie „Güte“, „Barmherzigkeit“ und „Treue“. Diese Begriffe wollen das Kontinuum der Hilfe Gottes an seinem Volk deutlich machen und damit ferner die Dynamik des Textes unterstreichen. Gott steht zu seinem Volk, Gott verlässt auch den Leidenden nicht, er erinnert sich an sein Volk. In diesem Sinne ist der Text auch ein seelsorgerlicher Text, weil ein Mensch sich in seiner Verzweiflung und Einsamkeit an Gott wendet. In der Erinnerung an Gottes gute Taten, in Erinnerung an erlebte Geschichte, erhält er neue Kraft und Hoffnung. Wichtig ist dabei, dass der Grund der Klage, das zerstörte Jerusalem, nicht einfach beiseite geschoben wird. Die Stadt bleibt zerstört, aber indem der Verfasser dieses Lied singt, weist er auf einen zukünftigen Aufbau und auf neues Leben in Jerusalem sub specie aeternitatis hin.Literatur:
Hans-Joachim Kraus, Klagelieder (Threni), BKAT Bd. XX, Neukirchen-Vluyn 1968; Christoph Levin, Artikel Klagelieder, in: RGG 4, Bd. 4, Tübingen 2001, Sp. 1394-1396; Gunther Wanke, Artikel Klagelieder, in: TRE Bd. 19, Berlin 1990, 227230.Liebe Gemeinde!
Jerusalem, ist zerstört, der König ist abgesetzt. Die Feinde haben den Tempel in Jerusalem zerstört, wir befinden uns im Jahre 587/86 v. Chr. Gott will von seinem Tempel nichts mehr wissen, seinen Altar hat er entweiht. Diese Klage erhoben die Menschen damals. All das, was sie erlebt hatten, all das, was sie beschwert hatte, beeinflusste ihr Leben. Mit gesenktem Haupt und schwerem Schritt versuchen sie nach der Katastrophe von 589 ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen.
Erinnert uns diese Situation nicht an die Menschen, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg wieder neu orientieren mussten, oder an die Menschen, die im Augenblick in New Orleans und Umgebung sich in einer verzweifelten Notlage angesichts ihrer zerstörten Städte befinden? Die Städte in dieser Region liegen durch den gewaltigen Hurrikan Katrina in Trümmern, es gibt nichts mehr zu essen, viele Menschen haben kein Dach mehr über dem Kopf, überall, wo man hinschaut Verwesung, Leichengeruch oder verschmutztes Wasser. Tagelang herrschte in New Orleans Starrheit, es dauerte mehrere Tage, bis schließlich die Hilfsmaßnahmen anliefen.
Ist das nicht ein natürliches menschliches Verhalten? Wir sind stumm, es scheint nicht mehr weiter zu gehen. Die Menschen, die aus ihren Häusern getragen wurden vermitteln etwas von dieser Starrheit. Menschen sind durch das Ereignis des Wirbelsturmes überfordert, ihre Seele ist verletzt. Mit dem Schmerz und den Anforderungen wächst dann aber auf einmal auch die Kraft: Der Mensch will aus seiner Starrheit heraus und ruft und schreit: „Warum hast du Gott mir das angetan? Was hast du dir eigentlich dabei gedacht?“
Zerstörung, Klage, Leid. In diese Situation hinein spricht die Stimme des Glaubens auch den verzweifelten Menschen in Amerika zu: „Die Güte des HERRN ist’s, dass wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu, und deine Treue ist groß.”
Jeden Tag dürft ihr danken, dass ihr noch am Leben seid. Bei diesem Danken werden euch die Güte und Barmherzigkeit Gottes prägen. Darum dürft ihr wieder den Kopf heben und wieder in die Zukunft schauen, weil euch die Treue Gottes wieder neue Hoffnung gibt. Wer sich von Gottes Güte und Barmherzigkeit gehalten weiß, dem öffnet sich Gottes Zukunft auch nach einem gewaltigen Wirbelsturm mit soviel Zerstörung, Trauer und Leid.
Das hebräische Wort, das hier für Güte steht, können wir am besten mit Bundestreue übersetzen. Gott steht zu seinem Bund damals wie heute, auch wenn die Menschen ihm untreu werden. Jeden Morgen dürfen wir uns vergewissern, was er uns Menschen versprochen hat. Dabei ist wichtig festzuhalten, was Gott versprochen und was er nicht versprochen hat. Da ist zunächst, dass Gott nicht versprochen hat, dass Jerusalem nicht zerstört wird. Auch hat Gott nicht versprochen, dass ein König, der Gottes Gebote nicht beachtet, an der Macht bleibt. Und schließlich hat Gott auch nicht versprochen, dass der Tempel in Jerusalem nicht zerstört wird. Nach dieser Bestandsaufnahme frage ich: was hat Gott eigentlich den Menschen versprochen?
Jerusalem, die heilige Stadt Gottes, ist zerstört. Jerusalem steht auch für Gottes Volk, die Juden. Nicht nur damals, bei der Zerstörung von Jerusalem, wurden sie verfolgt und unterdrückt. Bis heute stellen Menschen den Juden nach, gibt es antisemitische Tendenzen auch in unserer Gesellschaft (und nicht nur in den Wahlprogrammen und Zeitschriften der NPD!). Gott hat zugesagt, dass er sein Volk erhält, dass er mit seinem Volk gehen wird. Darum wird jeder, der Gottes Volk nachstellt, am Ende scheitern und vernichtet werden, das hat Gott zugesagt und dieses Versprechen gilt ohne Einschränkung bis heute.
Der König in Israel ist abgesetzt. Der Begriff König ist neutestamentlich auf Jesus Christus zu übertragen: Wie Jerusalem zerstört wurde, so ist Jesus gekreuzigt worden. Durch seine Auferstehung hat er Leid, Klage und Tod besiegt. Darum bekommt jeder, der an Jesus Christus glaubt, statt Leid und Klage Gottes Güte und Barmherzigkeit zugesprochen. Gott wird abwischen alle Tränen, das hat er uns zugesagt. Gottes Güte sorgt dafür, dass wir trotz Leid auch wieder Hoffnung finden können.
Der Tempel in Jerusalem wurde zerstört und verbrannt. Der Tempel steht im übertragenen Sinne für die christliche Kirche. Damit ist nicht die sichtbare Gestalt der Kirche gemeint, sondern die Gemeinschaft der Gläubigen. Denn im Neuen Testament lesen wir, dass der Tempel Gottes aus den lebendigen Bausteinen seiner Mitglieder gebaut wird. Gottes Güte bewirkt, dass wir als gute Bausteine in diesen Bau dienen.
Das sind drei Aspekte, die uns in Erinnerung rufen wollen, was uns Gott in seinem Wort, wie wir es in der biblischen Botschaft Alten und Neuen Testaments überliefert haben, versprochen hat. Darauf dürfen wir ihn festlegen.
Noch einen weiteren Aspekt können wir aus Gottes Barmherzigkeit lernen. Beachten wir noch einmal einen Vers aus unserem Predigtwort: „Die Güte des HERRN ist’s, dass wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu, und deine Treue ist groß.”
Die Menschen in Jerusalem sind am Ende, ähnlich wie die Menschen in New Orleans und seiner Umgebung am Ende sind, sie gehen über die Ruinen ihrer zerstörten Hoffnung und ihrer einst wunderschönen Stadt. Sie haben nichts, und Gott gibt ihnen doch alles. Gott gibt alles, dazu muss ich zunächst mit leeren Händen vor Gott stehen – wie es z. B. in einem wunderschönen Lied von Huub Oosterhuis (übertragen von Lothar Zenetti) heißt: „Ich steh vor dir mit leeren Händen, Herr; fremd wie dein Name sind mir deine Wege. Seit Menschen leben, rufen sie nach Gott; mein Los ist Tod, hast du nicht andern Segen? Bist du der Gott, der Zukunft mir verheißt? Ich möchte glauben, komm du mir entgegen“. (EG 382,1)
Die Menschen in Jerusalem haben das buchstäblich erfahren, eine zerstörte Stadt, ein abgesetzter König und ein verbrannter Tempel. Gott hat ihnen alles genommen, damit sie merken, Gott gibt auch alles.
Wir dürfen alles von Gott erwarten, und das bedeutet letztendlich, dass wir von der Barmherzigkeit Gottes bestimmt sind. Wenn es um unser Heil, unsere Rettung zum ewigen Leben geht, gibt es bei Gott keine Kompromisse. Entweder Gott schenkt uns alles oder nichts. Wie sieht es in unserem Glaubensleben aus? Hier sind die Taten der Liebe und Barmherzigkeit gefragt, die ihre Grundlage darin haben, dass Gottes Güte und Barmherzigkeit unser Leben radikal, verändern.
Liebe Gemeinde! Was bleibt? Unser Glaube hängt nicht von unseren Gefühlen ab. Auch das gilt: Leid und Klage heben Gottes Güte nicht auf. Denn unser Glaube beruht darauf, dass Gott uns seine Barmherzigkeit, seine Güte und Treue nicht nur versprochen hat, sondern tagtäglich neu erweist. Das trägt uns durch Trauer, Klage, Not und Leid. Wenn wir aus dieser Quelle leben, dann wird unser Leben dadurch bestimmt sein. Als Christen/Christinnen sollen wir uns darum nicht von Klage und Leid leiten lassen, sondern wir dürfen uns ganz und gar der Güte und Barmherzigkeit Gottes anvertrauen. Dies gilt ohne Abstriche auch für die Menschen jetzt im Süden der Vereinigten Staaten! Oder um es mit Lothar Zenetti aus dem bereits angeführten Lied „Ich steh vor dir mit leeren Händen, Herr“ zu sagen: „Sprich du das Wort, das tröstet und befreit und das mich führt in deinen großen Frieden. Schließ auf das Land, das keine Grenzen kennt, und laß mich unter deinen Kindern leben. Sei du mein täglich Brot, so wahr du lebst. Du bist mein Atem, wenn ich zu dir bete“. (EG 382,3)
Amen.
gute Predigt