Vom eigenen Ich weg auf den Nächsten sehen

„…damit die Wärme nicht verschwindet aus diesem oft so kalten Land“

Predigttext: Jesaja 58,7-12
Kirche / Ort: Berufsförderungswerk der SRH Heidelberg
Datum: 02.10.2005
Kirchenjahr: 19. Sonntag nach Trinitatis
Autor/in: Pfarrer Dr. Harald Pfeiffer

Predigttext: Jesaja 58,7-12 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)

7 Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut! 8 Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des HERRN wird deinen Zug beschließen. 9 Dann wirst du rufen, und der HERR wird dir antworten. Wenn du schreist, wird er sagen: Siehe, hier bin ich. Wenn du in deiner Mitte niemand unterjochst und nicht mit Fingern zeigst und nicht übel redest, 10 sondern den Hungrigen dein Herz finden läßt und den Elenden sättigst, dann wird dein Licht in der Finsternis aufgehen, und dein Dunkel wird sein wie der Mittag. 11 Und der HERR wird dich immerdar führen und dich sättigen in der Dürre und dein Gebein stärken. Und du wirst sein wie ein bewässerter Garten und wie eine Wasserquelle, der es nie an Wasser fehlt. 12 Und es soll durch dich wieder aufgebaut werden, was lange wüst gelegen hat, und du wirst wieder aufrichten, was vorzeiten gegründet ward; und du sollst heißen: »Der die Lücken zumauert und die Wege ausbessert, daß man da wohnen könne«.

Homiletische Bemerkungen

Die Predigt richtet sich an eine bunt gemischte Zuhörerschaft aus allen Bundesländern. Überwiegend junge Menschen mit körperlichen handycaps, in der Mobilität eingeschränkt: Ausbildungsteilnehmer/innen in der Umschulung (berufliche Rehabilitation im Berufsförderungswerk der SRH Heidelberg); Sudierende an der Fachhochschule der SRH; Mitarbeiter/innen aus dem SRH-Unternehmen; Patienten aus dem Kurpfalzkrankenhaus (SRH) sowie Gäste aus verschiedenen Stadtteilen und auswärtigen Orten. Die meisten Predigthörer – unter ihnen Kirchenferne, Skeptiker, Zweifler – sind von schweren Lebensschicksalen geschlagen, tragen ihre seelischen Lasten seit Jahren. Jeder sucht nach Lebensperspektiven, wünscht sich geistlichen Halt, erhofft sich etwas Geborgenheit in der Spiritualität. Ein guter, aufbauender, mutmachender Gedanke sollte hängen bleiben. Eine verständliche Sprache wird geschätzt. Der Gottesdienst muss Qualität haben, Sinnfindung bieten, der Besuch muss sich lohnen. Im Mittelpunkt der Predigt stehen vier klare Aufrufe des Propheten Jesaja: 1. Ladet die Hungernden an euren Tisch 2. Nehmt die Obdachlosen in euer Haus auf 3. Helft allen, die Hilfe brauchen 4. Wenn ihr euch den Notleidenden zuwendet, dann wird euer Leben hell werden Diese vier Aufrufe münden im letzten Aufruf in eine Botschaft: Wenn ihr euch der Menschen auf der Schattenseite annehmt, dann wird es hell in euch, dann könnt ihr von eurer Wärme abgeben. Wer teilt, lebt erfüllt.

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Unser Erntedankschmuck ist wieder eine bunte Pracht. Er leuchtet in Regenbogenfarben, schimmert rot, gelb, blau, grün. Bananen, Äpfel, Weintrauben, Kürbisse, Nüsse, Sonnenblumen, Weinlaub – und nicht zu vergessen: die Ähren und das Brot. Quer durch Obstgarten und Gemüsebeet, durch Feld, Wald und Flur. Erntedank. Dank dieser Ernte strotzt der Altar. Auch in diesem Jahr haben wir trotz Wirtschaftsflaute und schlechter Stimmungslage wieder Grund genug zum Danken. Dank an den, der alles hat wachsen lassen. Wie heißt es bei Matthias Claudius: „Wir pflügen und wir streuen den Samen auf das Land, doch Wachstum und Gedeihen steht in des Himmels Hand.“

Wir danken heute für alles, was ein Mensch braucht: für Essen und Trinken, für das Dach über dem Kopf und die Kleider am Leib. Das ist das mindeste, was ein Mensch braucht. Dazu Familie, Freunde, einen gesunden Körper und ein wenig Geld. Wir haben nicht nur das, wir haben alles. Wir leben im Luxus. Wir stehen auf der Sonnenseite. Gott sei Dank! Aber wo Licht ist, fällt auch Schatten. Darum holt ein Gottesmann aus alter Zeit, der Prophet Jesaja, heute am Erntedankfest die Menschen auf der Schattenseite hierher. Mitten vor die bunten Früchte. Er lässt Gott zu Wort kommen, und der bringt es auf den Punkt: „Ladet die Hungernden an euren Tisch, nehmt die Obdachlosen in euer Haus auf, gebt denen, die in Lumpen herumlaufen, etwas zum Anziehen und helft allen, die Hilfe brauchen!“ Das klingt wie ein politischer Aufruf, ist aber prophetische Rede. „Ladet die Hungernden an euren Tisch.“ Dieser Menschenrechtsartikel steht im Kapitel 58 bei Jesaja. Danken kommt schließlich von denken. Deshalb denken wir an die Menschen, die im Schatten stehen und denselben Herrn bekennen.

„Ladet die Hungernden an euren Tisch“

Unsere erste Adresse lautet: „Ladet die Hungernden an euren Tisch“. Ich frage Sie heute: „Haben Sie schon mal Hungernde an Ihren Tisch geladen?“ Nein? Dann hören Sie, was Herr José Garcia in der Nähe Valencias in Spanien erlebt hat. Der wurde beim Brombeersammeln durch einen Hund gestört, der ihn dauernd umkreiste und ihn schließlich durch sein seltsames Verhalten veranlasste, ihm zu folgen. Der Hund marschierte geradewegs auf ein Bahngleis zu, wo ein neunjähriges Mädchen den Fuß in einer Schiene festgeklemmt hatte. Während sich Herr Garcia vergeblich bemühte, das Kind aus seiner gefährlichen Lage zu befreien, brauste ein Zug heran. Der Mann rannt ihm winkend und schreiend entgegen, und es gelang dem Lokführer, tatsächlich zu bremsen. Vereint schafften es die beiden dann auch, den Fuß des Mädchens zu befreien. Wie sich später herausstellte, hatte die Neunjährige vor ihrem Unfall ihr Butterbrot mit dem streunenden Hund geteilt und dieser ihr wahrscheinlich aus Dankbarkeit das Leben gerettet. Wer teilt, erfährt Dank. Teilen und Danken gehören zusammen.

„Nehmt die Obdachlosen in euer Haus auf“

Die zweite Adresse lautet: „Nehmt die Obdachlosen in euer Haus auf“. Bei dieser Aufforderung muss ich passen, habe hier offen gestanden meine Probleme. Ich erinnere mich aber an ein Ehepaar in Walldorf, das einen wohnsitzlosen älteren Herrn tatsächlich in einem einfachen Hofgemäuer aufgenommen hatte. Noch heute gebührt diesem Ehepaar alle Achtung für das soziale Engagement. Wir sehen, wie schwer es ist, biblischen Aufrufen nachzukommen. Die Bitte “Nehmt die Obdachlosen in euer Haus auf“ bleibt in unserer Wohlstandsgesellschaft wohl meistens ein frommer Wunsch. Dennoch gilt die Bitte.

„Helft allen, die Hilfe brauchen“

Die dritte Adresse lautet: „Helft allen, die Hilfe brauchen“. Gott sei Dank finden sich Menschen, die diese Aufforderung beherzigen. Aus aktuellem Anlass denke ich an die beiden Helfer des Technischen Hilfswerkes vom Stützpunkt Ladenburg. Die beiden Männer waren nach den verheerenden Hurrikan-Verwüstungen in der menschenleeren Stadt New Orleans damit beschäftigt, vier der 15 Hochleistungspumpen zu bedienen. So haben sie über 700000 Kubikmeter Schmutzwasser aus der überfluteten Stadt abgepumpt. Hier hatten verzweifelte Menschen und wimmernde Kinder tagelang ohne Essen im stinkenden Elend der verwüsteten Stadt vor sich hinvegetieren müssen. Es gibt sie also, die Menschen, die bei 45 Grad Hitzetemperaturen Leib und Leben riskieren, um für Andere dazusein. „Helft allen, die Hilfe brauchen.“ Ein einfacher Aufruf, wie schwer aber, ihm nachzukommen!

„Wenn ihr euch den Notleidenden zuwendet, dann wird euer Leben hell werden“

Die vierte, letzte Adresse lautet: „Wenn ihr euch den Notleidenden zuwendet, dann wird euer Leben hell werden“. Ich denke da an jene sechsköpfige Familie in einer Favela, einem Elendsquartier brasilianischer Großstädte. Ein Bischof kommt in solch eine Favela, um Ordensschwestern zu besuchen. Aber sie sind nicht in der Wellblechhütte, die sie früher bewohnt hatten. Er findet sie zwei Häuser weiter, nunmehr nur noch mit einem Raum. „Was ist los?“ fragte er die Schwestern. „Ach, Herr Bischof, das ist schnell gesagt. In diesem Haus wohnte in diesem einen Zimmer, das sie gemietet hatten, eine sechsköpfige Familie. Wir Schwestern waren drüben zu zweit mit zwei Räumen. Da haben wir uns gesagt: Ist es nicht richtiger, dass wenigstens die Familie zwei Räume hat? Wir können auch mit einem auskommen. Und das haben wir der Familie angeboten, und die war selig, in zwei Räume zu ziehen. Und so sind wir umgezogen.“ „Aber“, fügten sie hinzu, „da Sie gerade nach unserer Wohnung fragen, da wollen wir Ihnen noch etwas erzählen, was uns beide tief berührt hat. Als wir nämlich vorige Woche in unsere alte Wohnung gingen, um die Familie zu besuchen, da saß sie wieder zu sechst auf einem Zimmer, und in dem zweiten hatte sich eine andere Familie mit sieben Personen niedergelassen. Wir machten große Augen. Aber die Frau sagte zu uns, gleichsam um sich zu entschuldigen: ‚Schwester, nachdem wir einige Tage umgezogen waren, da stand auf der Straße eine andere Familie, die wir nicht kannten, die war völlig mittellos, sie kam gerade von Nordosten, Zuwanderer wie wir alle. Da haben wir gemeint: Ehe die Familie ohne was über dem Kopf auf der Straße steht, können wir auch zusammenrücken, das sind wir ja gewohnt. Und seitdem ist die Familie unser Nachbar.’“

„Wenn ihr euch den Notleidenden zuwendet, dann wird euer Leben hell werden.“ Offenbar gelingt das Menschen in den Armenvierteln besser als uns in unserer Luxuswelt. Da sind wir zu sehr mit uns selbst beschäftigt. Ich habe ein Lied gefunden, das vom eigenen Ich wegsieht auf den Nächsten, Michael Kunze hat es gedichtet:

„Mein größter Wunsch: Lasst Wärme zu und auch Vertrauen. Lasst Liebe möglich sein, damit sie uns berührt. Wir sollten grad in dieser Zeit die Brücke bau’n, auf der ein Weg zum Nächsten führt… Mein letzter Ton sei wie ein Band, ein starkes Band, das uns verbindet, damit die Wärme nicht verschwindet, aus diesem oft so kalten Land. Mein größter Wunsch: Wir nähmen dieses Leben wie ein Abenteuer, ganz mutig, denn ein Mutiger kann kaum verlier’n. Ich zünd es an, ihr reicht es weiter, dieses Feuer der Wärme und des Glücks, damit wir nicht mehr frier’n“.

Soweit der Liedtext. Nicht sich selbst als Mittelpunkt der Welt sehen. Den Anderen im Auge haben, ihn berücksichtigen. Und zwar deshalb, weil wir nicht allein auf dieser Erde sind. Ich kenne einen, dem das gelang, dem nichts wichtiger war, als sich um die Menschen um ihn herum zu kümmern. Wo er auftrat, horchten andere auf:

So setzt er Lahme in Bewegung;
öffnet Blinden die Augen,
schenkt Tauben Gehör und Stimme;
entdeckt selbst im allergequältesten Menschen unendliche Chancen;
bringt Lachen in die Gesichter der Traurigen,
stärkt den Gebeugten das Rückgrat;
hebt den Niedergeschlagenen den Kopf;
wärmt Fröstelnde wie ein Frühsommertag

– es ist Jesus Christus. Von ihm können wir lernen. Möge sein Geist unser Leben bestimmen. Dann wird es hell in uns, und wir können von unserer Wärme abgeben. Wer teilt, lebt erfüllt.

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