Geschenktes Leben
Gedanken zum Grundanliegen der Reformation heute
Worauf es ankommt
Von Zeit zu Zeit ist es an der Zeit, das Wichtigste zu sagen. Damals im 16. Jahrhundert und heute wieder. Das Zentrale. Das, worauf es ankommt im Christsein und im Menschsein überhaupt – nämlich: Ich bin, was ich bin, nicht durch mich selbst, nicht aufgrund meiner eigenen Fähigkeiten und Leistungen. Ich bin, was Gott in Christus aus mir macht und ein für alle Mal gemacht hat: geliebtes Gotteskind aus freier Gnade als ein unverdientes Geschenk. Im Verständnis der Reformation ist hier die Mitte der Botschaft des Evangeliums formuliert: die Rechtfertigung des Menschen aus Gottes Gnaden und nicht aus eigenen Werken. Die Anlässe und Zeitumstände auf das Wesentliche dieser Botschaft zurückzukommen, mögen durch die Jahrhunderte variieren, doch der Kern der Antwort bleibt derselbe.
Martin Luthers Neubetonung der biblischen Rechtfertigungsbotschaft und ihre Bedeutung für uns heute
Martin Luthers Neubetonung der biblischen Rechtfertigungsbotschaft hat durchaus irdische, welthafte Konsequenzen: Sie reichen hinein bis in die individuellen und sozialen Lebensbeziehungen. Schenkt sie doch die freie Gnade des Seindürfens.
Wir verdanken unser Leben nicht unseren eigenen Leistungen und Sinngebungen. Deshalb finde ich mein Leben nicht in mir selbst, auch nicht in meinen besten Anteilen, sondern im Glauben an den, der alles für mein Leben gegeben hat. Das ist Gnade: meine Existenz, ihr Sinn und ihr Gelingen wird mir geschenkt.
In unserer Leistungs- und Wettbewerbsgesellschaft droht ein Mensch jeweils nur so viel zu gelten, wie er leistet, gemäß dem Grundsatz: „Kannst du was, dann bist du was – darum lasst uns möglichst viel leisten, damit wir uns möglichst viel leisten können!“ Doch was geschieht, wenn jemand keine Leistungen vorzuzeigen hat, wenn er oder sie sich nur Verfehlungen „geleistet“ hat, sich plötzlich als jemanden ertappt, der ein Leben lang auf eine falsche Ideologie gesetzt hat, wenn die Kräfte nachlassen, wenn die Arbeit verloren geht und die Arbeitslosigkeit bleibt? Hat dann das Ich seinen Wert verloren und das Leben seinen Sinn eingebüßt?
Hier kommt die Rechtfertigungslehre ins Spiel. Höchste Zeit für das Wesentliche des Evangeliums. Statt dem Ökonomismus das Feld zu überlassen („Ich bin, was ich leiste!“), ist der Kern der reformatorischen Botschaft so dringend auszurichten wie schon lange nicht mehr: „Du Mensch, deine Existenz ist nicht selbstgemacht, deine Identität hat Geschenkcharakter!“ Durch seine Leistungen ist noch niemand zur Bestätigung seines Ichs, zu einer dauerhaften Stärkung seines Selbstwerts und damit zur Identität gelangt. Von seinen Leistungen aus gesehen ist am Ende jeder Mensch an jedem Ort, zu jeder Zeit ersetzbar – nur die geliebte Person nicht! Die Liebe befreit vom Fluch des Zwangs zur Selbstverwirklichung und befähigt zur Selbstannahme.
…damit unsere Gesellschaft nicht zum Big-Brother-Container verkommt
Nach dem denkwürdigen Thesenanschlag vom 31. Oktober 1517 ergab sich für Martin Luther die Gelegenheit, in Heidelberg seine reformatorischen Gedanken zur Diskussion zu stellen. In der Heidelberger Disputation vom April 1518 heißt es in These 28: „Die Liebe Gottes findet ihr liebenswertes Gegenüber nicht vor, sondern schafft es“. Ein Verhältnis der Liebe sperrt sich dem menschlich Machbaren und Herstellbaren; es verdankt sich dem Schöpfungsakt Gottes.
„Leben – geschenkt!“ Und gerade in seinem Geschenktsein ist es das Teuerste und denkbar Wertvollste! Diese zarte Botschaft braucht Fürsprecher. Damit unsere Gesellschaft nicht zum Big-Brother-Container verkommt, in dem ein Brutal-Darwinismus zum Unterhaltungsprinzip gemacht und quotenbringend inszeniert wird. „Der Schwächste fliegt raus!“– das ist eine ebenso gottlose wie menschenverachtende Formel. Das Thema der Rechtfertigung aus Gnaden darf demgegenüber kein theologisches Lehrstück bleiben. Vielmehr soll und wird es angesichts der Tendenzen gesellschaftlicher Entsolidarisierung seine korrigierende Kraft ausspielen: „Auch der Schwächste bleibt!“
„Reformation“ nicht mehr ein Synonym für Trennung – „Grundkonsens“ in der Rechtfertigungslehre
„Reformation“ ist Gott sei Dank längst nicht mehr ein Synonym für Trennung. Nach jahrzehntelangem Dialog haben Lutheraner und Katholiken in einer Gemeinsamen Erklärung einen „Grundkonsens“ in der Rechtfertigungslehre festgestellt und zugleich ihre früheren gegenseitigen Lehrverurteilungen aufgehoben. Das ist gut so. Das Datum der Reformation – von den Kirchen in Heidelberg auch in diesem Jahr wieder in ökumenischer Verbundenheit gottesdienstlich gefeiert – stellt viel mehr eine Herausforderung an alle Christinnen und Christen dar, sich einzuschalten in die Suche nach Sinn und Identität des Menschen heute jenseits des Machbaren und Leistbaren.