Martin Luther contra Ablass: Ewiges Leben kann man nicht kaufen
Nimmt heute das Thema Erziehung und Bildung die Stelle des früheren Ablasses ein?
Predigttext: Matthäus 10,26b-33 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
(Jesus spricht:) Es ist nichts verborgen, was nicht offenbar wird, und nichts geheim, was man nicht wissen wird. Was ich euch sage in der Finsternis, das redet im Licht; und was euch gesagt wird in das Ohr, das predigt auf den Dächern. Und fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, doch die Seele nicht töten können; fürchtet euch aber viel mehr vor dem, der Leib und Seele verderben kann in der Hölle. Kauft man nicht zwei Sperrlinge für einen Groschen? Dennoch fällt keiner von ihnen auf die Erde ohne euren Vater. Nun aber sind auch eure Haare auf dem Haupt alle gezählt. Darum fürchtet euch nicht; ihr seid besser als viele Sperrlinge. Wer nun mich bekennt vor den Menschen, den will ich auch bekennen vor meinem himmlischen Vater. Wer mich aber verleugnet vor den Menschen, den will ich auch verleugnen vor meinem himmlischen Vater.Anhang zum Nachdenken
Eine kleine hymnologische Pädagogik
„Die Lehrer werden mit viel Segen geschmückt“. Das war schon zu Luthers Zeit eine gewagte Behauptung, auch wenn manche Gesangbücher aus der Zeit der frommen Aufklärung des 18. und 19. Jahrhunderts noch eine Rubrik „Christliches Verhalten gegen Religionslehrer“ hatten. Pädagogische und pastoraltheologische Belehrungen waren noch um 1800 nicht nur Gegenstand von Verordnungen oder Hirtenbriefen. Sie wurden auch auf dem Weg über das Gesangbuch den Gemeindegliedern „verinnerlicht“! Ein Beispiel dafür ist das 1800 von Johann Wilhelm Recke (1764-1835) aus Lennep herausgegebene Gesangbuch: „Christliche Gesänge zur Beförderung eines frommen Sinnes und Wandels und zum Gebrauch bei der öffentlichen und häuslichen Gottes-Verehrung. Elberfeld, Druck und Verlag von Sam. Lucas“. Das Gesangbuch wurde 1808 in Lennep eingeführt und war dort bis 1860 in Gebrauch. Als Lied Nr. 384 wurde hier auf die Melodie „Es ist gewißlich an der Zeit“ gesungen: (1) „Dein ist das Licht, das uns erhellt, Von dir das Amt der Lehrer. Gott, welch Geschenk für deine Welt, Für deines Worts Verehrer! Dies lehr uns deiner Boten Mund, Und mache so dein Reich uns kund, Damit wir selig werden“. (2) O welch ein Amt, Betrug und Wahn Und Laster zu bestreiten, Und Seelen auf der Tugend Bahn Zu dir, o Gott, zu leiten! Wie edel! Aber auch, wie schwer! Laß jeden Lehrer immer mehr Den hohen Ruf erwägen! (5) Gib, daß mit Rührung und mit Lust, Wenn sie uns unterweisen, Sie, deines Segens sich bewußt, Der Tugend Werth uns preisen. Laß nicht blos ihren Unterricht, Laß uns auch ihres Beispiels Licht, Auf deine Wege leiten! (7) Trifft sie Verfolgung oder Spott; So gib, daß sie mit Freuden, Zu deiner Ehre, großer Gott, Auch für die Wahrheit leiden, Du sendest sie; sie ehren Dich. Umsonst empört die Hölle sich Die Wahrheit zu vertilgen“. Auf die Melodie „Herr Jesu Christ, mein‘s Lebens Licht“ wurde als Lied Nr. 385 gesungen: (1) „Das Amt der Lehrer, Gott, ist dein; Dein soll auch Dank und Ehre sein, Daß Du der Kirche, die du liebst, Noch immer treue Lehrer gibst. (2) Gesegnet sei ihr Amt und Stand! Sie pflanzen, Herr, von dir gesandt, Von Jahr zu Jahr dein heilig Wort, Und mit ihm Licht und Tugend fort. (7) Laß ihrer Fehler wegen nicht, Verachtet sein ihr Unterricht! Nimm, Gott, auch ihrer Schwachheit dann, So wie der unsrigen dich an! (8) Der Frevel sei verbannt, o Gott, Zu kränken sie durch Haß und Spott! Gib, daß ihr Herz von Seufzern frei, Und fern von bangen Sorgen sei“. In der Rubrik „Schul- und Jugendlehrer- (In Schulen, und bey Schulprüfungen)“ finden sich im „Gesangbuch zum gottesdienstlichen Gebrauche für protestantisch-evangelische Christen“ (Speyer 1825) –es war noch das Gesangbuch meines pfalzbayerischen Urgroßvaters- unter den Nummern 402-406 ebenfalls eine gereimte Berufsethik und Fürbitte der Gemeinde für Lehrer. Auf die Melodie „Wer nur den lieben Gott läßt walten“ war als Lied Nr. 402 zu singen: (1) Gib, Gott, dem Lehrer Glück und Kräfte zu seinem segensreichen Stand, ihm, den zum Heiligungsgeschäfte du uns, als Beystand, zugesandt! Hilf du ihm, Vater, seine Treu Sey jeden Morgen an uns neu! (2) Laß dir auf allen seinen Wegen, den du uns gabst, empfohlen seyn; beglücke, was er thut, mit Segen, und jede Aussaat mit Gedeih’n. Für unser Wohl schlag‘ ihm das Herz; was ihn betrübt, sey uns auch Schmerz. (3) Knüpf‘ zwischen ihm und uns der Liebe und des Vertrauens vestes Band; es reiche, mit aufricht’gem Triebe, ein jeder dankvoll ihm die Hand. Wer Gott und sein Wort liebt und ehrt, der hält auch seine Lehrer werth. (4) Einst laß uns freudig ihm begegnen, der Gottes Weg uns gehen hieß, ihn mit entzückter Rührung segnen, daß er ihn uns so treulich wieß. Er find‘ im höher’n Vaterland Uns wieder, wie er hier uns fand! (5) Dort rufen, (möge Gott es geben!) mit höher’m Dank, wir ihm zu: Heil sey dir! Denn du hast das Leben, die Seele uns gerettet, du! O Gott, laß ihn dies Glück erfreu’n, und vieler Seelen Retter seyn!“ Auf die Melodie „Mein Jesus ist mein Leben“ war Lied Nr. 403 zu singen: (1) „Die Menschen zu erziehen, bringt Heil für Welt und Staat. Gott, segne das Bemühen, laß reifen unsre Saat! (2) Ja, Nacht und Irrthum fliehet Da, wo dein Licht erhellt. Auch uns’re Schule blühet, durch dich, o Herr der Welt! (3) Mit kindlichem Gemüthe Singt Jeder dir heut‘ Preis; Denn deine Vatergüte Beglücket unsern Fleiß“. Auf die jährliche Schulprüfung bezieht sich Lied Nr. 405 (Melodie: Wie schön leuchtet der Morgenstern): (1) „Erfreulich sey, und feyerlich der Prüfung Tag, an welchem mich so viele Zeugen hören! Er kommt, mit ihm kommt Freud und Schmerz, hier freut sich hoch, dort bebt ein Herz, wenn sich die Zeugen mehren; Beyfall, Ehre, Lob und Liebe krönet heute Fleiß und Tugend. Heil dir, wohldurchlebte Jugend! (2) Wenn ich bisher gewissenhaft Und treu gebrauchte meine Kraft, nach meiner Pflicht stets lebte, und wenn, an treuer Lehrer Hand, mein Eifer immer unverwandt dem Ziel entgegen strebte; werd‘ ich da wohl stumm erröthend, ängstlich stammelnd heute beben, da ich Rechenschaft soll geben? (3) Dem Trägen klopft die bange Brust, er fühlet Wehmuth, statt der Lust; muß Thorheit nun bereuen. Der aber, der im regen Fleiß Die Zeit durchlebte, erntet Preis, und kann sich heute freuen. Alles Gute wird belohnet von dem Vater unsers Lebens. Nur der Träge hofft vergebens“. Wie Psalm 84,7b zeigt, waren auch in der Lutherbibel einst ähnliche Vorstellungen zu lesen! In der heute gültigen revidierten Fassung siegt allerdings der Philologe über den Pädagogen!Ewiges Leben kann man nicht kaufen
Am Reformationsfest denken wir an den Mönch und Professor D. Martin Luther, wie er seine 95 Thesen an die Schloßkirchentür in Wittenberg anschlug. Wir erinnern uns, daß sie es vor allem mit dem sogenannten „Ablaß“ zu tun hatten, der mit der katholischen Beichtpraxis zusammenhängt und den damals der Dominikanerpater Johannes Tetzel vor den Toren Wittenbergs verhandelte. Wer damals einen Ablaßbrief kaufte, wollte Leben kaufen! Und zwar ewiges Leben! Von Jesus Christus herkommend hielt Luther dagegen: „Ewiges Leben kann man nicht kaufen. Es ist reines, unverdientes Geschenk“!
„Ablass“ damals – „Erziehung“ und „Bildung“ heute?
Wir sind heute eher am diesseitigen Leben interessiert, auch wenn Papst Benedikt XVI. allen am Weltjugendfest in Köln teilnehmenden Katholiken einen Ablaß gewährte. Und die Stelle, die damals der Ablaß einnahm, wird heute bei uns oft mit dem Thema „Erziehung“ und „Bildung“ besetzt. Und ist nicht der Protestantismus so etwas wie eine Bildungsreligion? Wenn auch Luthers Mitarbeiter Philipp Melanchthon den Ehrentitel „Praeceptor germaniae“ (Lehrer Deutschlands) trägt: Für das allgemeine, öffentliche Bildungswesen dürfte Luther die bedeutsamere Initialzündung gegeben haben. Darum ist es erlaubt, am Gedenktag der Reformation unseren Predigttext einmal unter dem Gesichtspunkt von Bildung und Erziehung zu betrachten!
Wo immer es darum geht, eine gute Sache zu fördern oder ein Übel zu beseitigen, wird nach „Bildung“ bzw. „Erziehung“ gerufen. Wer etwas für den Frieden tun will, fordert „Friedenserziehung“; wer die Gesundheit verbessern möchte, ruft nach einer umfassenden „Gesundheitserziehung“. Umwelterziehung, Verkehrserziehung, Freizeiterziehung, Sexualerziehung, Ruhestandserziehung: die Liste läßt sich beliebig verlängern. Wenn das alles in den Stundenplan der Schule hinein soll, genügt auch die Ganztagsschule nicht. „Erziehung“ wird für Menschen in jedem Alter, in jeder Lebenslage, in jedem Rang für notwendig erachtet: Kleinkinder-, Familien-, Schul-, Behinderten-, Betriebs-, Massen- und Eliteerziehung signalisieren es: Es geht um lebenslange Erziehung. „Erziehung“ ist wertvoll. Möglichst viel Erziehung tut also jedem gut. Treten individuelle und gesellschaftliche Probleme auf, wird gleich nach der Schule und dem Lehrer gerufen. Die müssen es schon richten! Wird das Übel aber nicht beseitigt, taugen eben beide nichts. In der „Pisa-Dämmerung“ wird der Ruf nach „Reformen“ vor allem im Bildungswesen laut. Wir kennen das zur Genüge.
Was ist eigentlich mit „Bildung“ und „Erziehung“ gemeint?
Doch bald gibt es eine Sprachverwirrung, die mich fast an die des Turmbaus von Babel erinnert. Was ist eigentlich mit „Bildung“ und „Erziehung“ gemeint? Ist beides dasselbe? Worin unterscheiden sie sich? Die einen lehnen Erziehung überhaupt ab (die sog. „Antipädagogik“); die Schule mache krank. Andere plädieren für „antiautoritäre“ Erziehung. Andere wiederum wollen mehr „Bildung“, was anderen wiederum den Quizmaster Günter Jauch mit seinem ungeordneten Allerlei vom Wissen einer bestimmten Popgruppe oder Schauspielerin bis hin zur chemischen Zusammensetzung von Stoffen und philosophischen Begriffen als Schreckgespenst einjagt; das abfragbare „Bildungskapital“ à la Jauch und Co. habe doch mit Bildung im Ursprungssinn des Wortes nur wenig gemeinsam. Die einen plädieren für eine strenge Wissenschaftsorientierung der Schule; die sog. polytechnische Erziehung war ja nicht nur in der ehemaligen DDR vorrangig. 1970 war in Hessen „Emanzipation“ die erzieherische Leitidee schlechthin. Für andere sind Computerkenntnisse und Telebanking entscheidend. Andere halten es lieber im Fitness-Studio oder bei Extremsportarten mit dem postmodernen Gottesdienst eines Körperkults, der den eigenen Leib zum Dom der Selbstanbetung macht. Babylonische Sprach- und Begriffsverwirrung: Heißt das letzten Endes: Bildung und Erziehung sind das, was jeder einzelne davon hält? Kann und soll jeder das machen, was er will? Erinnert das nicht auch an eine sprichwörtliche „protestantische Freiheit“?
Bildung ist Freiheit
In diesem Sommer habe ich in Mühlbach (dem heutigen Sebe?) in Rumänien am Giebel des Evangelischen Gymnasiums die Inschrift gesehen: „Bildung ist Freiheit!“ Wohl kaum hat man da an die „Freiheit“ gedacht, die zum Beispiel der neue VW-Geländewagen „Marrakesch“ für Zivilisationsmüde bringen soll, die dann als heroische Einzelkämpfer die Bahnen der Massenmobilität verlassen und in die Feld- und Waldwege ausweichen wollen, die also ins Auto einsteigen, um „auszusteigen“. Was evangelische Freiheit bedeutet: Am Reformationsfest sei hier einmal ausdrücklich auf Martin Luthers Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ von 1520 hingewiesen, die mit den Worten beginnt: „Damit wir gründlich erkennen können, was ein Christ ist und wie es um die Freiheit steht, die Christus ihm erworben und gegeben hat, will ich diese zwei Thesen aufstellen: „Ein Christ ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan[=verpflichtet]. Ein Christ ist ein dienstbarer Knecht in allen Dingen, und jedermann untertan [=verpflichtet“].
Die Chance von Gottes Wort und Gnade ergreifen
Und dies hat für Luther auch Auswirkungen auf die Frage von Bildung und Erziehung! Hier sei kurz auf seinen Offenen Brief „An die Ratsherren aller Städte Deutschlands, christliche Schulen einzurichten und zu unterhalten“ von 1524 hingewiesen. Da stehen aufrüttelnde Sätze drin! Zum Beispiel: „Meine lieben Freunde. Wenn man Jahr für Jahr so viel aufwenden muß für Gewehre, Wege, Steige, Dämme und dergleichen unzählige Dinge mehr, damit eine Stadt Frieden und Ruhe habe, warum sollte man nicht viel mehr oder doch genauso viel für die arme bedürftige Jugend aufwenden, indem man ein oder zwei geeignete Männer als Lehrer anstellt?… Ihr lieben Deutschen, kauft, solange der Markt vor der Türe ist. Denn das müßt ihr wissen: Gottes Wort und Gnade sind wie ein schnell vorübergehender Platzregen, der nicht dahin zurückkommt, wo er einmal war… Soll man denn zulassen, daß nur noch Grobiane und Flegel regieren, wenn man es bessern kann?… Die Wissenschaften und Sprachen dienen dazu, (1) die Heilige Schrift zu verstehen und (2) weltlich zu regieren. ..“ Luther geht es im Blick auf die Schule ja nicht nur um ihre Bedeutung „für das geistliche Leben und das Heil der Seele“. Er schreibt ausdrücklich: „Wir wollen uns auch den Leib vornehmen und fragen, ob das weltliche Regiment nicht viel mehr gute Schulen und gelehrte Leute braucht als das geistliche?“
Der Schmuck der Lehrer/Lehrerinnen
Von hier aus ist auch Luthers Übersetzung des 84. Psalms zu verstehen, wo es in V 7b heißt: „Und die Lehrer werden mit viel Segen geschmückt“. Schauen wir aber einmal in die neueste Ausgabe der Lutherbibel hinein! Da heißt es: „Wohl den Menschen, die dich für ihre Stärke halten und von Herzen dir nachwandeln! Wenn sie durch das dürre Tal ziehen, wird es ihnen zum Quellgrund, und Frühregen hüllt es in Segen“. Fast könnte man einen bekannten Chanson ein wenig umdichten: „Wo sind die Lehrer, wo sind sie geblieben?“ In wissenschaftlichen Psalmenkommentaren ist zu dieser Stelle zu lesen: „Der Text ist fraglos verderbt. Das Versstück kann nur versuchsweise wiedergegeben werden“ (Hans-Joachim Kraus). Nun: Martin Luther hat sich hier an die lateinische Bibelausgabe seiner Zeit, die Vulgata gehalten. Und da steht „Doctor“, was mit „Lehrer“ übersetzt werden kann. Vielleicht war bei diesem Rückgriff auf den lateinischen Text auch seine Erkenntnis wichtig: Der biblische Glaube und das weltliche Regiment sind auf Lehre angewiesen; gute Lehrer sind eine Gabe Gottes. Bei Luther siegte der Pädagoge über den Philologen!
Die Frage nach den Lehrern ist nicht neu. In der Geschichte sind Lehrer genauso umstritten wie etwa Pfarrer und Juristen. Wie im 18. Jahrhundert eine Lehrerwahl vor sich ging, ist in einem Protokoll nachzulesen. Da hatte sich ein Schuster, ein Weber, ein Schneider, ein Kesselflicker und ein invalider Unteroffizier um eine Schulstelle beworben. Sie mußten vor dem Pfarrer, dem Schultheiß und den Gemeinderäten buchstäblich „vorsingen“. Einstimmig wurde der Weber gewählt, von dessen Vorstellung das Protokoll berichtet: „Er hat gesungen ‚O Mensch, bewein dein Sünde groß‘, ‚Zeuch ein zu deinen Toren‘, ‚Wer nur den lieben Gott läßt walten‘. Die Melodie ging in viele andere Lieder über. Die Stimme sollte stärker sein; sie quiekte mehrmalen, so nicht sein muß. Gelesen Josua 19,1-7 mit 10 Fehlern, buchstabieren Josua 18,23-26 ohne Fehler. Dreierlei Handschriften gelesen, schwach und mit Stocken; drei Fragen aus dem Verstand, hierin gab er Satisfaction. Dictando drei Zeilen geschrieben, 5 Fehler. Des Rechnens auch nicht kundig“. Die anderen Bewerber boten zum Teil bessere Leistungen. Gegen sie gab es aber Vorurteile: Der Kesselflicker „streiche zuviel durch die Lande“; der „einbeinige Kriegsknecht“ könnte „zu stark die Fuchtel gegen die armen Kindlein gebrauchen“. Über den Erfolg des Lehrens und Lernens gibt z. B. ein Bild des Niederländers Jan Steen aus dem 17. Jahrhundert, das in der berühmten Eremitage in St. Petersburg hängt, Auskunft. Da versuchen Kinder, einer Katze das Lesen beizubringen. „Alles für die Katz“ – dies ist eine mögliche Deutung des Bildes. In einem anderen Bild von Jan Steen hilft die Lehrersfrau im Unterricht ihrem Gatten, die große Zahl der Schüler zu bändigen. Sie vertritt ihn auch, wenn er wegen seiner kargen Besoldung während des Unterrichts seinen Nebentätigkeiten nachgeht. Was Lehrerinnen anbelangt, so heißt es noch im württembergischen Schulgesetz von 1877: Sie haben keinen Anspruch auf ein Ruhegehalt, denn „die Anstellung weiblicher Individuen im öffentlichen Dienst auf Lebenszeit steht im Widerspruch mit dem Wesen und der Natur des Weibs“.
Noch einmal zurück zu unserem Psalm in Luthers Übersetzung: „Die Lehrer werden mit viel Segen geschmückt“. Das war schon zu Luthers Zeit eine gewagte Behauptung, auch wenn manche Gesangbücher aus der Zeit der frommen Aufklärung des 18. Und 19. Jahrhunderts noch eine Rubrik „Christliches Verhalten gegen Religionslehrer“ hatten. Im Gesangbuch meines pfalzbayrischen Urgroßvaters hieß es:
„Das Amt der Lehrer, Gott, ist dein;
Dein soll auch Dank und Ehre sein,
Daß du der Kirche, die du liebst,
Noch immer treue Lehrer gibst…
Laß ihrer Fehler wegen nicht,
Verachtet sein ihr Unterricht!
Nimm, Gott, auch ihrer Schwachheit dann,
So wie der unsrigen, dich an!“
Auf der anderen Seite bleibt jeder, der pädagogisch engagiert liest, was Dichter und Memoirenschriftsteller über die Schule zu sagen haben, betroffen zurück. Die Schule erscheint in nicht wenigen Fällen als der Ort kindlichen Leidens. Enttäuschung, Anklage und Protest lenken offenbar die Feder der Schreibenden. Schule selbst wird als etwas Bedrückendes und Freudloses erfahren. Wenn man dagegen liest, welch hehre Ziele gleichzeitig von den Pädagogen proklamiert wurden und welche Ideale in Verfassungen, Gesetzen, Schulordnungen und Lehrplänen formuliert sind, hat man den Eindruck, hier sei von einer ganz anderen Wirklichkeit die Rede. Dieser Kontrast ist bedrückend.
Der bei uns früher einmal eng mit der Kirche verbundene Beruf des Lehrers ist heute zwar ein säkularer, ein weltlicher Beruf. Nicht nur das Stichwort „Professionalisierung“ zeigt dies an. Allerdings ziehen Bildung und Erziehung auch heute Erwartungen auf sich, die fast „religiös“ sind. Hinter der Forderung nach mehr institutionalisierter und professionalisierter Erziehung steht oft die Überzeugung: „Erziehung entscheidet unser Schicksal“. Man könnte da fast von einer verweltlichten Theologie sprechen. In einem UNESCO-Bericht über Ziele und Zukunft unserer Erziehungsprogramme wird der durch Erziehung zu schaffende „neue“ bzw. „vollkommene Mensch“ so vorgestellt: „Der zukünftige Mensch ist ein Mensch, dessen Kenntnisse und Handlungsmöglichkeiten sich so erweitert haben, daß ihm die Grenzen des Möglichen in unendliche Ferne gerückt zu sein scheinen“. Seine Kenntnisse von der äußeren wie von der inneren Welt „machen ihn zum potentiellen Herrscher über sein Schicksal“. Eine kühne Vision, die aber gleichzeitig ein gewaltiges Versprechen beinhaltet: Der Mensch als Schöpfer und Herr seiner selbst!
Wer Versprechungen unbesehen glaubt, setzt sich der Gefahr aus, getäuscht zu werden. Wie oft und wie leicht schlägt pädagogischer Optimismus in Pessimismus um. Die „Antipädagogik“ hat bekanntlich viele Gesichter. Lehrerinnen und Lehrer geraten schnell in den Widerstreit verschiedenster Interessen. Es ist zuweilen rührend, die verschiedensten Definitionen von „pädagogisch“ zu lesen, die oft auf Appelle hinauslaufen oder von jeweiligen Moden abhängig sind. Fordern ist bekanntlich leichter als fördern!
Martin Luthers Plädoyer für die Schule und für den Mut zur Unvollkommenheit
Auf der einen Seite hält Martin Luther viel von der Schule, wenn er schreibt: „Die Erziehung, die man zu Hause ohne solche Schulen vornimmt, will uns durch die eigene Erfahrung weise machen. Bevor das aber geschieht, sind wir hundertmal gestorben und haben unser Leben lang alles ohne Überlegung getan. Denn zu eigener Erfahrung gehört viel Zeit“. Luther ist bei seinem Plädoyer für die Schule auch der Meinung, daß jetzt „aus Gottes Gnaden alles so eingerichtet ist, daß die Kinder mit Lust und spielend lernen können, es seien Sprachen oder andere Wissenschaften oder auch Geschichte. Die Hölle und das Fegefeuer unserer Schulen sind vorüber, worin wir gemartert worden sind mit Deklinations- und Konjugationsübungen und dabei doch nichts gelernt haben mit noch so viel Schlägen, Zittern, Angst und Jammer“. Hier spricht auch der Humanist Luther.
Auf der anderen Seite weiß Luther um die Tugend der Bescheidenheit! Und zur Bescheidenheit gehört auch das Wissen, daß Bildung und Erziehung nicht die einzige Bedingung für das Entstehen erwünschter Persönlichkeitseigenschaften sind, sondern andere Bedingungen ergänzen. Ihm geht es auch um den Abschied vom Sensationellen und vom Unsinn des Perfektionismus. Er plädiert auch für kleine Sinnantworten und auch für den Mut zur Unvollkommenheit, weil er weiß, daß der Sinn unseres Lebens von Gott und nicht einfach von unserem Tun abhängt. Die Forderung, nur das Vollkommene zu akzeptieren, führt zu Entmutigungen und zu Sinnlosigkeitsgefühlen, zur Leugnung des Guten im Unvollkommenen. Luther plädiert auch für die zweitbesten Möglichkeiten, wenn sie menschen- und lebensdienlich sind. Gefragt sind hier Lehrerinnen und Lehrer, ja alle an der Erziehung Beteiligten, ob sie etwas von der evangelischen Freiheit erzieherischen Tuns wissen, die Luther so formuliert hat: „Damit wir gründlich erkennen können, was ein Christ ist und wie es um die Freiheit steht, die Christus ihm erworben und gegeben hat, will ich diese zwei Thesen aufstellen: „Ein Christ ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem verpflichtet. Ein Christ ist ein dienstbarer Knecht in allen Dingen, und jedermann verpflichtet“. Auch als ein „weltlich Ding“ haben Bildung und Erziehung es für Luther mit dem zu tun, was Jesus in unserem Text so sagt: „Wer mich bekennt vor den Menschen, den will ich auch bekennen vor meinem himmlischen Vater“!