„Es muss gegangen sein…“
Es liegt vieles im zu Ende gehenden Kirchenjahr traurig da
Predigttext: Lukas 12, 42-48 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
42 Der Herr aber sprach: Wer ist denn der treue und kluge Verwalter, den der Herr über seine Leute setzt, damit er ihnen zur rechten Zeit gibt, was ihnen zusteht? 43 Selig ist der Knecht, den sein Herr, wenn er kommt, das tun sieht. 44 Wahrlich, ich sage euch: Er wird ihn über alle seine Güter setzen. 45 Wenn aber jener Knecht in seinem Herzen sagt: Mein Herr kommt noch lange nicht, und fängt an, die Knechte und Mägde zu schlagen, auch zu essen und zu trinken und sich vollzusaufen, 46 dann wird der Herr dieses Knechtes kommen an einem Tage, an dem er's nicht erwartet, und zu einer Stunde, die er nicht kennt, und wird ihn in Stücke hauen lassen und wird ihm sein Teil geben bei den Ungläubigen. 47 Der Knecht aber, der den Willen seines Herrn kennt, hat aber nichts vorbereitet noch nach seinem Willen getan, der wird viel Schläge erleiden müssen. 48 Wer ihn aber nicht kennt und getan hat, was Schläge verdient, wird wenig Schläge erleiden. Denn wem viel gegeben ist, bei dem wird man viel suchen; und wem viel anvertraut ist, von dem wird man um so mehr fordern.Exegetisch-homiletische Erwägungen
Mit Luise Schottroff (Die Gleichnisse Jesu, Gütersloh 2005) sollte der Vers 41, der als Einleitungsvers des Lukas zum nachfolgenden Gleichnis (Verse 42-46) anzusehen ist, mit herangezogen werden. Der Frage des Petrus in V. 41 ist ein Doppelwort V. 47f. nachgeordnet, das allerdings als lukanischer Zusatz anzusehen ist. Das Gleichnis stammt aus Q und wurde schon in der Spruchquelle als Gleichnis für die Wiederkunft Christi gedeutet. Das 12. Kap. des Lukasevangeliums hat im Zusammenhang der Reise Jesu nach Jerusalem (9,51-13,35) eine zentrale Bedeutung: hier wird nach der Wiederkunft Christi gefragt, die zum Zeitpunkt der Entstehung des Lukasevangeliums, d. h. um das Jahr 85 n. Chr., immer noch ausbleibt. Der Verfasser des Evangeliums möchte mit diesem Abschnitt deutlich machen, dass Warten auf die Wiederkunft Christi bedeutet, wach zu bleiben, ein Schlafen käme einem „Verschlafen“ der Wiederkunft Christi gleich. Wer wach bleibt, dem begegnet Jesus Christus als ein Bruder, der Gemeinschaft stiftet, und damit die Menschen in seine Nachfolge ruft. Nachfolge bedeutet nach lukanischem Verständnis Zeit der Erinnerung, d. h. Mitte der Zeit (Hans Conzelmann). Lukas hat durch die redaktionelle Bearbeitung des Gleichnisses den Adressatenkreis auch in Richtung der Gemeindeleiter ausgeweitet und spricht damit auch ihre Verantwortung den Untergebenen gegenüber an. Das Gleichnis vom klugen und törichten Hausverwalter spricht die Sprache der damaligen Zuhörer. Es geht um einen wohlhabenden Hausherrn und zwei Verwalter. Dieser Ausgangssituation sind zwei unterschiedliche Verhaltensweisen zugeordnet. Der kluge Verwalter gibt den Untergebenen (Sklavinnen und Sklaven) seines Herrn, was ihnen auch zusteht. Der törichte Verwalter vergeudet das ihm Anvertraute, gibt den Untergebenen (im Text wird von Knechten und Mägden gesprochen) nicht das, was ihnen eigentlich zustehen würde. Ja es kommt sogar noch schlimmer, der törichte Verwalter schlägt sie. Der kluge Verwalter wird als „selig“ bezeichnet (makarios - vgl. das gleiche griechische Wort wie in den Seligpreisungen), der törichte Verwalter wird vom wiederkommenden Herrn in Stücke gehauen und als ungläubig bezeichnet, also aus der „communio sanctorum“ ausgeschlossen. Die Intention des Lukas ist klar: Anvertrautes will Vertrauen wecken. Der Tod macht deutlich, ob wir dieses Vertrauen haben oder nicht. Die Verse 47-48 sind lukanisches Sondergut, das an das vorhandene Gleichnis angefügt wurde. Es geht in diesen Versen um die Verantwortlichen in der Gemeinde. War im Gleichnis V. 42-46 das Leit-Thema Vertrauen, das der eine Verwalter erfüllte, der andere aber missbrauchte, so handelt das Logion 47-48a von der entsprechenden Strafe. V. 48b ist als eigenständiges Logion zu sehen: Das, was der Mensch in seinem Leben von Gott empfing, war anvertrautes Gut, und nicht Lohn für fromme und Gott genehme Lebensführung. Henning Schröer hat seine Predigtmeditation unter das Leitwort „treu und klug“ gestellt und sieht in diesem Zusammenhang auch „die Frage nach dem Herrn unserer Zeit“. Vielleicht hilft als Einstieg in die Predigt das Wort von Sören Kierkegaard, an dessen Tod vor 150 Jahren in diesen Tagen ausführlich gedacht wird: „Die Hoffnung ist eine lockende Frucht, die nicht satt macht, die Erinnerung ist ein kümmerlicher Zehrpfennig, der nicht satt macht – die Wiederholung aber ist das tägliche Brot, welches satt macht und dabei segnet“. Wie steht dieses Wort Kierkegaards zum Totensonntag? Viele Gottesdienstbesucher erinnern sich an die Verstorbenen des letzten Kirchenjahres, doch reichen Erinnerung und Hoffnung an diesem Ewigkeitssonntag, um satt zu werden? Der dänische Theologe spricht von Wiederholung und das heißt auf das Gleichnis angewandt: Treue mit Klugheit. Der Sonntag ist geprägt durch die Farbe schwarz. Es wird an die Verstorbenen des vergangenen Kirchenjahres erinnert. Für mich ist der Ewigkeitssonntag ein Ort, wo das Evangelium spürbar werden muss, d. h. es muss deutlich werden, dass Licht an diesem dunklen Tag aufgeht. Deshalb sollte die Verlesung der Verstorbenen auch durch eine Symbolgeste begleitet werden: Für jeden Verstorbenen wird bei der Namensnennung, bei der Nennung der entsprechenden Lebensdaten und dem Text der Traueransprache an der Osterkerze ein Licht angezündet. Damit soll deutlich werden, dass wir nicht in der Finsternis und der Trauer bleiben müssen. Im Leben und im Sterben ist uns das Licht des Evangeliums verheißen. Damit könnte vom Ewigkeitssonntag auch die Brücke zum 1. Adventssonntag gebaut werden.Literatur:
Klaus Berger, Formen und Gattungen im Neuen Testament, Tübingen – Basel 2005; Francois Bovon, Das Evangelium nach Lukas (Lk 9,51-14,35), Zürich – Neukirchen 1996, 318-342 (EKK III/2); Erich Gräßer, Das Problem der Parusieverzögerung in den synoptischen Evangelien und in der Apostelgeschichte, Berlin – New York 31977, 86-95; Gerhard Schneider, Das Evangelium nach Lukas. Kapitel 11-24, Gütersloh – Würzburg 1977, 290f. (ÖTK 3/2); Luise Schottroff, Gleichnisse Jesu, Gütersloh 2005, 230-234; Henning Schröer, Lukas 12, 42-48: Wer ist Herr im Haus der Zeit? In: Predigtstudien für das Kirchenjahr 1981. Zweiter Halbband, Stuttgart – Berlin 1981, 276-281; Hans Weder, Die Gleichnisse Jesu als Metaphern, Berlin 1990; Alfons Weiser, Die Knechtsgleichnisse der synoptischen Evangelien, München 1971, 178-225.Liebe Gemeinde!
Tief in uns ist etwas entzwei gegangen
Wir stehen am Ende des Kirchenjahres, der heutige Ewigkeitssonntag macht uns dies in besonderer Weise deutlich. Es liegt vieles im zu Ende gehenden Kirchenjahr traurig da. Und dieser Novembertag des Jahres 2005 erinnert uns an die Wunden, die der Tod, die das Sterben in unseren Gemeinden hinterlassen hat. Und es kommen auch in diesem Gottesdienst die Erinnerungen, Leiden und Schmerzen noch einmal neu in uns auf. Wer am Grab eines lieben Menschen steht, für den ist eine Verbindung entzwei gegangen, die Lebensbrücke ist abgebrochen, Fragmente sind zurückgeblieben. Nicht nur die Gräber dieses Kirchenjahres lassen uns die Wüste und Leere spüren, die dieser Verlust im Leben eines jeden Einzelnen, der vom Tod betroffen ist, hinterlassen hat. Tief in uns ist etwas entzwei gegangen. Und wo unser Herz Schaden nimmt, da nehmen Leib und Seele als ganzes Schaden.
Es ist so viel gestorben worden in den drei Kirchengemeinden im zurückliegenden Jahr. Nur für einen kleineren Teil war dieses Sterben ein erhofftes, ein von Gott erbetenes Sterben am Ende eines erfüllten Lebens. Es ist so viel zerschlagen worden im zurückliegenden Jahr, so viel Hoffnung ist zerbrochen. Die Ärzte konnten nicht mehr helfen und auch die Krebstherapie hat nicht mehr angeschlagen. Innerhalb weniger Wochen war das Leben zu Ende. Und wie sah im Sommer noch alles so zuversichtlich aus! Viele unter uns sehen sich heute vor einem Scherbenhaufen ihrer Pläne stehen, ihres Hoffens und ihrer Erwartungen. Der Tod ist in vielen Häusern über die Schwelle getreten. Der Tod eines nahen Verwandten, des Ehepartners, von Vater oder Mutter. Und der Tod hat nicht einfach nur angeklopft, sondern er ist in voller Brutalität gekommen. Er hat zugeschlagen. Unerbittlich. Und er hat den Trauerschleier über vielleicht bis dahin frohes Leben geworfen.
Jesu Gleichnis und unsere Hilflosigkeit dem Tod gegenüber
Das Predigtwort aus dem 12. Kapitel des Lukasevangeliums, von dem heute am Ewigkeitssonntag die Rede ist, stammt von Jesus und findet sich in einer Spruchsammlung mit Worten Jesu, die um das Jahr 50 n. Chr. , also noch vor der Abfassung der Evangelien, entstanden ist. Lukas hat dieses Gleichnis Jesu an dieser Stelle in sein Evangelium eingebaut.
(Lesung des Predigttextes, vielleicht nach der Übersetzung von Luise Schottroff, Gleichnisse Jesu, Gütersloh 2005, 226)
Jesus erzählt in dem Gleichnis von einer unerbittlichen Bestrafung. Da wird ein Hausverwalter, weil er den Besitz seines Herrn verprasst und zusätzlich noch die Untergebenen schlägt, buchstäblich in Stücke gehauen, entzwei geschlagen. Da wenden wir uns lieber ab, denken wir vielleicht. Wer will so etwas hören? Es ist unverständlich, es klingt wie im finstersten Mittelalter, denn es ist schrecklich und es will so gar nicht in das Bild passen, das wir von Jesus haben. Er, der die Verwundeten heilt, der den Schuldigen vergibt, der die Traurigen tröstet und der sich zu den Mühseligen und Beladenen gesellt. Doch mit diesem Gleichnis von der Strafe, vom Entzweischlagen ist Jesus näher bei den Verwundeten, den Schuldigen und Trauernden, als wir vermuten. Und er ist näher dran, als wir denken, wenn wir z. B. bei Beerdigungen den Angehörigen manchen Ratschlag mit auf den Weg geben wie z. B.: „Kopf hoch, das Leben geht weiter.“ Oder: „Da musst du durch, das wird schon wieder. Warte nur eine Weile…“ Wir alle kennen solche gut gemeinten Ratschläge. Doch verbergen sie eher unsere Hilflosigkeit dem Tod gegenüber als dass sie tatsächlich helfen können.
Selbstanklagen der Hinterbliebenen
Ich erlebe ganz oft, dass die Angehörigen, die Hinterbliebenen sich selbst nach dem Tod eines geliebten Menschen anklagen. Sie stellen sich selbst vor Gericht und unter Selbstanklage: „Ich habe so vieles falsch gemacht, habe zuweilen harte Worte gebraucht und habe mein Gegenüber verletzt! Ich habe so viel versäumt, habe nicht die Zeit aufgebracht für einen Besuch oder ein klärendes Gespräch“. Alter Streit wurde nicht beigelegt. Ohne tatsächliche Versöhnung am Ende eines Lebens zu praktizieren, ist der geliebte Mensch gestorben. Mit dem Tod ist es alles vorbei, das Versäumte ist nicht mehr umkehrbar. Hätte ich doch besser zugehört, hätte ich manchmal besser auf die leisen Töne gehört, hätte ich doch auf manchen Hinweis und Ratschlag gehört!“ Gedanken über Gedanken angesichts von Tod und Trauer. Und dann wird mancher denken: “Das habe ich nun davon, dafür bekomme ich nun die Quittung“. Alles was wir tun oder auch nicht tun hat Konsequenzen. Eben das macht unser Leben und unsere Trauer so schmerzhaft. Und das Schlimmste wäre in dieser Situation, die Not einfach wegzuwischen, damit sie dann auch gegenstandslos wird.
Ich komme in Jesu Gleichnis vor
Gerade deshalb wendet sich Jesus mit diesem Gleichnis nicht nur an seinen engen JüngerInnenkreis, sondern auch an seine damaligen Zuhörer. Er mutet es ihnen zu, und sie können dieses Gleichnis auch hören und er-tragen. Denn sie können sich in diesem Gleichnis wieder finden: Ja, das bin ich, der da gemeint ist, der kaputtgeschlagene, der entzwei gehauene, der verzweifelte Mensch! Ja, ich komme in dieser Geschichte vor, in der Jesus mahnt, warnt und droht. Dieser Jesus von Nazareth schaut auf meine besondere Not. Er kümmert sich um mich. Und er ist be-kümmert über meine Trauer. Und er leidet mit.
Für-sorge
Viele sind heute oder waren in den letzten Tagen unterwegs zum Friedhof. Die Gräber werden abgedeckt. Damit sollen die Verstorbenen, die darin ruhen, geschützt werden vor der Kälte des kommenden Winters. Diese aus alter Zeit überlieferten Bräuche sehen viele als Verpflichtung an und als einen letzten Dienst an den Verstorbenen. Grabpflege hat etwas mit Treue, mit Für-sorge zu tun. Fürsorge gewissermaßen aus dem Leben heraus. Weil sie es zu Lebzeiten auch nicht anders getan hat, sorgt die Witwe weiter für ihren Mann. Für-sorge etwa für all das, was der verstorbenen Mutter oder dem verstorbenen Vater nicht durch Worte oder durch Taten wiedergegeben werden kann. Darum kümmert sich der Sohn oder die Tochter um das Grab von Vater und Mutter. Bei dieser Fürsorge bleibt unweigerlich auch der Gedanke: Was wird einmal aus mir, wenn ich gestorben bin und in der Erde ruhe.
Unser Leben ist pflegebedürftig – und unser Sterben
Unser Leben ist pflegebedürftig, meint Jesus in seinem Gleichnis vom Hausverwalter. Freundschaften, Bekanntschaften, Verbindungen, Beziehungen wollen gepflegt werden. Ebenso bedarf das Zusammenleben in der Familie zu Hause der Pflege. Dazu gehört das angemessene Verteilen von Essen und Trinken, wie auch das Einhalten der dafür vorgesehenen Zeiten, der Mahl-Zeiten. Diese Pflege unseres Lebens trägt bei zur Erhaltung, zum Heilwerden des Zerschlagenen. Nach Jesu Ansicht hat das sogar etwas mit Therapie zu tun.
Diese Pflege ist not-wendig. Beim Kind wie beim alten Menschen, im Leben wie im Sterben. Wir dürfen uns an diesem Sonntag der dunklen Seite des Lebens zuwenden. Nicht nur bei der Pflege unserer Gräber auf den Friedhöfen. Wir können still werden wie ein Kind, um etwas von dem Wort aufzunehmen: Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen! Dann sind wir bei Gott geborgen und finden bei ihm Trost und Heil.
Auch unser Sterben ist pflegebedürftig. Und hier gibt es eine Menge zu lernen. Zum Beispiel die Gewissheit, mit der ein gläubiger Mensch in Treue zu Gott Abschied nehmen kann von diesem Leben. Mancher redet in diesem Fall sogar von der Kunst des Sterbens. In dieser Gewissheit kann es dann bei aller Trauer auch wieder hell werden.
Es ist gut, bereit und gerüstet zu sein
Ich denke es ist gut, bereit und gerüstet zu sein. Doch wer vermag, diesem Zeitpunkt, diesem Augenblick aufrecht und erwartungsvoll entgegenzublicken? Ist das nicht zu viel verlangt? Ist das nicht eine Überforderung? Ja, da wird uns etwas abgefordert. Jesus lässt uns aber nicht mit leeren Händen stehen und schickt uns auch nicht weg. Er schließt seine Geschichte vom Hausverwalter ab mit dem Wort vom Geben und Anvertrauen: “Wem viel gegeben ist, bei dem wird man viel suchen; und wem viel anvertraut ist, von dem wird man um so mehr fordern”. Denen, die traurig sind, ist Heilung und Trost anvertraut und gegeben. Wir dürfen es auch an diesem Ewigkeitssonntag suchen und entdecken. Ich möchte mit einem Gedicht von Hilde Domin schließen:
Stehenbleiben und sich umdrehen
hilft nicht. Es muss
gegangen sein.
Nimm eine Kerze in die Hand
wie in den Katakomben
das kleine Licht atmet kaum.
Und doch, wenn du lange gegangen bist,
bleibt das Wunder nicht aus,
weil das Wunder immer geschieht
, und wir ohne die Gnade
nicht leben können:
Die Kerze wird hell vom freien Atem des Tages,
du bläst sie lächelnd aus,
wenn du in die Sonne trittst
und unter den blühenden Gärten
die Stadt vor dir liegt,
und in deinem Hause
dir der Tisch weiß gedeckt ist.
Und die verlierbaren Lebenden
und die unverlierbaren Toten
dir das Brot
brechen und den Wein reichen –
und du ihre Stimmen wieder hörst
ganz nahe
bei deinem Herzen.
Amen