Ausblick in den Himmel – Trost für die Erde

Eine Vision mitten im Dunkel der Fragen und Nöte

Predigttext: Offenbarung des Johannes 5,1-14
Kirche / Ort: Melanchthon-Kirche / Bremen-Osterholz
Datum: 27.11.2005
Kirchenjahr: 1. Sonntag im Advent
Autor/in: Pastor Dr. Bernd Kuschnerus

Predigttext: Offenbarung des Johannes 5,1-14 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)

1 Und ich sah in der rechten Hand dessen, der auf dem Thron saß, ein Buch, beschrieben innen und außen, versiegelt mit sieben Siegeln. 2 Und ich sah einen starken Engel, der rief mit großer Stimme: Wer ist würdig, das Buch aufzutun und seine Siegel zu brechen? 3 Und niemand, weder im Himmel noch auf Erden noch unter der Erde, konnte das Buch auftun und hineinsehen. 4 Und ich weinte sehr, weil niemand für würdig befunden wurde, das Buch aufzutun und hineinzusehen. 5 Und einer von den Ältesten spricht zu mir: Weine nicht! Siehe, es hat überwunden der Löwe aus dem Stamm Juda, die Wurzel Davids, aufzutun das Buch und seine sieben Siegel. 6 Und ich sah mitten zwischen dem Thron und den vier Gestalten und mitten unter den Ältesten ein Lamm stehen, wie geschlachtet; es hatte sieben Hörner und sieben Augen, das sind die sieben Geister Gottes, gesandt in alle Lande. 7 Und es kam und nahm das Buch aus der rechten Hand dessen, der auf dem Thron saß. 8 Und als es das Buch nahm, da fielen die vier Gestalten und die vierundzwanzig Ältesten nieder vor dem Lamm, und ein jeder hatte eine Harfe und goldene Schalen voll Räucherwerk, das sind die Gebete der Heiligen, 9 und sie sangen ein neues Lied: Du bist würdig, zu nehmen das Buch und aufzutun seine Siegel; denn du bist geschlachtet und hast mit deinem Blut Menschen für Gott erkauft aus allen Stämmen und Sprachen und Völkern und Nationen 10 und hast sie unserm Gott zu Königen und Priestern gemacht, und sie werden herrschen auf Erden. 11 Und ich sah, und ich hörte eine Stimme vieler Engel um den Thron und um die Gestalten und um die Ältesten her, und ihre Zahl war vieltausendmal tausend; 12 die sprachen mit großer Stimme: Das Lamm, das geschlachtet ist, ist würdig, zu nehmen Kraft und Reichtum und Weisheit und Stärke und Ehre und Preis und Lob. 13 Und jedes Geschöpf, das im Himmel ist und auf Erden und unter der Erde und auf dem Meer und alles, was darin ist, hörte ich sagen: Dem, der auf dem Thron sitzt, und dem Lamm sei Lob und Ehre und Preis und Gewalt von Ewigkeit zu Ewigkeit! 14 Und die vier Gestalten sprachen: Amen! Und die Ältesten fielen nieder und beteten an.

Exegetische (I.) und homiletische (II.) Vorüberlegungen

I. Der Textabschnitt lässt sich folgendermaßen unterteilen: a) Die Suche nach einem Beauftragten zum Öffnen des Buches in der himmlischen Thronversammlung, Ratlosigkeit und Trostwort (5,1-5); b) Das Erscheinen des Lammes und seine Übernahme des Auftrags; (5, 6-7); c) der dreifache chorische Lobpreis als Antwort (8-14). Der Text führt uns in eine himmlische Thronszene (vgl. 4,2-8). Der Seher erblickt in der rechten Hand Gottes ein siebenfach versiegeltes Buch (vgl. zur Beschreibung Ez 2,9f). Offenbar handelt es sich um Doppelurkunde, deren „Inhalt [...] durch das Öffnen der Innenschrift vollstreckbar [war]“ (Müller, a.a.O., 152). Dabei geht es „um das Ganze der Endereignisse bis zur Vollendung, aber ebenso um die Wegbegleitung und Zielrichtung, die der Gemeinde gegeben wird.“ (Schrenk, a.a.O., 618). Die Suche nach jemanden, der beauftragt werden kann, das Buch und die Siegel zu öffnen (5,2) verläuft zunächst negativ: Ausdrücklich wird (vom Erzähler) festgestellt, dass niemand das Buch zu öffnen vermag (5,3). Das bedrückende Schweigen der himmlischen Ratsversammlung löst das Weinen des Sehers aus (5,4). Denn ist die Suche nach dem Würdigen vergeblich, bleibt das Eingreifen Gottes und die Zielgabe für die bedrängte Gemeinde offen oder verzögert sich. Einer der Ältesten gibt dem Seher eine tröstende Antwort: Christus als Erfüller der messianischen Verheißungen wird als der benannt, der einzig würdig ist, das Buch zu öffnen (5,5). Die Unterbrechung des Visionsberichtes in 5,4f zeigt, dass hierin die besondere Pointe das Abschnitts liegt (vgl. U.B. Müller, a.a.O., 151). Der Seher erblickt nun Christus selbst in Gestalt eines Lammes, das „wie geschlachtet“ erscheint (5,6) und das Buch aus der Rechten Hand Gottes nimmt (5,7). Der Tod des Lammes (5,6.9.12) ist Voraussetzung für seine Herrschaft. Christus hat die irdische Not und sogar den Tod durchstanden und insofern überwunden (5,5). Die Heilsbedeutung des Todes Jesu wird mit Hilfe der Metapher von der Errettung ausgedrückt und als Sammlung von „Menschen aus jedem Stamm, und Sprache und Volk und Nation“ zur Sprache gebracht (5,9). Die Metapher vom Freikauf ist verbunden mit dem traditionellen Motiv des (Sühne wirkenden) Blutes. Klingt in dieser Verbindung auch eine Opfersoteriologie an, so ist festzuhalten, dass Christus zugleich das gegen jeden Opferzwang stehende Ende des Opfers ist (vgl. dazu ausführlich Dalferth, a.a.O.236-315). Als das „geschlachtete Lamm“ ist Christus den bedrängten und leidenden Christinnen und Christen verbunden (vgl. 6,9). Im Überwinden der Not ist er zugleich ihr Vorbild (3,21). Sein Sieg (5,5) ist ihr Hoffnungsgrund (vgl. 12,11). So geht es um die Solidarität und Nähe Jesu Christi zu den Leidenden und die Hoffnung der Gemeinde auf die Anteilhabe an der neuen Schöpfung (vgl. 5,9 mit 3,12; 21,1.2.5). Dem Lamm werden in 5,6 Herrschaftsattribute zugewiesen, die in atl. Zusammenhänge weisen, aber auch an astralmythologische Vorstellungen vom Sternbild des Widders denken lassen. Die Übersetzung von arnion mit „Lamm“ muss die Deutung auf das Sternbild des Widders in Vers 5,6 nicht ausschließen. Vielmehr scheinen die Bilder des Lammes und des Widders, des Geschlachtet-Seins und des siegreichen Daseins einander zu überlagern und gegenseitig zu interpretieren. Beide zeigen Denselben: Der Gekreuzigte ist der Auferweckte, der Auferweckte bleibt der Gekreuzigte. Sich eindrucksvoll ausweitend antwortet der hymnische Lobpreis auf die Auftragsübernahme des Lammes. Dieses „neue Lied“ wird von den vier Wesen und den Ältesten intoniert (5,9f), zahllose Engel schließen sich in einem weiteren Hymnus an (4,11-12), schließlich stimmt die ganze Schöpfung ein. Mit der Bekräftigung durch die vier Wesen und der Anbetung durch die Ältesten endet die Szene (5,14). Der visionäre Blick in den himmlischen Thronsaal soll die Christengemeinde angesichts äußerer Bedrängnis – wohl die unter Kaiser Domitian einsetzenden Verfolgungen – stärken. Der Visionsbericht unserer Perikope sucht seine Adressatinnen und Adressaten durch die Vergewisserung zu trösten, dass es Christus ist, der das siebenfach versiegelte Buch öffnen und damit den endzeitlichen Geschichtsweg einleiten kann, welcher das Geschick der Welt und der Gemeinde bestimmt. Der Text ist dabei viel eher als Schrift der Seelsorge an Bedrängten zu lesen, denn als die Eröffnung eines eschatologischen Fahrplans (vgl. Nestle, a.a.O., 81f). II. Die Menschen der Melanchthon-Gemeinde zu Bremen-Osterholz, denen ich zu predigen habe, gehören nicht zu den um ihres Glaubens willen verfolgten Christinnen und Christen dieser Welt. Sie sind jedoch in vielfältiger Weise von der Unübersichtlichkeit der Weltläufe, der vielfachen Unlesbarkeit der Welt und von lebensgeschichtlichen Brüchen bewegt. Im Wechsel der Welt- und Lebensgeschichten erschließt sich das Geheimnis der Welt in Jesus Christus. In meiner Predigtvorbereitung hat mich die Frage beschäftigt, wo die Gemeinde angesichts dieses Trostes erscheint. In Christus wird ein Leben epiphan, das nicht auf Kosten anderer lebt (vgl. Theißen a.a.O.), das auf Seiten der Leidenden und Opfer steht, das aber auch, in dem es den Tod auf sich nimmt, die unheilvolle Selbstabschließung derer, die auf Kosten anderer leben, durch seine Nähe überwindet. Seelsorglich trägt die Erfahrung, dass nicht allgemeine Antworten ermutigen, sondern vor allem Nähe tröstet (schön beschrieben bei H.-Ch.Piper, a.a.O., 20f; 27f). Das Gefälle des Perikopentextes weist darauf hin, dass die trostsuchende Gemeinde ihren Ort dort hat, wo das Lob Christi erklingt.

Vorschläge für Lieder:

„Wir warten dein, o Gottes Sohn“ (EG 152); „Ihr lieben Christen freut euch nun“ (EG 6); „Wie soll ich dich empfangen“ (EG 11, besonders 7-10); „Dein König kommt in niedern Hüllen“ (EG 14).

Literatur:

M. Bachmann, Die Johannesoffenbarung, in: K.-W. Niebur (HG.), Grundinformation Neues Testament. Eine bibelkundlich-theologische Einführung, UTB 2108, Göttingen 2000, 346-370; H. Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a.M. 31993; C. Brütsch, Die Offenbarung Jesu Christi. Johannes-Apokalypse, 3 Bde, ZBK , Zürich 21970; I. U. Dalferth, Der auferweckte Gekreuzigte. Zur Grammatik der Christologie, Tübingen 1994; E. Lohse, Die Offenbarung des Johannes, NTD 11, Göttingen 111979; Ch. Möller, Seelsorglich predigen. Die parakletische Dimension von Predigt, Seelsorge und Gemeinde, Göttingen 1983; U. B. Müller, Die Offenbarung des Johannes, ÖTK 19, Gütersloh/Würzburg 21995. D. Nestle, Neues Testament elementar. Texte der Verfolgten. Sprache der Liebe. Wort Gottes, Neukirchen-Vluyn 1980; H.-Ch. Piper, Kranksein – erleben und lernen, München 51992; G. Schrenk, Art. biblos, biblion., in: ThWNT I, Stuttgart/Berlin/Köln 1990 (unveränderter Nachdruck der Ausgabe 1933–1979), 613–620. G. Theißen, Der ratlose Himmel und der Schlüssel zum Buch des Lebens (Johannesoffenbarung 5,1-10), in: Ders., Lebenszeichen. Predigten und Meditationen. Gütersloh 1998, 186-192.

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Liebe Gemeinde,

„Das ist mir ein Buch mit sieben Siegeln“, so sagen wir, wenn uns etwas unverständlich ist. „Dahinter werde ich nie kommen. Das wird mir immer ein Rätsel bleiben. Darin kann ich keinen Sinn erblicken“.

Wie wäre es, wenn es ein Buch gäbe, in dem alle tiefen und wichtigen Geheimnisse aufgeschrieben sind? Ein Buch, in dem alles Große und alles Kleine, das mich bewegt, seinen Sinn bekommt. Ein Buch in dem das Geheimnis der Weltgeschichte zu lesen ist, das Geheimnis auch meines Lebens, das ein winziger Teil dieser Geschichte ist? Wie wäre es, wenn wir in diesem Buch ablesen könnten, wohin es geht, mit uns, mit unserem Land, mit der Welt?

Das verschlossene Buch

Wie quälend aber, wenn dieses Buch verschlossen wäre, wenn kein Weiser, kein Wissenschaftler, kein Sachverständiger, keine Regierung wirklich wüsste, wo es lang geht. Denken wir einmal an unser Land. Es ist schon beunruhigend, wenn wir den Eindruck haben, die Politiker und Experten sind letztlich ratlos, wie sie die Probleme unseres Landes lösen können. Und dabei geht es uns noch gut. Wie vielen Menschen fehlt das Notwendigste zum Leben; wie viele leben in Not und Unfrieden! Es ist bitter, in dem Gang der Geschichte keinen Sinn und keinen Fortschritt erkennen zu können: Volksgruppen und Völker bekriegen einander. Vom Kampf der Kulturen ist die Rede. Kein Tag vergeht, an dem wir nicht von neuen Anschlägen hören: Ein Irrsinn, vollkommen sinnlose Gewalt.

Vor zwei Sonntagen, am Volkstrauertag, haben wir uns daran erinnert, dass das alles gar nicht so weit von uns und unserer eigenen Geschichte entfernt ist. Warum soviel Gewalt? Warum soviel Leid? Und schließlich: Es ist quälend wenn ich in meinem eigenen Leben keinen Sinn lesen kann: Kennen Sie das nicht? Da liegst du nachts in deinem Bett und drehst dich von einer Seite auf die andere und grübelst. Und dann gehen dir die Warum-Fragen im Kopf herum: Warum wird mir alles so schwer? Warum lebe ich im Streit? Warum habe ich damals nicht alles anders gemacht? Warum trifft es gerade mich? Was ist ein Menschleben überhaupt? Ist es vielleicht gleichgültig, ob es mich gibt? Und so liegst du da und grübelst und wartest auf den Morgen. Wartest, dass sich etwas Neues ankündigt. Wie gut wäre es, wenn es einen Ausweg gäbe, wenn sich ein Fenster auftäte, wenn man sich dann aus dem tiefen Loch ins Licht schwingen könnte! Wenn es einen Ausblick in den Himmel gäbe! Dort müsste es die befreiende Antwort auf alle Fragen geben.

Dem Seher Johannes hat sich dieses Fenster aufgetan. Mitten im Dunkel seiner Fragen und Nöte hat er eine Vision. Diese Vision führt ihn direkt in den Himmel. Er kommt in das Zentrum der Weltregierung, in den himmlischen Thronsaal. Hier herrschen nicht mehr menschliche Regierungen und ihre Ratgeber. Hier herrschen die himmlischen Mächte. Hier steht der Himmelsthron. Und um ihn herum versammelt sind mächtige Engelwesen. Ein Regierungsrat aus Ältesten ist um den Thron zusammengetreten. Hier also sind die himmlischen Weisen und Wissenschaftler und Sachverständigen und Politiker. Hier müsste man wissen, wo es lang geht und die Geheimnisse der Geschichte und eines jeden Lebens kennen. Denn hier müsste es doch das geheimnisvolle Buch geben. Und tatsächlich sieht Johannes das Buch, das Buch das allem einen Sinn und ein Ziel gibt. Fast greifbar hat er die Antwort auf alle Fragen vor sich. Doch das Buch ist noch verschlossen. Ein Buch mit sieben Siegeln. Ob jemand es öffnet?

„Wer ist würdig, das Buch aufzutun und seine Siegel zu brechen?“, ruft eine Stimme. Gesucht wird jemand, der die Vollmacht hat, die Geheimnisse der Welt- und Lebensgeschichten offenzulegen.

Doch es bleibt still. Keiner tritt hervor. Niemand meldet sich. Niemand scheint geeignet, das Buch aufzutun. Gibt es denn keinen, der Gott nahe genug ist? Kann niemand Gottes Willen ausführen? So scheint es: Selbst im Himmel bleiben alle ratlos. Auch hier weiß niemand weiter. Auch die himmlischen Fachleute müssen verstummen.

Aus dem Lichtblick, der Johannes in den Himmel führte, scheint wieder Dunkelheit zu werden. Alles vergebens: Die Warum-Fragen bleiben ungestillt. Wenn es nicht einmal im Himmel Antwort gibt, dann bleibt alles dunkel. Dann ist alle Hoffnung eine große Täuschung. Da bricht Johannes zusammen und beginnt zu weinen. Doch die Stimme eines der Ältesten tröstet ihn: „Weine nicht! Siehe, es hat überwunden der Löwe aus dem Stamm Juda, die Wurzel Davids, aufzutun das Buch und seine sieben Siegel.“ Es gibt also doch jemanden, der würdig ist! Johannes weiß: „Der Bevollmächtigte kommt aus Israel. Damit ist Jesus Christus gemeint. Er ist seit alttestamentlichen Zeiten verheißen worden und auf seine Ankunft warten wir. Wie ein Löwe also wird er kommen, ein Herrscher, der alles überwunden hat. Er wird endlich das Buch öffnen.“

Johannes blickt auf. Und tatsächlich da erscheint etwas. Aber das ist ja kein Löwe sondern – ein Lamm! Man erwartet einen starken Löwen. Doch es erscheint ein Lamm. Noch blutend, wie gerade geschlachtet. Kein Bild der Macht, sondern ein Anblick von Ohnmacht. Statt eines Herrschers kommt ein Opfer.

Dann verändert sich das Bild wieder – wie im Traum. Eines geht ins andere über. Johannes sieht ein Lamm. Dann wird es zu einem Sternbild. Ein mächtiger Anblick: Das Sternenbild eines Widders. Sieben Hörner hat er und sieben Augen. Macht und Wissen werden so symbolisiert. Es ist ein Wesen, dessen heiliger Geist überall auf der Welt wirkt. Johannes sieht im geschlachteten Lamm das Sternbild das Widders. Beides erscheint in ihm zugleich: tiefste Ohnmacht und höchste Vollmacht. So wie Jesus Christus beides ist: Der gekreuzigte Jesus und zugleich der Christus, der aus dem Tod auferweckt wurde.

Warum ist das Lamm würdig?

Warum kein Löwe, sondern ein Lamm? Warum ist gerade das Lamm würdig, das Buch aufzumachen? Was ist das Besondere, das Neue an dem Lamm? Wohl das: Das Lamm zeigt, Jesus Christus hat ein Leben gelebt, das nicht auf Kosten anderer ging. Ein Leben, in dem nicht die Starken die Schwachen opfern und verdrängen. Sonst geht es anders zu. Wir leben auf Kosten anderen Lebens. Auf Kosten von Pflanzen, von Tieren und von anderen Menschen. Es heißt, täglich verschwinden fünfzig Tier- und Pflanzenarten von dieser Erde. Woanders leben Menschen arm und unter schlechten Verhältnissen, damit wir billig die Güter aus ihren Ländern kaufen können. Und wer versucht, etwa aus Afrika nach Europa zu fliehen, scheitert an Grenzzäunen und landet, wenn es noch gut geht, in Auffanglagern.

Christus war Opfer und nicht Täter. Das geschlachtete Lamm steht für die vielen Opfer in der Geschichte. Für die vielen, die wie Christus am Kreuz Opfer politischer und religiöser Gewalt waren und sind. Doch Christus ist noch mehr. Er zeigt: Es gibt ein Leben, das nicht andere für sich opfert, das nicht zerstörerisch ist, sondern schöpferisch. Dieses Leben setzt sich nicht durch, indem es andere kaputt macht, sondern es macht alles neu. In Christus ist das neue Leben schon erschienen. Zu ihm hat Christus die Menschen aus aller Welt berufen. Dieses neue Leben für alle soll auch dass Ziel sein, wenn Gott alles neu macht, einen neuen Himmel und eine neue Erde schafft. Daher ist das geschlachtete Lamm zugleich das mächtige, alles beleuchtende Sternenbild: Christus ist der Auferweckte, der Lebendige, der diese Welt und ihre Fesseln, ja sogar den Tod überwunden hat.

Das Sternbild bleibt das Lamm. Der auferweckte und erhöhte Christus bleibt der gekreuzigte Jesus. Christus ist würdig das Buch zu öffnen, weil er uns mit seinem Trost nahe kommen will, so nahe wie keine andere Macht des Himmels und der Erde. Am eigenen Leib hat er das menschliche Leid erfahren und durchlitten. Darum kann er uns trösten. Denn mehr als alles andere tröstet uns die Nähe des anderen. Wenn es dir wirklich schlecht geht – mehr als alle Antworten hilft dann die Nähe. Wie gut, wenn da jemand ist, der dir zuhört. So dass du deine Angst und deine Sorgen bei ihm loswerden kannst. Jemand, der ein ermutigendes Wort für dich hat und der dabei auch noch weiß, wovon du redest. Manchmal einfach schon die Hand, die sich auf deine Schulter legt, die Hand, die deine Hand hält. So wie diese tröstende Hand, ist die Nähe Christi. Er ist bei dir, auch wenn du im finsteren Tal bist, im Dunkel deiner Fragen, auch dann wenn du es manchmal selbst nicht sehen kannst. Er sagt: „Dein Leben ist mir wichtig. Du bist nicht verloren“.

Vielleicht ist dir das Buch deines eigenen Lebens verschlossen oder unlesbar geworden. Oder du kannst keine Ordnung in den Seiten erkennen. Vielleicht gibt es manches, das du gerne überschlagen würdest. Denn da ist von Krankheit die Rede, von Abschieden, von Trauer. Manche Seiten sind dir vielleicht peinlich. Manche sprechen von Versagen, von Scheitern, von Schuld.

Bei Christus aber sind alle diese Seiten deines Lebens gut aufgehoben. Weil er trägt und erträgt, was wir verfehlt haben und was uns bedrückt. Er wird uns nicht „streichen“. Er wird uns neu machen. Bei ihm bleiben wir bewahrt, mit unserem Leben eingeschrieben in sein Buch. Du gehst nicht verloren.

Stimmt ein in den großen Lobgesang

So sieht der Seher Johanns im Himmel schon vorgebildet, was wir hier auf Erden sonst noch nicht erkennen. Denn der himmlische Regierungssaal verwandelt sich vor seinen Augen in einen unendlichen Gottesdienstraum. So wie unsere Kirche, doch viel größer. Wie in unserer Kirche, so wird in dieser Himmelskirche gesungen. Johannes hört den Gesang der neuen Schöpfung. Das Lamm wird gepriesen, weil es Menschen für Gott befreit. Christus sammelt sie aus allen Stämmen und Sprachen und Völkern und Nationen. Es ruft sie, er ruft uns zu einem neuen Leben. Afrikaner und Europäer, Amerikaner und Chinesen, Israelis und Palästinenser, Serben und Kroaten, Russen und Tschetschenen, Türken und Kurden: Aus jedem Volk und aus jeder Kultur ruft Christus uns zusammen. Keiner soll dem anderen das Lebensrecht nehmen. Keiner soll über den andern herrschen. Alle sollen Könige, alle sollen Priester sein. Es gibt nicht mehr den sinnlosen Kampf, in dem sich einer gegen den anderen durchsetzen will. Jedes Leben ist wichtig. Jeder und jede einzelne soll froh einstimmen in den Lobgesang Gottes.

Johannes erlebt noch mehr: Der Gesang greift nun weiter, sogar über die Menschen hinaus. Die ganze bedrängte Schöpfung, die sich jetzt noch ängstigt und seufzt (Röm 8,22) – im Himmel jubelt sie schon befreit. Was auf Erden sich in unseren Gottesdiensten im Kleinen ereignet, weitet sich im Himmel schon unglaublich aus: Alles stimmt hier schon mit ein. Jedes Geschöpf, im Himmel und auf Erden und unter der Erde und im Meer preist Gott.

Mit diesem Trost kommt der Seher Johannes von seiner Himmelsreise auf die Erde zurück. Er sagt uns: Stimmt ein in den großen Lobgesang! Auch wenn ihr noch in eurem alten Leben lebt – singt schon jetzt das neue Lied. Denn was immer dir geschieht, was immer sich in der Welt zuträgt: Das Buch der Weltgeschichte, das Buch deiner Lebensgeschichte, dieses Buch liegt in der Hand des Lammes, in der Hand Christi. Keine Macht reißt es ihm aus der Hand. Auf seine Ankunft und das neue Leben warten wir, bis wir teilhaben an dem großen Gottesdienst aller Geschöpfe. Bei ihm, in seiner Nähe werden am Ende unsere quälenden Fragen gestillt. Das halte fest: Du hast es zuletzt mit Christus zu tun.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus, unseren Herrn.

Amen.

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