Lebte Christus nur ein paar Stunden?

Jesus nicht nur als Krippenkind verehren, sondern sich mit dem erwachsen werdenden Jesus auf den Weg machen

Predigttext: 1.Johannes 3,1-6
Kirche / Ort: 67141 Neuhofen
Datum: 25.12.2005
Kirchenjahr: Christfest (1)
Autor/in: Pfarrer Dr. Gerhard Vidal

Predigttext: 1.Johannes 3,1-6 (Übersetzung nach der Zürcher Bibel)

1 Sehet, was für eine Liebe uns der Vater geschenkt hat, dass wir Kinder Gottes heißen sollen; und wir sind es. Deshalb erkennt uns die Welt nicht, weil sie ihn nicht erkannt hat. 2 Geliebte, jetzt sind wir Kinder Gottes, und noch ist nicht offenbar geworden, was wir sein werden. Wir wissen, dass wir, wenn es offenbar geworden ist, ihm gleich sein werden; denn wir werden ihn sehen, wie er ist. 3 Und jeder, der diese Hoffnung auf ihn hat, reinigt sich, wie er rein ist. 4 Jeder, der die Sünde begeht, der begeht auch die Übertretung des Gesetzes, und die Sünde ist die Übertretung des Gesetzes. 5 Und ihr wisst, dass jener erschienen ist, um die Sünden hinwegzunehmen, und Sünde ist nicht in ihm. 6 Jeder, der in ihm bleibt, sündigt nicht. Jeder, der sündigt, hat ihn nicht gesehen und ihn nicht erkannt.

Exegetische Vorüberlegungen

Ich habe versucht, mich zuerst einmal spontan von dem Text inspirieren zu lassen ohne vorgängige Exegese. Exegetische Überlegungen stellte ich dann aber doch bald an, um mich korrigieren zu lassen und möglicherweise neue Aspekte zu entdecken. Die Frage, ob es sich bei 1.Joh. eher um ein Traktat als um einen Brief handelt, schien mir weniger entscheidend und hat meine Leitidee, aus dem „alten Brief“ sinngemäß einen „neuen“ zu entwickeln, nicht in Frage gestellt. Entscheidender schien mir die Diskussion, ob es sich bei 1.Joh. um das Werk eines Verfassers handelt, oder ob hier (gnostische) Quellen benutzt und kirchlich-redaktionelle Eingriffe vorgenommen wurden. Sätze wie z.B. „Deshalb erkennt uns die Welt nicht ...“ deuten auf Ersteres hin. Der Verweis, „dass jener erschienen ist, um die Sünde hinwegzunehmen, und Sünde ist nicht in ihm“ könnte Letzteres nahe legen. Diesen Stellen müsste ich besondere Aufmerksamkeit widmen und mich um eine sorgfältige Interpretation bemühen. Nicht unwichtig war für mich auch noch die Vermutung von W.G.Kümmel (Einleitung in das NT), dass 1.Joh. sich mit einer „gnostisch-enthusiastischen Bewegung“ auseinandersetze, die sowohl den historischen Jesus als auch „das feste Band zwischen christlichem Glauben und Leben gering schätzte.“ Impulse - wenn auch nicht streng exegetischer Art - hat mir auch Kurt Marti gegeben (Kurt Marti: Gottesbefragung - der 1.Johannesbrief heute, Radius Verlag Stuttgart 1982, S. 70ff): Nachdenkenswert erschien mir sein Hinweis, dass die Formulierung „wir werden ihm (Gott) gleich sein“ formal an die Verführung der Schlange 1.Mose 3,5 erinnert. Doch während die alttestamentliche Szene die Menschen in die Illusion treibt, „Konkurrenten Gottes“ zu sein, die glauben, als „Herren der Welt“ nach Belieben mit ihr umspringen zu können, geht Johannes davon aus, dass der Mensch Gott gleich werden könne, im Sinne des Teilhabens an umfassender Liebe. Auch die Überlegungen Martis zu den Begriffen „Sünde“ und „Gesetz“ sind hilfreich. „Sünde“ kann keinesfalls nach kleinbürgerlicher Moral etwa auf den Bereich des Sexuellen eingeengt werden. Sie ist vielmehr „jedes Denken, jedes Handeln, das gegen die Liebe verstößt“, wobei „Liebe“ hier auch und vor allem in gesellschaftspolitischen Dimensionen gesehen werden muss: Kriegsdienst und ein Wirtschaftssystem, in dem es „gut und richtig (ist), nach immer mehr Gewinn, nach immer mehr Geld zu streben“ werden bei Marti konkret benannt. „Liebe“ ist demnach alles andere als ein „Seid nett zueinander!“, sie ist vielmehr die Lebenseinstellung, die im privaten und im gesellschaftspolitischen Raum danach trachtet, Leben und Zukunft zu ermöglichen.

Homiletische Grundgedanken

Viele der Gottesdienstbesucher am 1.Weihnachtsfeiertag werden schon einen Heilig-Abend-Gottesdienst besucht haben. Die Gefahr, dass sie in diesem Gottesdienst noch einmal „das Gleiche“ zu hören bekämen, ist ernst zu nehmen, wird aber durch die relative Fremdheit von 1.Joh. 3,1-6 minimiert. Die Fremdheit des Textes, seine einer bestimmten historischen Konstellation verhaftete Argumentation, seine Begrifflichkeit, stellt ein großes homiletisches Problem dar. Zur Problemanzeige seien Gedanken und Begriffe genannt, die eine grundlegende Interpretation und Übersetzungsarbeit verlangen: Was heißt „Gottes Kinder“ heute? Was ist gemeint, wenn es heißt: „die Welt (er)kennt uns nicht“? Was bedeutet die „Gottgleichheit“, von der der Text ausgeht? Wie sind die Begriffe „Sünde“, „Reinheit“, „Gesetz“ adäquat zu interpretieren? Wie können wir die Aussagen des Textes über das „Sündigen“ aufnehmen, ohne in das nur Private oder gar Moralische abzurutschen? Methodisches Kernstück meiner Predigt soll der Versuch sein, die Grundgedanken des „alten“ Briefes in einem „neuen“ Brief auszudrücken. Unter der Leitfrage: Wie würde „Johannes“ sein Anliegen in einem Brief an eine Gemeinde heute formulieren?, wird versucht, den Gehalt der johanneischen Aussagen sinnentsprechend zu übertragen. Diese Übertragung will nicht eine modernistische oder gar modische „Übersetzung“ sein, sondern eine Interpretation, die aber sehr wohl die Substanz der Aussagen zur Geltung bringt und verständlich macht.

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Unsere Schwierigkeiten mit dem Brief

Gestern Abend war noch von dem Kind Gottes die Rede. Heute morgen wird uns gesagt, dass wir Kinder Gottes heißen sollen – und das nicht nur dem Namen nach! Allerdings so idyllisch, so festlich wie zur Feier der Geburt des Kindes zu Bethlehem geht es in unserem Predigttext nicht zu. Da wird uns etwas abverlangt. Schwer Verständliches muss verstanden werden. Fremde Gedanken müssen uns nahe kommen. Ein Tun, das der Welt fremd ist, soll Wirklichkeit werden.

Leicht hat er es uns nicht gemacht der Schreiber dieses Briefes. Der Predigttext ist voll von Stolpersteinen und ständig müssen wir fragen: Was heißt denn das nun wieder? „Die Welt erkennt uns nicht“, „noch ist nicht offenbar geworden, was wir sein werden“, wir werden „Gott gleich sein“. Und dann solche Begriffe, die in unserer Alltagssprache entweder gar nicht mehr vorkommen oder doch Erinnerungen wecken, die weit weg von unserem Alltagsleben führen: Was sollen wir mit dem Wort „Sünde“ anfangen? Was bedeutet „rein sein“? Und wen bedrückt es in seinem Gewissen, ob er „das Gesetz“ übertreten könnte, wenn klar ist, dass damit nicht das Strafgesetzbuch oder die Straßenverkehrsordnung gemeint ist?

Offensichtlich hat der Briefschreiber eine sehr ausgeprägte Vorstellung vom Glauben und davon, wie Glaubende leben sollen. Man spürt, dass er diese Vorstellungen seinen Lesern in eindrücklichen Worten vorhalten wollte, in Worten allerdings, die nicht mehr die unseren sind.

Ein Brief direkt an uns

Wie wäre es, wenn sich der Briefschreiber direkt an uns wenden würde – in unserer Zeit, mit unseren Worten? Wie würde es aussehen, wenn Johannes der Gemeinde von xy heute einen Brief schicken würde? Vielleicht so (Brief kann von einer zweiten Stimme gelesen werden)

Liebe Gemeinde von xy!

Ihr habt gestern den Heiligen Abend gefeiert. Wieder einmal habt ihr gestaunt über das Kind in der Krippe. Ihr habt erzählt von Hirten und Engeln und von den Weisen aus dem Morgenland. Ihr habt viel von der Liebe Gottes, die in der Geburt dieses Kindes zum Ausdruck gekommen ist, geredet und gesungen.

Alles schön und gut. Aber redet nicht nur. Bleibt nicht an der Krippe stehen. Vergesst nicht, dass es mit dem Bewundern dieses neugeborenen Jesus nicht getan ist. Ihr nennt euch seine Nachfolger. Nennt euch nicht nur so, sondern seid es. Wer Jesus nachfolgen will, der orientiert sein Leben neu. Denkt daran: Aus diesem Baby, dessen Geburt ihr gestern gefeiert habt, ist ein Mann geworden. Einer der Gerechtigkeit gefordert und Hoffnung geweckt hat. Einer, der Hilflose getröstet und Verzweifelte ermutigt hat. Einer, der lebendiges Leben eröffnet hat gerade für Menschen, die sich vom Leben nicht mehr viel versprochen haben.

Nehmt ihn zum Maßstab und lebt nicht einfach so, wie es in der Welt üblich ist. Macht die Augen auf und seht, wo die Liebe verletzt wird. Da tretet ein – wie Jesus. Engagiert euch und prüft, wo die Gerechtigkeit verachtet wird. Da stellt euch dagegen – wie Jesus. Seid wachsam und achtet darauf, wo der Frieden zerstört wird. Da baut Brücken – wie Jesus. Schwimmt gegen den Strom. Lasst euch nicht abbringen, wenn ihr kräftigen Gegenwind spürt. Jesus hat gezeigt, worauf es im Leben ankommt. Haltet euch daran! Lasst euch nicht entmutigen!

Es grüßt euch
Euer Johannes

So könnte er vielleicht geschrieben haben. Heute. An uns. Dann wäre er uns näher. Dann könnten wir verstehen, was es heißt „Kinder Gottes“ zu sein. Heute. Dann könnten wir übersetzen, was es heißt, „ihm gleich zu sein“. Heute. Dann könnten wir spüren, was es heißt, „keine Sünde zu tun“.

Die Botschaft des Briefes: Wahrheit des Glaubens – Echtheit des Lebens

Was würden wir mit diesem Brief machen? Wie würden wir reagieren auf ihn? Was wären unsere Konsequenzen? Eines ist sicher: ein sentimentales Postkartenbildchen bietet uns dieser Brief nicht. Er fragt nach der Wahrheit unseres Glaubens. Er ist kein Festtagsbrief, den man nach den Feiertagen mit der Weihnachtspost beiseite legen kann. Er fragt nach der Echtheit unseres täglichen Lebens.

Vielleicht lässt er uns merken, dass unsere weihnachtliche Verehrung des Kindes in der Krippe zu kurz greift, auch wenn wir in den höchsten Tönen dieses „Kind Gottes“ loben. Vielleicht erinnert er uns, dass wir selbst in den Rang von „Kindern Gottes“ gesetzt sind. Vielleicht macht er uns bewusst, dass wir dies nur in der Nachfolge Jesu sein können: Wenn wir den „ganzen Jesus“ sehen, nicht nur den „holden Knaben im lockigen Haar“. Wenn wir nicht „das himmlische Kind“ zum Maßstab nehmen, sondern den irdischen Jesus, der die Maßstäbe der Welt auf den Kopf gestellt hat. Wenn wir nicht nur bewundernd an der Krippe stehen bleiben, sondern mit dem, der da geboren ist und aufwächst und zum Mann wird, auf seinem Weg in die Welt mitgehen. Mit großen oder kleinen Schritten zu mehr Gerechtigkeit, zu mehr Verständnis, zu mehr Hilfe, zu mehr Frieden.

Lebte Christus nur ein paar Stunden?

Der Schriftsteller Josef Reding fragt (der Text kann von einer zweiten Stimme gelesen werden): Lebte Christus nur ein paar Stunden? „Sagt man Christus“ – (schreibt er) – „dann schrumpft bei vielen Zeitgenossen das Vorstellungsvermögen auf das Krippenkind zusammen … Es muss die Vermutung gestattet sein, dass viele Menschen sich das Dasein Christi so willkürlich zusammenkürzen, dass viele seine ersten Lebensstunden derart angestrengt feiern und ihn dann später kaum mehr beachten, weil fast alles an seinem kommenden Wirken sie irritiert. … Noch ist Christus ein Neugeborener … Noch hat Christus nicht gesagt, dass es ein himmelschreiendes Unrecht ist, wenn wenige alles haben und die meisten nichts. Noch hat er nicht lehren können, dass die Anbetung lauten sollte: „Vater unser …“ und nicht etwa „Profit unser …“. Noch hat er nicht eindeutig klargemacht, dass Schwerter, Panzer, Napalm-, Neutronen- und Atombomben nicht von seinem Geiste sind, sondern gegen ihn gerichtet sind, gegenchristlich und damit unchristlich sind, gegenmenschlich und damit unmenschlich sind. … Weil wir diesen unbequemen, ärgerlichen Entwurf Christi so schwer mit dem Modus unseres Lebens in Einklang bringen können, darum schaffen wir Abstand von den entscheidenden Jahren seines Lebens und begnügen uns mit dem Szenarium seiner Geburt. Aber – lebte Christus nur ein paar Stunden?“ (Aus: J.Reding: Kein Platz in kostbaren Krippen, Georg Bitter Verlag, Recklinghausen 3.Aufl. 1979, S.125-128).

Unser Weg nach Weihnachten

Lebt bei uns Christus auch nur ein paar Stunden? Die paar Stunden voller Lichterglanz und Weihnachtszauber? Lebt bei uns Christus nur im Krippen-Spiel oder machen wir Ernst damit, dass er unser Alltagsleben begleitet und beeinflusst?

Ob wir „das Kind Gottes“ nur als Krippenkind verehren oder ob wir uns als „Kinder Gottes“ mit ihm, dem erwachsen werdenden Jesus, auf den Weg machen, daran entscheidet sich unser Glaube.
Ob wir tun, was in der Welt „normal“ ist oder ob wir mit ihm, dem unbequemen Jesus, gegen den Strom der Welt schwimmen, daran zeigt sich, ob wir ihn erkannt haben.
Ob wir uns als Götter und Herren über Menschenleben und Natur aufführen oder ob wir in der Nachfolge dessen, der an Weihnachten geboren ist, das Eintreten für Wahrheit, für Gerechtigkeit, für den Frieden und die Zukunft dieser Welt zu unserer Sache machen, daran wird deutlich, ob wir „in ihm bleiben“.

Nicht Bewunderer der Liebe Gottes sind gefragt – sondern Teilhaber

Nicht Bewunderer der Liebe Gottes sind gefragt – sondern Teilhaber! Die großen Worte sind freilich leicht gesagt. Die kleinen Taten im Alltag schwer getan. Dabei muss es gar nichts Spektakuläres sein, so wie es Albert Schweitzer gesagt hat:

„Tut die Augen auf und sucht, wo ein Mensch ein bisschen Zeit, ein bisschen Freundlichkeit, ein bisschen Teilnahme, ein bisschen Gesellschaft, ein bisschen Arbeit eines Menschen braucht. Vielleicht ist es ein Einsamer oder Verbitterter oder ein Kranker oder ein Ungeschickter, dem du etwas sein kannst. Vielleicht ist es ein Greis oder ein Kind. Lass dich nicht abschrecken, wenn du warten oder experimentieren musst.“

Das wäre schon etwas, und es ist nicht das Geringste. Aber wenn es stimmt, was der Briefschreiber uns zusagt, dass wir Kinder Gottes sind, dann haben wir darüber hinaus die Aufgabe, das Erbe des Vaters zu bewahren:

Die Schöpfung, die wir durch die Unachtsamkeit und die Profitgier der Menschen so sehr leiden sehen.
Das Lebensrecht aller Menschen, die alle Kinder Gottes und darum unsere Geschwister sind.
Die Gerechtigkeit, nach der heute mehr Menschen denn je hungern und dürsten müssen.

Bleibt nicht bei der Krippe stehen. Geht mit dem, der da geboren ist, auf dem Weg der Gerechtigkeit, des Friedens, der Hoffnung und der Liebe!

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