Mit dem Herzen sehen
In dem Kind im Stall zu Bethlehem ist eine Hoffnung geboren
Predigttext: 1.Johannes 3,1-6 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
1Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater erwiesen, daß wir Gottes Kinder heißen sollen - und wir sind es auch! Darum kennt uns die Welt nicht; denn sie kennt ihn nicht. 2 Meine Lieben, wir sind schon Gottes Kinder; es ist aber noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden. Wir wissen aber: wenn es offenbar wird, werden wir ihm gleich sein; denn wir werden ihn sehen, wie er ist. 3 Und ein jeder, der solche Hoffnung auf ihn hat, der reinigt sich, wie auch jener rein ist. 4 Wer Sünde tut, der tut auch Unrecht, und die Sünde ist das Unrecht. 5 Und ihr wißt, daß er erschienen ist, damit er die Sünden wegnehme, und, in ihm ist keine Sünde. 6 Wer in ihm bleibt, der sündigt nicht; wer sündigt, der hat ihn nicht gesehen und nicht erkannt.Vorbemerkungen
Zum Text
Ist das eine Perikope für den 1. Weihnachtstag? Jedenfalls redet sie von der Liebe des Vaters zu seinen Kindern - von der Welt, die den Vater und seine Kinder nicht kennt - von der Hoffnung, dem Vater gleich zu werden - von der Sünde, die der Erschienene uns wegnehmen wird - vom Nichtsündigen derer, die in ihm bleiben. All dies mit, in und durch Jesus, der Mensch geworden ist und dessen Menschwerdung wir an Weihnachten gedenken. Schon hat begonnen, was noch nicht vollendet ist. Aber daran können wir uns ausrichten - an Christus, der sich uns zugewandt hat, der uns die Liebe des Vaters zeigt, der unsere Vergebung ist.Zum Kasus
Weihnachten ist nur einmal im Jahr. Ein herzanrührendes Fest! Am 1. Weihnachtstag sind die "starken Gefühle" von Heilig Abend wieder der Realität gewichen. Es kommt zunehmend mehr in den Blick, was unseren Alltag bestimmt. Trotzdem will ich mit meiner Predigt noch einmal an den Gefühlen und Sehnsüchten meiner Zuhörer/innen anklopfen und zum selbstvergessenen Sehen auf das Kind ermutigen, das uns Hoffnung und Geschenk ist.Zur Predigt
Teil 1 ("Seht!") schlägt die Brücke vom Predigttext zur Weihnachtsgeschichte (V. 1). Teil 2 (Selbstvergessenheit) gliedert sich in drei Teile, die "das Sehen" näher thematisieren. A betrachtet das Bild der heiligen Familie (V. 1a). B geht auf das Sehen der Bedürfnisse unserer Mitmenschen ein (V. 1b). C nimmt die Hoffnung in den Blick (V. 2). Teil 3 (Das Geschenk) bringt mit Hilfe einer kleinen Geschichte zum Ausdruck, "dass er erschienen ist, damit er die Sünde wegnehme" (V. 5).“Seht!”
“Seht!” sagt Johannes mit dem ersten Wort unseres Predigttextes zum Weihnachtsfest. Was gibt es denn zu sehen? – Ein altes Kinderspiel lässt uns die Augen schließen, während einer ruft: “Ich sehe was, was du nicht siehst …!” Und dann ist zu raten. Ja, was sollen wir denn sehen?
Johannes heißt uns nicht die Augen schließen und im Dunkeln tappen. Er will uns nicht auf die Folter spannen, sondern unsere Augen öffnen. Wofür? “Seht, welch eine Liebe uns der Vater erwiesen hat …!” Darauf sollen wir schauen. Auf die Liebe dessen, der seinen Sohn Mensch werden ließ.
Der Evangelist Lukas sagt es deutlicher: “Und das habt zum Zeichen: ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen.” So verkünden es die Engel den Hirten auf den Feldern vor den Toren Bethlehems. Sie sagen nichts anderes als Johannes: “Seht!” Und die Hirten lassen sich nicht zweimal bitten und sagen sich: “Lasst uns gehen nach Bethlehem und die Geschichte sehen, die da geschehen ist …!” Was ist daran so aufregend? Wir haben schon viele Säuglinge gesehen. Irgendwie gleichen sie sich alle: in ihrem Goldigsein, in ihrer Hilflosigkeit, in ihrem Liebreiz. Wenn sie so da liegen und aus ihrem Bettchen herausschauen. Sieht das nicht eins wie´s andere aus?! “Seht!”
Schauen wir auf das Kind. Berührt es uns? Die Hirten sind gekommen mit den Worten der Engel in ihrem Herzen. Sie haben das Kind gesehen. Aber nicht nur mit ihren Augen. Nicht nur als ein Kind wie viele andere auch. Sie haben es mit ihrem Herzen gesehen. Und das hat ihrem Verstand zu verstehen gegeben, was ihnen dieses Kind bedeutet.
Selbstvergessenheit
Was kann uns dieses Kind bedeuten, das wir da in einer Krippe liegen sehen? – Wir sehen die Idylle der heiligen Familie. Da hat ein jeder sein eigenes Bild: Josef und Maria, eingerahmt von Ochs und Esel, dazwischen die Krippe mit dem Kind. Solche Harmonie beeindruckt uns. Es geht eine Faszination von diesem Bild aus. Das Bild verkörpert unsere Sehnsucht. Darum reicht es weit hinab in unsere Seele. Es ist eine Idealvorstellung, die wir tief in uns bergen. Darüber haben wir alle unsere Erfahrung aus der eigenen Familie. Gute und unangenehme Erfahrungen. Wie nahe kommt unsere Erfahrung dem Bild der heiligen Nacht?
“Seht!” das Bild der heiligen Familie, das Harmonie und Geborgenheit ausstrahlt. Für einen Augenblick vergessen wir darüber unsere eigene Erfahrung. Wir sehen weg von uns. Sehen hin – wie gebannt – und spüren, wie wir mit hinein genommen werden in diese Glückseligkeit. Sie gibt uns das wunderbare Gefühl, dazu zu gehören. In dem Kind in der Krippe sehen wir auch die Bedürftigkeit der Welt. Und daran spüren wir, dass unsere Liebe gebraucht wird. “Seht!” das Kind ist hilflos, das da liegt und uns mit seinen wachen Augen anschaut. Sie machen uns wach für die Bedürftigen: Ja, sie wecken unsere Fähigkeiten, freundlich und liebevoll einander zu begegnen. Manchmal ist unsere liebenswürdige Seite nur etwas verschüttet. Unter all dem, was uns im tagtäglichen Getriebe vereinnahmt, zugedeckt. Von Dingen, die wir für besonders wichtig erachten. So rennen und hetzen wir, denken dabei nur an uns selbst und haben keinen Blick für das, was andere Menschen in unserer Umgebung bewegt. Es ist ein guter Brauch, sich an Weihnachten Geschenke zu machen. “Seht!”, was der Andere braucht und nötig hat! Haltet inne! Denkt nach! Das gibt unserer liebenswürdigen Seite die Chance, aufmerksam zu werden für einen Menschen. Nach den Bedürfnissen eines Anderen zu fragen, lässt uns mit unserem Herzen sehen.
“Seht!”, in dem Kind im Stall zu Bethlehem ist eine Hoffnung geboren. Wie ein jedes Kind, das zur Welt kommt, bringt es die Pläne und das Wollen seiner Eltern durcheinander. Nichts ist mehr so wie vorher. Alle Aufmerksamkeit gehört dem Kind. Aber in ihm und mit ihm und durch dieses Kind werden neue Möglichkeiten erfahrbar. Das Kind lässt uns manche Dinge ganz anders sehen. Es fordert uns Zeit zum Spielen ab und erinnert uns dabei an unsere eigene Kindheit. Darin werden unsere Träume wieder wach und wir finden zu uns selbst. Unsere verkrusteten Gedanken brechen auf und hoffnungsvolle Ideen nehmen zaghaft Gestalt an.
Gott hat uns zu Weihnachten ein Geschenk gemacht. “Seht!”, das Kind in der Krippe macht uns zu Kindern des Glaubens und der Hoffnung. Wir gehören dazu zu der heiligen Familie, die wir im Stall zu Bethlehem sehen. Darum können wir wegsehen von unseren eigenen Schwächen und Fehlern hin auf das Kind in der Krippe.
Das Geschenk
Ein kleiner Junge ist stolz darauf, einen Großvater zu haben, der Figuren schnitzen kann. Es ist schon faszinierend zuzusehen, wie langsam aus einem Stück Holz “lebendige” Gestalten entstehen. Der Junge vertieft sich so in die geschnitzten Krippenfiguren, dass sich seine Gedanken mit der Welt der Figuren vermischen: Er geht mit den Hirten und Königen in den Stall und steht plötzlich vor dem Kind in der Krippe. Da bemerkt er: Seine Hände sind leer! Alle haben etwas mitgebracht, nur er nicht. Aufgeregt sagt er schnell: “Ich verspreche dir das Schönste, was ich habe! Ich schenke dir mein neues Fahrrad – nein, meine elektrische Eisenbahn.” Das Kind in der Krippe schüttelt lächelnd den Kopf und sagt: “Ich möchte aber gar nicht deine elektrische Eisenbahn. Schenke mir deinen – letzten Aufsatz!” “Meinen letzten Aufsatz?” stammelt der Junge ganz erschrocken, “aber da steht doch …, da steht >ungenügend< drunter!” “Genau deshalb will ich ihn haben”, antwortet das Jesuskind. “Du sollst mir immer das geben, was >nicht genügend< ist. Dafür bin ich in die Welt gekommen!” “Und dann möchte ich noch etwas von dir”, fährt das Kind in der Krippe fort, “ich möchte deinen Milchbecher!” Jetzt wird der kleine Junge traurig: “Meinen Milchbecher? – Aber der ist mir doch zerbrochen!” “Eben deshalb will ich ihn haben”, sagt das Jesuskind liebevoll, “du kannst mir alles bringen, was in deinem Leben zerbricht. Ich will es heil machen!” “Und noch ein Drittes möchte ich von dir”, hört der kleine Junge wieder die Stimme des Kindes in der Krippe, “ich möchte von dir noch die Antwort haben, die du deiner Mutter gegeben hast, als sie dich fragte, wieso denn der Milchbecher zerbrechen konnte.” Da weinte der Junge. Schluchzend gesteht er: “Aber da habe ich doch gelogen. Ich habe der Mutter gesagt: >Der Milchbecher ist mir ohne Absicht hingefallen.< Aber in Wirklichkeit habe ich ihn ja vor Wut auf die Erde geworfen.” “Deshalb möchte ich die Antwort haben”, sagt das Jesuskind bestimmt, “bring mir immer alles, was in deinem Leben böse ist, verlogen, trotzig und gemein. Dafür bin ich in die Welt gekommen, um dir zu verzeihen, um dich an die Hand zu nehmen und dir den Weg zu zeigen …” Und das Jesuskind lächelt den Jungen wieder an. Und der sieht und hört und staunt …