Der Weg in das gelobte Land führt durch die Wüste
Das Mitsein Gottes macht den Weg durch die Wüste gangbar
Predigttext: 2. Mose 13,20-22 (Übersetzung Martin Luther, Revision 1984)
20 So zogen sie aus von Sukkot und lagerten sich in Etam am Rande der Wüste. 21 Und der Herr zog vor ihnen her, am Tage in einer Wolkensäule, um sie den rechten Weg zu führen und bei Nacht in einer Feuersäule, um ihnen zu leuchten, damit sie Tag und Nacht wandern konnten. 22 Niemals wich die Wolkensäule von dem Volk bei Tage noch die Feuersäule bei Nacht.Theologische Entscheidungen und Gedanken zur Predigt
Der Gottesdienst am Altjahresabend ist ein Schwellengottesdienst. Der Gliederungsvorschlag von Horst Kasner in GPM 1987/11 S. 72 legt sich nahe: Was liegt hinter uns? Was verfolgt und belastet uns? Was steht uns vor Augen? Worauf können wir uns verlassen. Welche Perspektive haben wir? Nahe legt sich auch, Bilanz zu ziehen, was nicht gehen wird, ohne die Katastrophen des zu Ende gehenden Jahres noch einmal zu benennen. Ich habe mich entschieden, das nicht zu tun. Nur an der einen oder anderen Stelle biete ich Möglichkeiten, die eigenen Gedanken in diese Richtung zu lenken. Wichtiger als das Benennen der Katastrophen ist mir das „Gott sei Dank“ des Anfangs. Folgende Beobachtungen und Wahrnehmungen am Text liegen der Predigt zu Grunde: 1. Das neue Jahr ist nicht das gelobte Land. Auch wenn die Sehnsucht der Gottesdienstbesuchenden dahin gehen wird, das zu hören, ist der Versuchung, dem nachzugeben, zu widerstehen. Der Predigttext lässt uns am Rand der Wüste zu stehen kommen. Ein Blick in das neue Jahr lässt uns ahnen, dass Wüstenerfahrungen auf uns warten. Das ist meiner Meinung nach auch jedem Gottesdienstbesuchenden in der Tiefe seines Herzens bewußt. Die Frage ist: Wer oder was stärkt uns in der Wüste? Wer hilft uns zu überleben? 2. Der Blick zurück ist bestimmt durch die Erfahrung der Knechtschaft in Ägypten und durch die Erfahrung der Errettung aus der Bedrängnis. Dass es auf dem Weg durch die Wüste auch um die Bewahrung der Freiheit geht und um das Festhalten am 1. Gebot ist mir deutlich, habe ich aber in der Predigt kaum entfaltet. Diesen Gedanken weiter auszuführen, wäre sicher sinnvoll. Die Erfahrung der Errettung dagegen war leitendes Motiv bei der Wahl des Predigteinstiegs. 3. Das Mitsein Gottes macht den Weg durch die Wüste gangbar. Mir selbst stand ein Hymnus vor Augen, der im Evangelischen Tagzeitenbuch unter der Nummer 837 zu finden ist: „Selig, wem Christus auf dem Weg begegnet, um ihn zu rufen, alles zu verlassen, sein Kreuz zu tragen und in seiner Kirche für ihn zu wirken. / Bei ihm ist Christus, stärkt ihn in der Wüste, schenkt ihm durch Leiden Anteil an der Freude. Und seine Brüder spüren Christi Liebe in seiner Nähe“. Was sich genau hinter dem Bild der Wolken- und Feuersäule verbirgt, habe ich in der Predigt nicht verfolgt. Nach dem Lesen mehrerer Predigtmeditationen ergab sich für mich keine befriedigende Antwort. Dass religionsgeschichtlich an ein Karawanenfeuer zu denken ist, überlieferungsgeschichtlich die Sinaitradition zu befragen ist und formgeschichtlich ein kultischer Zusammenhang möglich ist, entfaltet Christian Grethlein in GPM 1993/11 S. 54. Dort findet sich auch der Satz: „Offensichtlich erkannten die Israeliten Gott in sinnlich wahrnehmbaren Phänomenen und ließen sich von ihm durch sie leiten!“ 4. In systematischer Hinsicht habe ich mich an den Ausführungen Luthers und Calvins orientiert. Diese deuten die Wolken- und Feuersäule typologisch auf Wort und Sakrament. Martin Luther predigt am 28.5.1525. „Wir Christen wandeln auch aus Egypten, aus dem Reich des Teufels und der Sünden nach dem gelobten Lande, das ist nach dem ewigen Leben und kommen in die Wüsten, das ist in allerley trübsal, not und anligen, da wußten wir den Weg nicht zu treffen, das wir herausser kemen und dieselbigen überwinden kondten Aber GOTT gibt uns Geleits heute, als des tages die Wolcke und des nachts die feuerseule, das ist die Predigt des Göttlichen Worts und den brauch der hochwirdigen Sakrament, die leuchten und scheinen uns für, das wir den Weg in der Wüsten treffen und finden mögen zum ewigen leben“ (WA 16,264,22, zitiert nach Grethlein, a.a.O. 55f). 5. Das Vorangehen Gottes in der Wüste vollzieht sich am Tag und in der Nacht. In der Predigt differenziere ich die Kämpfe des Tages von den Kämpfen der Nacht. Wer da andere Unterscheidungen treffen möchte, kann dies sicher tun. Leitend war für mich der Außenaspekt in den Kämpfen des Tages und der Innenaspekt in den Anfechtungen der Nacht. 6. Das Motiv des Vorangehens Gottes habe ich überführt in den Gedanken der Nachfolge. Nicht jeder wird das so mitvollziehen können. Vom Neuen Testament her legt sich für mich diese Auslegung jedoch nahe, zumal auch 2. Mose 13 deutlich macht, dass das Ziel des Führens und Leuchtens das Wandern bei Tag und bei Nacht ist. Der ethische Aspekt sollte jedoch nicht das Übergewicht bekommen. Entscheidend bleibt vor allem die Zusage der Hilfe Gottes. 7. Das abschließende Gebet von John Henry Newman passt gut zur Jahreslosung 2006, die ich allerdings aus satzmelodischen Gründen in der Form der Lutherübersetzung in die Predigt eingeflochten habe. Das Gebet habe ich gefunden in: Du bist bei uns alle Tage. Gebet für das dritte Lebensalter, München, 3. Aufl. 2003, S. 58. 8. In Schriesheim wird im Gottesdienst am Altjahresabend das Heilige Abendmahl gefeiert. Die Predigt nimmt darauf Bezug.Liebe Gemeinde,
Gerettet und doch vor uns die Wüste
„Gott sei Dank“ werden die Israeliten gedacht haben und werden nach vorne geschaut haben. Im Ohr die Verheißung des gelobten Landes. Im Beutel das Notwendigste zum Leben: Den Teig für das Brot. Noch nicht gesäuert. Aber immerhin. Und an der Hand die Kinder und die Alten.
„Gott sei Dank“ werden die Israeliten gedacht haben und werden sich daran erinnert haben, wie mühsam, die vergangenen Tage, Wochen und Monate für sie gewesen waren. Sicher, manches war auch schön gewesen. Aber irgendwie kommen sie sich doch vor wie solche, die noch einmal davongekommen sind. Und darüber sind sie heilfroh.
„Gott sei Dank“ werden sie gedacht haben und werden gespürt haben, dass das der seidene Faden ist, an dem ihr Leben hängt. Unseres übrigens auch.
Und jetzt lagern sie sich und vor ihren Augen dehnt sich – die Wüste. Kein gelobtes Land. Kein Land, in dem Milch und Honig fließt, sondern die Wüste. Und die Wüste birgt Gefahren. Und wenn sie zurückblicken, sehen sie die Ägypter anrücken. Von beiden Seiten sind sie eingezwängt. Der eine Kampf liegt hinter ihnen. Ein neuer wartet auf sie. Und er kommt ihnen sehr groß vor. Vielleicht ist er sogar zu groß, um ihn allein zu bestehen. Bei Gerhard Ebeling lese ich dazu: „Das Lebensbedrohende ist in seiner Unberechenbarkeit, Jähheit und Macht, in seiner Verborgenheit und in seinem Uns-entzogensein von der Art, dass wir letztlich uns nicht selbst und auch nicht gegenseitig einander davor schützen können“ (zitiert nach Horst Kasner in GPM 1987 /11 S.69).
Macht Gott das Leben zum Kampf?
Ist das Leben, ist das, was vor uns liegt, ein Kampf? Möglicherweise sogar ein nicht zu gewinnender Kampf? Ich erinnere mich noch sehr gut, wie ich bei einer Tagung war, es war kurz vor meinem 1. theologischen Examen: Morgens war eine Andacht. Einer betete. Er bat um die Kraft, im Kampf des Lebens zu bestehen. Noch während er betete, bin ich ihm innerlich entglitten. Ich war nicht scharf auf den täglichen Kampf. Ich wollte mein Leben genießen, ich wollte glücklich sein, ich wollte mich nicht jeden Tag durchs Leben kämpfen. Dabei kenne ich eine ganze Menge Menschen, die verstehen inzwischen das ganze Leben als eine Art Bewährungsprobe und denken auch noch, dass das von Gott so gewollt ist. In der Schule höre ich das immer wieder. Da hat sich ganz leise der Glaube an die Wiedergeburt eingeschlichen, als könne man sich dieses und dann noch ein anderes und dann immer wieder ein anderes Leben verdienen. Und da heißt es dann im Glauben wie auch sonst im Leben sich hocharbeiten, bloß keinen Fehler machen, belohnt werden, abgestraft werden, je nachdem wie man sich verhalten hat. Dabei wissen wir doch alle: Unser Leben lässt sich so nicht verrechnen. Auch in diesem zu Ende gehenden Jahr nicht. Tun und Ergehen passen oft nicht zusammen. Wollen und Vollbringen auch nicht. Was wir uns vorgenommen haben, führt manchmal zum Gegenteil dessen, was wir gewollt haben.
Ich bin sicher, wenn Gott uns nach unserer Leistung beurteilen würde, hätte Mose niemals die Israeliten aus Ägypten führen dürfen. Denn an seinen Händen klebt Blut. Im Affekt hat er einen Ägypter erschlagen. Und auch der Apostel Paulus hätte niemals eine bedeutende Rolle spielen dürfen. Auch an seinen Händen klebt Blut. Wie sehr hat er gewütet, bevor ihn Christus für sich gewonnen hat.
Nein, Gott verteilt seine Liebe nicht nach Leistung. Wer sich in seiner Liebe bergen möchte, bekommt sie geschenkt. Und wer in seiner Liebe aufblühen möchte, darf dies erfahren.
Nein, Gott macht das Leben für uns nicht zum Examen. Er schafft nicht die Wüste, damit wir in ihr umkommen. Das ist einfach nicht wahr. Wahr ist allerdings: Das Leben ist ein Examen. Der Weg in das gelobte Land führt nun einmal durch die Wüste. Diese Unterscheidung klingt vielleicht ein bisschen fein, aber wir brauchen sie, weil wir sonst an Gott irre werden. Gott macht das Leben für uns nicht zum Examen. Es ist ein Examen. Der Weg in das gelobte Land führt uns nun einmal durch die Wüste.
In der Wüste zeigt sich, auf wen Verlass ist
In der Wüste erkennt man den Freund. Man erkennt, auf wen man sich verlassen kann. Sie werden das kennen. Wenn es hart auf hart kommt, dann merkt man, wer nur so dahergeredet hat und wer zu seinem Wort steht; wer bei einem aushält und wer sich doch lieber davon macht; und man merkt, ob einer im Grunde nur auf seinen eigenen Vorteil aus ist oder ob ihm wirklich das Wohl des Freundes oder der Freundin am Herzen liegt. In der Wüste erkennt man, auf wen man sich wirklich verlassen kann.
Nun heißt es ganz einfach in unserem Predigtwort:
Und der Herr zog vor ihnen her, am Tage in einer Wolkensäule, um sie den rechten Weg zu führen und bei Nacht in einer Feuersäule, um ihnen zu leuchten, damit sie Tag und Nacht wandern konnten. Niemals wich die Wolkensäule von dem Volk bei Tage noch die Feuersäule bei Nacht.
Auf Gott ist also Verlass. Was für eine schöne Erfahrung damals, und was für ein Wort für uns heute: Der Herr geht uns voraus. In den Gefahren des Tages und in den Anfechtungen der Nacht leuchtet er uns und ist für uns da. Damit wir eben nicht in der Wüste stecken bleiben, sondern damit wir gehen können und vorankommen und irgendwann einmal auch ankommen im gelobten Land.
Nachfolge in den Kämpfen des Tages und der Nacht
Die Gefahren das Tages: Das ist der tägliche Kampf ums Überleben. Denn auch wenn wir das manchmal anders sehen, wenn wir meinen, es gehe darum möglichst viel zu erleben, in Wahrheit geht es doch ganz einfach darum, dass wir überleben; in Wahrheit geht es jeden Tag wieder neu um Wasser und Brot, um Kleidung und Schuhe, um Arbeit, um Gesundheit und die Pflege der Kranken, um den Menschen an unserer Seite und um den Schutz vor übler Nachrede. Aber diesen Kampf sollen und müssen wir nicht irgendwie führen, sondern als Volk Gottes, nicht in Konkurrenz zueinander, sondern als Gemeinschaft miteinander, an der Hand die Kinder und die Alten und auch die sind noch dabei, die uns zu tragen geben. Keiner soll sagen müssen, dass wir ihn in der Wüste allein gelassen haben.
Noch einmal: Diesen Kampf sollen und müssen wir nicht irgendwie führen, sondern als Christen und in der Nachfolge dessen, der uns vorausgeht. Wenigstens in der Kirche soll man spüren, dass wir nicht in Konkurrenz zueinander leben, sondern in der Gemeinschaft von Brüdern und Schwestern, wenigstens hier muss klar sein, dass wir nicht einer mit dem anderen wetteifern, sondern dass das, was uns zusammenhält die Mitfreude ist und dann auch das Mitleid, und wenigstens hier muss es immer wieder gesagt werden, dass nicht die Masse zählt und nicht die Dominanz der Zahlen, sondern der Einzelne, dem Gott auch durch uns nachgeht, damit er in der Wüste nicht verlorengeht.
Dass das ohne Kämpfe nicht gehen wird, ahnen wir heute schon an der Schwelle zum neuen Jahr. Aber glauben wir doch nicht, dass es Jesus immer so leicht hatte: Die ständigen Auseinandersetzungen mit seinen Gegnern – es ist doch nicht zufällig, dass das Neue Testament immer wieder davon erzählt. Manchmal ist es fast ein bisschen penetrant. Aber diese Kämpfe des Tages können einem auch auf die Nerven gehen.
Und die Kämpfe der Nacht: Wenn alles still wird und wir eigentlich schlafen möchten, dann kriechen sie hoch: Die Schatten der Vergangenheit, die Angst vor dem Tod, die am Tage noch verdrängte Trauer, das Gefühl, unwichtig zu sein, überflüssig: Wem wird es denn auffallen, wenn wir einmal nicht mehr sind?
Bei Andrea Schwarz lese ich:
Gott wird das Dunkle aus unserem Leben nicht wegnehmen. Er wird unsere Tränen abwischen, ja, aber er kann nicht verhindern, dass wir sie weinen. Er ist die Auferstehung, ja, aber das nimmt uns den Tod erst einmal nicht ab. Jesus Christus ist am Kreuz gestorben, nicht um uns das Leiden zu ersparen, sondern um uns zu zeigen: Ich gehe wirklich alle Wege mit euch – auch die dunklen. ( Andrea Schwarz: Bleib dem Leben auf der Spur, Freiburg 2005, S. 104)
Christus spricht: Ich gehe wirklich alle Wege mit euch – auch die dunklen. Wie geschieht das? Wie wird das im kommenden Jahr für uns sein. Wolken- und Feuersäule – immer wieder sind sie gedeutet worden als Wort und Sakrament. So wird es auch in dem kommenden Jahr darauf ankommen, dass wir uns diesem Wort aussetzen, und dass wir immer wieder ins Wort bringen, was wir uns selber nicht zu sagen vermögen:
Friede sei mit dir. / So spricht der Herr: Wie ich mit Mose gewesen bin, so will ich auch mit dir sein. Ich will dich nicht verlassen, noch von dir weichen.
Dann, wenn wir doch spüren, wie die Wüste uns bedrängt und die rechte Freude sich nicht einstellen will und die alten Zwänge uns wieder einholen, dann sind wir eingeladen zum Mahl des Herrn. Um dort zu erfahren: Das stärke und bewahre dich im Glauben zum ewigen Leben.
Liebe Gemeinde, lasst uns das jetzt miteinander feiern. Lasst uns die Schatten der Vergangenheit in das Licht der Liebe Gottes stellen, lasst uns, was kommen mag, Gott befehlen. Lasst uns beten mit den Worten von John Henry Newman:
Gott, du bist bei mir gewesen alle Tage meines Lebens.
Du wirst mich auch in Zukunft nicht verlassen.
Lass mich meinen Weg nicht gehen, ohne an dich zu denken!
Lass mich alles vor dein Angesicht tragen,
um dein Ja zu erfragen und deinen Segen zu erbitten für jedes Tun.
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des heiligen Geistes sei mit euch allen.
Amen.