Besondere Augenblicke?
Gottes Geheimnis: Vom Stall in Bethlehem zur Hochzeit in Kana
Predigttext: 1. Korinther 2,9-10 (Übersetzung nach der „Guten Nachricht“)
„Was keiner jemals gesehen oder gehört hat, was keiner jemals für möglich gehalten hat, das hält Gott bereit für die, die ihn lieben. Uns aber hat Gott sein Geheimnis bekannt gemacht. Sein Geist, den er uns gab, hat es uns enthüllt.“Exegetisch-homiletische Vorbemerkung
1) Die Abgrenzung des vorgeschlagenen Predigttextes 1. Korinther 2,1-10 ist problematisch: Aus dem „ringförmig“ komponierten Abschnitt 1,18-3,23 wird ein Stück ohne Rücksicht auf die internen Abgrenzungen herausgebrochen; 2,6-16 bilden einen Zusammenhang, der auch sprachlich und stilistisch eine besondere Prägung hat. Aus der Eigenart dieses Abschnitts und seiner Stellung im Kontext ergeben sich für die Auslegung „sehr große Schwierigkeiten, die in der Forschung noch keine eindeutige Lösung gefunden haben“ (Friedrich Lang, Die Briefe an die Korinther. NTD16 Teilband 7, 1986, S. 39). Bei Auswahl und Abgrenzung der Perikope standen wohl in erster Linie protestantisch eingefärbte dogmatische Gesichtspunkte im Vordergrund: Die „theologia crucis“ soll auch in der Epiphaniaszeit nicht zu kurz kommen. Auch von mir eingesehene Predigten zeigen diese lehrhafte Tendenz deutlich. 2) Demgegenüber gehe ich von der Tatsache aus, daß über diesen Text in der Epiphaniaszeit gepredigt werden soll. Er ist daher vom Kirchenjahr her auszulegen (vgl. Karl-Heinrich Bieritz, Das Kirchenjahr. BsR 447. München ³1991, S. 197ff.). Von hier aus empfiehlt sich eine Konzentration auf die Verse 9-10. Das Zitat V 9 kann allerdings wörtlich weder im Alten Testament noch im außerkanonischen jüdischen Schrifttum nachgewiesen werden. Nach Origenes stammt es aus der Apokalypse des Elia; der Vers ist aber in den überlieferten Fragmenten dieser Schrift nicht enthalten (vgl. Lang S. 44).Anhang zum Nachdenken
„Die Präsenz des Göttlichen geschieht vermittelt, und diese Vermittlung gehört wesentlich zum Begriff der ‚göttlichen Dinge‘. In dieser Perspektive kann die Theologie den christlichen Glauben betont und treffend als ‚denkenden Glauben‘ charakterisieren. Das heißt, der Glaube ist nicht versetzt in ein ansonsten unzugängliches Jenseits, sondern der Glaube vermittelt, bezeugt und denkt die vorausliegende Wirklichkeit der ‚divine matters‘ unter und in den vollständigen Bedingungen dieses Lebens. ‚Denkender Glaube‘ ist demnach eine begründete Bestimmung für die menschliche Reaktionsform auf die göttliche Wirklichkeit und Wahrheit – und bezeichnet damit zugleich den Ursprungsakt von Theologie. Denn jede ernsthafte Auseinandersetzung mit der divina veritas, den ‚göttlichen Dingen‘, zieht die betroffenen Menschen als glaubende und denkende in diesen Wirkungsbereich hinein. Deshalb wird jeder Glaube wie von selbst theologisch...“ (Hermann Deuser, Kleine Einführung in die Systematische Theologie. Reclam Universal- Bibliothek 9731. Stuttgart 1999, S. 18f.).Epiphanias: Zwischen Krippe und Verklärung
Was ist das „Geheimnis“ Gottes, von dem Paulus hier spricht? Was hält Gott bereit für die, die ihn lieben? Was Paulus darüber an die Christen in Korinth schrieb, das hören wir heute hier in der sogenannten „Epiphaniaszeit“. „Epiphanias“ – das heißt so viel wie: Erscheinung Gottes. Es ist die Zeit des Kirchenjahres, die uns daran erinnert: In diesem Kind in der Krippe von Bethlehem begegnet uns Gott der Herr selbst! Da erscheint uns Gott! Dadurch wird unserer Zeit ein bestimmter Stempel aufgedrückt.
Christkönigsfest
Das findet auch im Gottesdienst der Christenheit seinen Niederschlag, vor allem in den Orthodoxen Kirchen. Am Epiphaniasfest als dem „Christkönigsfest“ werden wir an die Geschichte von den Weisen aus dem Morgenland erinnert, die den „neugeborenen König der Juden“ suchen.
Caspar, Melchior, Balthasar?
Diese Geschichte ist nicht nur für die Theologie interessant. Sie hat auch den Weg ins Brauchtum der Zeit nach Weihnachten gefunden: Über Türbalken steht, mit Kreide geschrieben, die Formel: „C+M+B“, eingerahmt von der jeweiligen Jahreszahl. Diese Inschrift wird im volksfrommen Brauchtum gerne in Verbindung mit der Geschichte der Weisen aus dem Morgenland im 2. Kapitel des Matthäusevangeliums gebracht. „C+M+B“: Was heißt das? In der Epiphaniaszeit fallen uns da gleich die „Heiligen Drei Könige“ ein. Die haben doch auch Namen, auch wenn diese nicht in der Bibel stehen! C: Damit kann doch der Caspar, M: damit kann doch der Melchior, B: damit kann doch der Balthasar gemeint sein.
Näher liegt allerdings eine andere Deutung dieses Brauches. Sie steht im Zusammenhang mit der vor allem bei katholischen Christen in der Epiphaniaszeit üblichen Haussegnung. Das, was wie ein „Plus-Zeichen“ zwischen den Buchstaben aussieht, ist nämlich kein mathematisches Symbol, sondern ein Kreuz, und zum Segnen gehört das Zeichen des Kreuzes. Dann geht es aber bei den genannten Buchstaben wohl um die Wortanfänge der Segensformel: „Christus mansionem benedicat“, zu deutsch: „Christus segnet das Haus“!
Taufe Jesu – Hochzeit zu Kana
Weiter wird uns in der Epiphaniaszeit im Gottesdienst die Taufe Jesu vor Augen gestellt. Da läßt Gott uns ausrichten: „Dieser Jesus ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe“. Im heutigen Evangelium ist dann von der Hochzeit in Kana die Rede, auf der Jesus Wasser in Wein verwandelt. Da heißt es: „Das ist das erste Zeichen, das Jesus tat, und offenbarte seine Herrlichkeit“!
Gott kommt in unsere Zeit
Die Geburt und Anbetung Jesu, die Taufe Jesu, Jesu erstes Wunder: Damit wird das große Geheimnis Gottes umschrieben, von dem bei Paulus die Rede ist! An Weihnachten steht hier eher der Gedanke der Erniedrigung Gottes im Vordergrund: In einem wehrlosen Kind kommt Gott zu uns. Krippe und Kreuz gehören zusammen. Die Taufe Jesu und sein erstes Zeichen in Kana sagen uns: Es ist wirklich Gott der Herr, der sich in diesem Jesus uns zuwendet und seine Herrschaft auf Erden aufrichtet. So kommt Gott in unsere Zeit! Erniedrigung und Erhöhung gehören zu seiner „Epiphanie“! Das ist der rote Faden, der sich durch die Weihnachts- und Epiphaniaszeit hindurchzieht. Das ist das große Geheimnis, das Gott bereitet hat denen, die ihn lieben. Denken wir darüber etwas weiter nach!
Der Mensch: das Zeitmangel-Wesen
Im Galaterbrief (Kap. 4 Vers 4) schreibt der Apostel Paulus: „Da aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn“. Mit anderen Worten: Für Gott ist das Maß der Zeit voll! Jesu Kommen ist ein besonderer Augenblick! Das steht bei Paulus zunächst in einem schwergewichtigen theologischen Zusammenhang. Aber auch unsere alltäglichen Erfahrungen machen uns darauf aufmerksam, daß wir mit unserem Leben auf die Zeit angewiesen sind. „Unsere Lebenszeit ist endlich. Sie ist gerade keine unbegrenzte Folge von Gegenwarten: sie ist vielmehr befristet. Unsere Zeit ist endlich, sie ist Frist, sie ist knapp. Der Mensch ist das Zeitmangel-Wesen“ – so formulierte es einmal der Gießener Philosoph Odo Marquard.
Kommunikation als Kompensation
Das ist mehr als eine theoretische Feststellung! Hinter dieser eher existentialistisch klingenden Endlichkeitsphilosophie steht auch die lebenspraktisch bedeutsame Einsicht: Eigentlich benötigen wir mehr Lebenszeit als wir haben, um mit unserem Leben nach unseren Wünschen und Vorstellungen fertig zu werden. Wir haben immer zu wenig Zeit. Zeitmangel ist eine wichtige Signatur unseres Daseins. Darum brauchen wir auch Mitmenschen mit möglichst vielen bunten Lebenszeiten, an denen wir teilnehmen und damit unser Leben bereichern können. Unser Zeitmangel wird also ein wenig ausgeglichen durch die Kommunikation mit unseren Mitmenschen, an deren Leben wir teilnehmen. Gerade die Weihnachts- und Epiphaniaszeit erinnert uns daran!
Qualifizierte Zeit
Unsere Zeit ist keine aus dem Unbestimmten ins Unbestimmte weiterfließende unbegrenzte Folge von Gegenwarten: Das bedeutet auch, daß es darin besondere Augenblicke, exemplarische Zeiten gibt! Das ist sogar in unsere alltägliche Zeitrechnung, in unseren Kalender eingegangen: Wir zählen unsere Jahre als die Zeit „vor“ und „nach“ Christi Geburt! Christi Geburt ist die große Zeitenwende! Das bekennen wir auch mit unserem Kalender. Hoffentlich noch lange! Denn nicht nur der Islam hat eine andere Zeitrechnung! Den Kalender kann man auch ändern! So hat zum Beispiel die Französische Revolution den christlichen Kalender abgeschafft, ehe ihn dann Kaiser Napoleon I. wieder einführte.
Besondere Augenblicke
Exemplarische Zeiten: Werfen wir zunächst einen Blick auf besondere Augenblicke in der Geschichte! So sagte Johann Wolfgang von Goethe, der damals in den Koalitionskriegen gegen Frankreich im Zusammenhang mit der Französischen Revolution Kriegsberichterstatter war, am 19. September 1792 nachts unter dem Eindruck der „Kanonade von Valmy“ noch auf dem Schlachtfeld: „Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabeigewesen“. Etwas später, am 9.11.1799, rief Napoleon I. stolz aus: „Nichts in der Geschichte gleicht dem Ende des 18. Jahrhunderts, nichts vom Ende des 18. Jahrhunderts gleicht diesem Augenblick“. Gemeint ist hier der Tag, an dem Napoleon I. sich durch einen Staatsstreich zum Ersten Konsul der Französischen Republik ausrief. Wenn wir jetzt das 60jährige Bestehen des Bundeslandes Hessen feiern, dann sollten wir auch daran denken: Der französische Kaiser Napoleon ist, was unser Staatsgebiet anbelangt, auch so etwas wie der Vater Hessens, und nicht nur der amerikanische General Clay. Napoleon ist aber auch, was das Kirchengebiet anbelangt, so etwas wie der Kirchenvater der Evangelischen Kirche von Hessen und Nassau! Er hat aus einer Fülle kleiner Landeskirchen größere Kirchenbezirke gemacht. Solche besonderen Augenblicke in der Geschichte wirken also bis heute nach! Übrigens nicht nur in Hessen!
Napoleons Redeweise entspricht zwar der Stilform des antiken Herrscherlobs. Er hat damit seine Verdienste herausstreichen wollen. Aber auch wir kennen bestimmt so etwas wie „besondere Augenblicke“ in unserem Leben. Jeder hat hier sein Tagebuch mit einer Fülle solcher Einträge. Und manche besonderen Augenblicke bringen wir auch mit Gottes Fügung zusammen.
Nur wir Menschen schießen oder läuten
Freilich gibt es da auch Wahrnehmungsunterschiede! So schreibt zum Beispiel Thomas Mann in seinem „Zauberberg“: „Die Zeit hat in Wirklichkeit keine Einschnitte, es gibt kein Gewitter oder Drommetengetön beim Beginn eines neuen Monats oder Jahres, und selbst bei dem eines neuen Säkulums sind es nur wir Menschen, die schießen oder läuten“. Das klingt nüchtern, eher trostlos oder zumindest resignativ. Auch diese Erfahrung machen wir immer wieder: Es gibt im Grunde keine besonderen Augenblicke! Unsere Zeit ist eher eine Wiederkehr des Gleichen, eine aus dem Unbestimmten ins Unbestimmte weiterfließende unbegrenzte Folge von Gegenwarten ohne Ziel und Sinn. Man könnte hier auf Friedrich Nietzsche hinweisen, der ja nicht nur den Nationalsozialismus beeinflußt hat.
Zwischen guten und fallenden Sternen
Da es die Epiphaniaszeit mit dem „Stern von Bethlehem“ zu tun hat, sei diese Paradoxie, dieser Widerspruch zwischen „besonderen Augenblicken“ und „Wiederkehr des Gleichen“ in seiner lebenspraktischen Bedeutung am Bild des Sterns verdeutlicht! Mit einem Stern verbinden wir vieles: den Mercedes-Stern als guten Stern auf allen Straßen, wie ihn uns die Werbung anpreist. Das Leben unter einem guten Stern, das nicht nur Freddy Breck in seinem bekannten Schlager „Die Sterne stehen gut“! besingt. „Den gestirnten Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir“ – so formulierte es der Philosoph Immanuel Kant als eine Umschreibung für Gott. Die Fußball- und Filmstars kommen uns ebenso in den Sinn wie das Verdienstkreuz mit Stern, das Sternenbanner, der Sowjetstern usw. Wir kennen den Stern als ein Hoffnungsbild, als ein Hinweis auf eine Hoffnungsgeschichte mit diesem Kind in der Krippe.
Wir stoßen vielfach auf „gute Sterne“. Wir wissen aber auch aus eigener Erfahrung: Stern ist nicht gleich Stern! Es gibt auch „dunkle“, „fallende“ Sterne! Es gibt Situationen, in denen wir denken: Es muß wohl ein anderer Stern gewesen sein, als Jesus geboren wurde, als diese Weisen kamen und ihm Geschenke brachten. Mir leuchtet der Stern Christi gerade nicht!
Es kommt auf den „Augpunkt“ an
Wir haben es im Blick auf die Zeit also mit einer Fülle von Sichtweisen zu tun! Eine 1799 anonym auf Malta und in Kairo erschienene Schrift mit folgendem Titel gibt mir da einen Fingerzeig: „Das Wetterleuchten über Europa am Ende des Jahrhunderts, gesehen im Jahr 1788 (aus den Papieren eines verstorbenen Geistersehers)“. Darin finden wir die Bemerkung, es wären alle Anzeichen da, „daß der gegenwärtige Zeitpunkt der allerwichtigste für die Menschheit sey, der je gewesen ist“. Andererseits gibt der anonyme Zeitgenosse – es handelt sich um den Schwaben Christian Friedrich Daniel Schubart, einem Zeit- und Leidensgenossen Friedrich Schillers – zu bedenken: „Die Zeit muß erst vorrücken, ehe wir den wahren Augpunkt zur Betrachtung der Weltgeschichte haben“. Wir erinnern uns an Paulus: Auch er denkt von einem bestimmten „Augpunkt“, eben von der „erfüllten“ Zeit, vom Ende der Zeit her! Für ihn ist Jesu Kommen in unsere Welt der entscheidende „Augpunkt“, den wir in der Weihnachts- und Epiphaniaszeit feiern.
Das gilt aber auch für unser alltägliches Leben. Auch hier kommt es bei unserem Umgang mit der Zeit entscheidend auf den „Augpunkt“ an. Und diesen finde ich – biblisch gewendet – in dem Wort aus Psalm 31,15f., das Gottes Geheimnis menschlich buchstabiert: „Ich aber, Herr, hoffe auf dich und spreche: Du bist mein Gott! Meine Zeit steht in deinen Händen“!
Für uns Christen gehören beide Zeitansagen eng zusammen: Das „Als die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn“ und – als lebenspraktische Antwort darauf – dieses Bekenntnis: „Meine Zeit steht in Gottes Händen“. Und dieses Geheimnis meint der Apostel Paulus, wenn er an die Christen in Korinth schreibt und wie Martin Luther es poetisch übersetzt hat: „Was kein Auge gesehen hat und kein Ohr gehört hat und in keines Menschen Herz gekommen ist, was Gott bereitet hat denen, die ihn lieben“.