Publikumsbeschimpfung im Auftrag Gottes?

Nicht den Gottesdienst madig machen, aber wir brauchen Gottesdienste, die uns für den Alltag ausstatten

Predigttext: Amos 5,21-24
Kirche / Ort: Heddesheim
Datum: 26.02.2006
Kirchenjahr: Estomihi
Autor/in: Pfarrer Dr. Herbert Anzinger

Predigttext: Amos 5,21-24 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)

Ich bin euren Feiertagen gram und verachte sie und mag eure Versammlungen nicht riechen. Und wenn ihr mir auch Brandopfer und Speisopfer opfert, so habe ich kein Gefallen daran und mag auch eure fetten Dankopfer nicht ansehen. Tu weg von mir das Geplärr deiner Lieder; denn ich mag dein Harfenspiel nicht hören! Es ströme aber das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach.

Exegetische und homiletische Vorbemerkungen

Für mächtig Furore hat er nicht nur damals gesorgt, Amos, der Mann aus Thekoa in Juda, der von der Schafzucht und der Maulbeerfeigenveredelung lebte und eines Tages um das Jahr 760 v.Chr. herum von Gott den Auftrag erhält, den Menschen im Nordreich Israel gehörig die Leviten zu lesen. Während der vergleichsweise langen Regierungszeit Jerobeams II (ca. 788-747 v.Chr.), in der das Land wirtschaftlich aufblüht, aber sich auch Korruption und soziale Ungerechtigkeit breit machen, verurteilt Amos das üppige Leben und auch den seiner Meinung nach entleerten Kult. Vielleicht hat Amos als Ort und Zielscheibe seiner mitunter beißenden Kritik gerade deshalb die nordisraelitischen Heiligtümer Samaria, Bethel und wohl auch Gilgal (so jedenfalls H.-W. Wolff im Biblischen Kommentar XIV/2, 107) gewählt, weil diese Heiligtümer nicht immer frei von Fremdvölkerkulten waren und jedenfalls in Konkurrenz zum Jerusalemer Zentralheiligtum standen. Im Namen JHWHs, des einzigen Gottes, kündigt Amos das Gericht über Israel an. Allerdings dürfte H.-W. Wolff (ebd. 309) darin Recht haben, dass V. 24 nicht schon als Beginn der Gerichtsdrohung zu sehen ist, sondern als das Erwünschte im Kontrast zum Kritisierten. Oft wurde und wird die Kultkritik des Amos von seiner Sozialkritik her interpretiert, als werte er den Kult und die Religion zugunsten des Sozialen und des Ethos ab. Gottesdienste und Feste, Opfer und Musik werden verworfen, Recht und Gerechtigkeit dagegen eingefordert. Mir scheint, dass diese doch reichlich moderne Entgegensetzung von religiösem Kult und sozialem Ethos die Intentionen des Amos nicht trifft. Ich glaube nicht, dass Amos auf den Kult hätte verzichten wollen. Was er beklagt, ist vielmehr, dass Religion und Kult keine Auswirkungen für das soziale Leben haben. Religion und Kult sind kraftlos, wenn sie es nicht vermögen, den Menschen in eine neue Gottesbeziehung zu versetzen, aus der die soziale Verantwortung reichlich fließt. Beides gehört zusammen, das „Beten und das Tun des Gerechten“, um mit Bonhoeffer zu sprechen. Recht gefeierter Gottesdienst wird in den Alltag hineinwirken, und der im Licht Gottes verstandene Alltag wird im sonntäglichen Gottesdienst zur Sprache kommen. Von diesen Überlegungen her widerstrebt es mir, den Gottesdienst madig zu machen. Gerade weil ich in unserem Lande eine zunehmende soziale Schieflage feststellen muss. Der Gottesdienst soll durchaus die Auswirkungen von Hartz IV in das Licht prophetischer Kritik rücken. Aber eben darum dürfen „schöne“ Gottesdienste nicht ausgespielt werden gegen soziales Unrecht. Eine „Beschimpfung“ der anwesenden Gemeinde, aber ebenso auch eine Gerichtspredigt „zum Fenster hinaus“ ist weder dem Gottesdienst zuträglich, noch leitet sie zu sozialer Verantwortung an.

Lieder:

„Tut mir auf die schöne Pforte“ (EG 166); „Nun saget Dank“ (EG 294,1); „Im Frieden dein“ (EG 222).

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Vor 40 Jahren, im Juli 1966, hat der Schriftsteller Peter Handke mit einem Stück, das sich „Publikumsbeschimpfung“ nannte, einen Skandal ausgelöst. Man vermisste nicht nur eine Handlung, sondern bekam stattdessen ein Sprechstück zu sehen, in dem es lediglich darum ging, das Publikum auf seine Befindlichkeiten anzusprechen. Ganz am Schluss gingen die Schauspieler dazu über, die Zuschauer regelrecht zu beschimpfen als „Kriegstreiber“ und „Untermenschen“, um ihnen schließlich einen guten Abend zu wünschen und sie unter dem Beifall der Schauspieler zu entlassen. Empört verließen die so Beschimpften das Theater. Ich glaube nicht anders würden wir reagieren, wenn man uns im Gottesdienst so anginge und beschimpfte.

Und trotzdem hören wir heute von etwas Vergleichbarem, von einer Publikumsbeschimpfung im Auftrag Gottes, ausgesprochen vom Propheten Amos aus Thekoa in Juda. Amos, der von der Schafzucht und der Maulbeerfeigenveredelung lebte, also sozusagen ein Laie in religiösen Angelegenheiten war, hatte während der Regierungszeit des Königs Jerobeams II von Israel den Auftrag von Gott bekommen, in den Norden des Landes zu ziehen und an den dortigen Heiligtümern das Gericht Gottes anzusagen, denn die Menschen hatten sich den Zorn Gottes zugezogen. In Kapitel 5, den Versen 21 bis 24 ist überliefert, was er den Gläubigen und den Priestern am Heiligtum in Bethel entgegenschleudert:

(Lesung des Predigttextes)

Stellen Sie sich vor, ein Gesinnungsgenosse des Amos würde jetzt aufstehen und mit vor Zorn bebender Stimme in die Kirche schreien: Ich habe Euch etwas von Gott auszurichten: Er hasst und verachtet Eure Gottesdienste und Eure Liturgie, Eure Feste und Gemeindetage. Eure kunstvollen Orgelimprovisationen und Eure Bachchoräle, die für schöne Stimmungen sorgen, sind ihm ein Graus. Sorgt lieber dafür, dass die Leute zu ihrem Recht kommen, und kümmert Euch um die Arbeitslosen, um die Hartz IV-Empfänger. Ich glaube, wir wären ähnlich empört wie die Leute damals. Wir würden den selbsternannten Mann Gottes bestenfalls für einen Spinner halten, den man aus dem Gottesdienst entfernen muss. Störungen des Gottesdienstes werden bei uns ja sogar gerichtlich geahndet.

Sicher haben die Zeugen der Provokation damals ganz ähnlich reagiert wie wir. Kein Wunder, dass Amos vom Oberpriester in Bethel beim König des Landfriedensbruchs angeklagt wird (Amos 7,10-13). Amos liest dem Volk die Leviten. Er ist dabei keineswegs zimperlich. Mit „fetten Basankühen“ vergleicht er andernorts die feinen Damen der Gesellschaft (Amos 4,1). Er scheut auch vor drastischen Vergleichen nicht zurück: Lediglich zwei Wadenbeine oder ein Ohrzipfel wird von Euch übrig bleiben, wenn das Gericht Gottes Euch verschlungen hat (Amos 3,12), so kündigt er an.

Starke Worte sind das zweifellos. Harte Worte. Worte des Zornes Gottes. Das Fest kommt ins Stocken. Wen wundert’s. Solche Worte kann man nicht einfach wegstecken. Amos verkündet den Zorn Gottes. Der Gedanke, dass Gott zornig sein könnte, scheint unserer Zeit mehr und mehr abhanden zu kommen. Frühere Generationen ahnten noch, dass es etwas Schlimmes ist, sich Gottes Zorn zuzuziehen. Der Gott, an den wir glauben wollen, ist ein lieber Gott. Ein Gott, der die Liebe selber ist. Das ist auch ganz richtig. Es fragt sich nur, ob dieser liebe Gott auch so harmlos ist, wie wir uns dies manchmal denken. Gott ist die Liebe, das ist schon wahr, aber wer aus dem Wärmestrom der göttlichen Liebe heraustritt, muss sich nicht wundern, wenn es kalt, wenn es eiskalt um ihn herum wird, so kalt, dass alles Leben absterben muss. In diesem Kältestrom wirkt sich der Zorn Gottes aus. Nun kann und muss man sich natürlich fragen, warum der Zorn Gottes gerade die zum Opferdienst in Bethel Versammelten trifft? Offenbar leidet Gott darunter, dass sie ihn loben und preisen und gleichzeitig ihre Mitmenschen unterjochen und versklaven, dass sie Willkür und Unrecht an die Stelle von Gesetz und Recht gestellt haben. Gott erträgt leichter die Lästerung von gottlosen Menschen als das Unrecht derer, die sich seine Gläubigen nennen. Denn Gott zu loben und zu opfern wird nur dann nicht zur Heuchelei, wenn man sich in seinem Verhalten von der Liebe Gottes bestimmen lässt.

Im Kern stellt uns Amos vor die Frage, ob wir uns wirklich mit Leib und Seele in den Wärmestrom Gottes stellen wollen und dann für uns auch klar ist, dass man innerhalb dieses Wärmestroms nicht anders kann, als diese Liebe auch anderen weiterzugeben. Wir sind gefragt, ob wir im Sinne der Liebe Gottes mit anderen umgehen. Festliche Gottesdienste mit Musik und Tanz können Ausdruck einer selbstvergessenen Gottesfreude sein, durch die Gott sehr wohl geehrt und gelobt wird. Nicht an den Gottesdiensten an sich übt Gott durch den Mund des Amos Kritik, sondern an denen, die sie feiern.

Obwohl sicher auch an unsere Art Gottesdienste zu feiern, kritische Rückfragen gestellt werden müssten. Die Konfirmanden aller Jahrgänge sagen mir immer wieder, der Gottesdienst spricht uns nicht an. Wir kommen darin nicht vor, wir mit unseren Problemen und Sorgen. Da wird nicht unsere Sprache gesprochen und nicht unsere Musik gespielt. Langweilig ist der Gottesdienst. Ich glaube, dass wir das durchaus ernst nehmen müssen, dass wir neue Formen des Gottesdienstes finden müssen, die auf der Höhe der Zeit sind. Die Reformatoren haben beispielsweise auch den Gottesdienst reformiert, indem sie der deutschen Sprache zum Recht verhalfen, damit jeder Gläubige versteht, was im Gottesdienst vor sich geht. Sie haben neue Lieder eingeführt, bei denen oft weltliche Melodien, regelrechte Schlager, damals Gassenhauer genannt, mit geistlichen Texten unterlegt wurden. Das alles wird sicher auch für uns in den nächsten Jahren und Jahrzehnten ein wichtiges Anliegen sein müssen, aber es nicht der Punkt, auf den es Amos hier ankommt.

Man kann sich mit traditionellen ebenso wie mit alternativen Gottesdiensten an Gott versündigen und so seinen Zorn herausfordern, wenn man die Liebe Gottes aus diesen Gottesdiensten nicht in den Alltag hinaus mitnimmt. Wenn man sich nicht im Alltag an den Orten als Christ bewährt, an denen man in Beruf und Schule, in Parteien und Vereinen, im Familien- und im Freundeskreis steht. Wenn man seine Augen vor der Not verschließt, die uns umgibt, ob dies nun ein altersschwacher oder einsamer, ein arbeitsloser oder ein behinderter Mensch ist. Ist es nicht schlimm, dass es Menschen unter uns gibt, die im Müll nach Essensresten suchen, die ihre Miete nicht mehr bezahlen können? Ist es nicht eine Schande, dass Kinder in der Bundesrepublik Deutschland auf der Straße leben? Oft wird ja Gott geradezu selber die Schuld an solchen Missständen gegeben: Wie kann Gott solches Elend zulassen, kann man dann hören.

Ich will Ihnen als Antwort darauf im Geiste des Amos eine kleine Geschichte erzählen (erzählt nach: Willi Hoffsümmer, Kurzgeschichten 4, 98f): Unterwegs im Wald sah ein Mann einen Fuchs, der seine Beine verloren hatte. Und er fragte sich, wie das Tier wohl überleben konnte, bis er beobachtete, wie ein Tiger dem Fuchs den Rest seiner Beute überließ, nachdem er sich selber sattgefressen hatte. Als sich dies am nächsten Tag wiederholte, staunte der Mann über die Güte Gottes und beschloss für sich, keinen Finger mehr zu rühren, sondern auf die Hilfe des Herrn zu vertrauen, der ihn sicher mit allem Notwendigen versorgen würde. Viele Tage brachte er so zu, aber nichts geschah. Als er schließlich schon dem Tode nahe war, hörte er eine Stimme, die sprach: „Öffne die Augen und nimm dir nicht länger den behinderten Fuchs zum Vorbild; folge dem Beispiel des Tigers!“ Da machte sich der Mann auf und zog seines Weges. Er war noch nicht weit gekommen, als er auf seinem Wege ein kleines vor Kälte zitterndes Mädchen traf, das ohne Hoffnung war, etwas Warmes zu essen zu bekommen. Da wurde der Mann zornig und sagte zu Gott: „Warum hast du dem Fuchs geholfen und tust nichts gegen die Not dieses Mädchens?“ Da antwortete Gott nach einer Weile: „Ich habe sehr wohl etwas dagegen getan. Ich habe dich erschaffen“.

In Gottesdiensten erfahren wir Gottes Wort als Ermutigung zum Leben, als göttlichen Zuspruch, der uns auch in Anspruch nimmt. Wir erfahren, dass wir von Gott geschaffen, also gewollt und geliebt sind, und dass wir diese Liebe mit anderen teilen sollen. Dass Gott in Christus uns zugute Mensch geworden ist, um uns in die Gemeinschaft mit sich zu holen, was nicht ohne Folgen bleiben kann für ein friedvolles Leben untereinander, und dass Gott seinen Geist in unsere Herzen schickt, um uns zu trösten und zu ermutigen zu einem Leben in der Nachfolge Christi. Das weist ganz automatisch in die weltlichen Bezüge, in denen wir leben. Deshalb dürfen Sonntag und Alltag nicht auseinanderfallen. Dietrich Bonhoeffer, dessen 100. Geburtstag wir Anfang des Monats gefeiert haben, hat dazu gesagt: „Unser Christsein wird heute nur in zweierlei bestehen: im Beten und im Tun des Gerechten unter den Menschen“ (DBW 8, 435). Ich glaube, das ist es auch, worauf Amos hinweisen wollte. Wir brauchen Gottesdienste, die keinen frommen Schein erzeugen, sondern für den Alltag in einer unerlösten Welt ausstatten. Dazu können und sollen alle beitragen, ob es nun die Kirchenmusiker und die Chöre sind oder die Lektoren, die Pfarrer oder die nebenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, sogar die Konfirmandinnen und Konfirmanden können ihren Teil dazu beitragen, dass alle gestärkt und fröhlich nach dem Gottesdienst nach Hause gehen und sich auf das vorbereiten, was sie in der neuen Woche erwartet.

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