Paradoxe Zusammengehörigkeit
Vertrauen auf die Widerworte Gottes
Predigttext: 2.Korinther 6,1-10 (Übersetzung nach Martin Luther Revision 1984)
Als Mitarbeiter aber ermahnen wir euch, dass ihr die Gnade Gottes nicht vergeblich empfangt. Denn er spricht (Jesaja 49,8): »Ich habe dich zur Zeit der Gnade erhört und habe dir am Tage des Heils geholfen.« Siehe, jetzt ist die Zeit der Gnade, siehe, jetzt ist der Tag des Heils! Und wir geben in nichts irgendeinen Anstoß, damit unser Amt nicht verlästert werde; sondern in allem erweisen wir uns als Diener Gottes: in großer Geduld, in Trübsalen, in Nöten, in Ängsten, in Schlägen, in Gefängnissen, in Verfolgungen, in Mühen, im Wachen, im Fasten, in Lauterkeit, in Erkenntnis, in Langmut, in Freundlichkeit, im Heiligen Geist, in ungefärbter Liebe, in dem Wort der Wahrheit, in der Kraft Gottes, mit den Waffen der Gerechtigkeit zur Rechten und zur Linken, in Ehre und Schande; in bösen Gerüchten und guten Gerüchten, als Verführer und doch wahrhaftig; als die Unbekannten und doch bekannt; als die Sterbenden, und siehe, wir leben; als die Gezüchtigten und doch nicht getötet; als die Traurigen, aber allezeit fröhlich; als die Armen, aber die doch viele reich machen; als die nichts haben und doch alles haben.Zu Predigttext und Predigt
Zum Predigttext
Ein sehr dichter Text: Es ist ein Abschnitt aus dem Leben des Paulus, also biografisch gesättigt. Aber andererseits lädt der Text ein, mit ihm neue Erfahrungen zu machen, also in den Spuren des Paulus weiter zu gehen. Paulus hat sich in Korinth Vorwürfen zu erwehren. Seine Gegner nennen ihn schwach, ungeschickt in der Rede und nicht mit der Weisheit beschenkt, die in Korinth hochgeschätzt wird. Diese Vorhaltungen diskreditieren die Verkündigung des Paulus und stellen sie grundsätzlich in Frage. Dagegen empfiehlt sich Paulus in seiner Erwiderung als wahrer Diener Gottes. Eine Hilfe in der Argumentation ist der Peristasenkatalog (VV 3-10), der in Korinth Erinnerungen weckte und Paulus als gebildeten Mann zeigen konnte. Programmatisch hat Epiktet, ein stoischer Philosoph, formuliert: „Die Peristasen sind es, die den Mann zeigen“. Unter Peristasen versteht er die unangenehmen, schwierigen Umstände des täglichen Lebens. Auch in der Apokalyptik war die Aufzählung von Peristasen ein gebräuchliches Stilmittel, um Stärke zu beweisen. Es war Rudolf Bultmann, der den Begriff der Peristasenkataloge auf die ntl. Texte übertrug, in denen Paulus verschiedene Nöte seines Aposteldienstes aufzählt – dazu gehört auch unser Predigttext. Paulus nutzt die Aufzählung seiner Peristasen zweifach: einmal, um seine Bewährung kundzutun, andererseits verweist er in seine Nöten auf Gott, der gerade in der Schwachheit mächtig ist. Eine Besonderheit in 2. Kor. 6 ist, dass neben Peristasen auch „Tugenden“ und schroffe Antithesen stehen. Die paradoxen Antithesen in den VV 8c-10 bilden überhaupt den Höhepunkt: In der Formulierung „als die Sterbenden und siehe, wir leben“ wird der Gedanke der (Leidens)Gemeinschaft mit Jesus besonders deutlich. Gerade die Antithesen sind offen für Missverständnisse. Den äußeren Widerfahrnissen könnte die innere Ruhe und Gelassenheit gegenübergestellt werden. Aber der Rückzug auf eine sichere (oder vermeintlich sichere) Innerlichkeit wird von Paulus an keiner Stelle propagiert – im Gegenteil: Die Kraft Gottes, die in Schwachen mächtig ist, lässt sich nicht in einer Innerlichkeit einsperren, die der bösen Welt den Rücken gekehrt hat. Von einer zweiten Gefahr ist allerdings auch zu reden: von dem Missverständnis, ein zeitliches Nacheinander zu konstruieren. Jetzt sterbend – dann lebend. Wer dieses Denkmodel favorisiert, kann sich der Gegenwart nur ergeben und/oder auf eine bessere Zeit (meinetwegen auch: das bessere Jenseits) vertrösten. Das ist aber auch nicht das Evangelium, das Paulus in Korinth verkündigt hat. So gibt es nur eine plausible Erklärung: Die Gegensätze, die Paulus beschreibt, gehören in paradoxer Weise zusammen. Paradox? Eigentlich beschreibt Paulus seine Existenz in den Auseinandersetzungen und Nöten, die auch in Korinth nicht unbekannt sind, als eine geschenkte Identität. Die Erfahrungen, die wie in einem Katalog aufgelistet sind, gehören zusammen, sind in sich verschränkt und lassen sich nicht isolieren. Die Versöhnungsbotschaft, die Paulus in Korinth formuliert hat, wird an seinem eigenen Leben deutlich. Ob es unter dieser Voraussetzung angemessen ist, von Gegensätzen zu sprechen? V. 2 ist ein Zitat, führt aber zu den atl. Wurzeln. Es ist ein Wort aus dem 2. Knecht-Gottes-Lied in Jes. 49,8: „Ich habe dich erhört zur Zeit der Gnade und habe dir am Tag des Heils geholfen“. Paulus ermahnt die Korinther, die Gnade Gottes nicht vergeblich zu empfangen – und die Zeit der Gnade ist jetzt. Das Zitat aus Jesaja hat argumentativ eine Scharnierfunktion, stellt aber alles, was Paulus von sich schreibt, in einen weiten Horizont, ja, begründet auch seinen Anspruch, in Korinth gehört und verstanden zu werden. Paulus erweist sich als Diener Gottes! Schauen wir auf den Kontext, sehen wir Paulus die Botschaft von der Versöhnung verkündigen. „Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber“ (2. Kor. 5,19). Das bedeutete auch in Korinth für die Menschen, die einmal Heiden waren, ein neues Leben: „Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden.“ (2. Kor, 5,17). Auf dieser Grundlage führt Paulus dann auch ab 6,1 aus, was dieses Neue bedeutet: die Gnade Gottes wirksam werden zu lassen im Leben (VV 1-2). Und Paulus gibt ein Beispiel – aus seinem Leben (VV 3-10). Gehen wir dem Gedankengang nach, treffen wir in den VV 4c-5 neun Peristasen/Leiden, in den Paulus seine große Geduld/große Ausdauer als Diener Gottes beweist: drei Peristasen, die zu der schwierigen Lage für ihn als Apostel dazugehören, drei Peristasen, die ihm von anderen zugefügt werden und drei Peristasen, die er freiwillig in seinem Dienst auf sich nimmt. Also: drei mal drei. Das „Zahlenspiel“ zeigt die besondere Schwere. In den VV 6-7b ist ein Katalog von Begabungen (oder stoisch „Tugenden“) eingefügt. In der Tradition wurden so Herrscher idealisiert. Hier kann Paulus sich als ein Mensch mit Führungsqualitäten empfehlen, ohne auf die gegen ihn erhobenen Vorwürfe überhaupt eingehen zu müssen. Die Wahrheit wäscht keine schmutzige Wäsche. Die VV 7c-8 enthalten die Waffenmetapher. Paulus hat die Waffen der Gerechtigkeit. Dabei ist er umfassend ausgerüstet: sowohl im Angriff (rechte Hand) als auch in der Verteidigung (linke Hand). Gekrönt wird die Argumentation, die Paulus führt, in den Antithesen VV 8c-10: 1. als Verführer – und doch wahrhaftig. 2. als die Unbekannten und doch bekannt; 3. als die Sterbenden, und siehe, wir leben; 4. als die Gezüchtigten und doch nicht getötet; 5. als die Traurigen, aber allezeit fröhlich; 6. als die Armen, aber die doch viele reich machen; 7. als die nichts haben und doch alles haben. Es sind sieben Antithesen. Die Zahl „7“ steht für die Vollkommenheit. Hier ist das ganze Leben zusammengefasst. Ist eine logische Reihenfolge erkennbar? Dann müsste es eine Steigerung geben von 1 nach 7, mit der 3. Antithese am Schluss. Aber muss es eine logische Reihenfolge geben? Dann nicht, wenn siebenfach eine Erfahrung beschrieben wird. Warum siebenfach? Weil es viele Gesichter gibt, die eine Erfahrung haben kann. Umgekehrt: die eine Erfahrung lässt sich vielfältig beschreiben. Das hat für die Wahrnehmung des Menschlichen eine große Bedeutung und hilft, die Mitte in vielen Bezügen aufzudecken. V. 9b ist von Ps. 118,17f geprägt – einem Lieblingswort Luthers: „Ich werde nicht sterben, sondern leben … gezüchtigt hat mich der Herr (LXX: Aorist!), aber nicht dem Tode übergeben“. Christoph Münchow formuliert: „Auf dem Hintergrund von 4,7ff. und 5,14ff. haben wir in diesen abschließenden Versen einen der in seiner existenziellen Tiefe bewegendsten Texte des Neuen Testaments. Für eine stoische Gelassenheit beruhen Bedrängnisse und Leiden allenfalls auf falsche Meinungen über solche Widerfahrnisse. Der Glaube, der die Erde liebt, kann sich unter dem offenen Himmel dem Widrigen stellen und Zuversicht fassen. Paulus stellt sich den Realitäten, zu der auch der Bezug es eigenen Lebens zu Tod und Auferstehung Jesu Christi gehört... Jetzt schon entfalten die Gemeinschaft der Leiden Christi und die Kraft seiner Auferstehung (Phil. 3,10f) ihre prägende Kraft als ein >Anbruch, Vorschein und Widerschein des Kommenden inmitten des erlittenen und angefochtenen Lebens.< (Schrage)“Zur Predigt
Der Text bietet viele Konkretionen an. Über ihnen steht: Jetzt ist Gnadenzeit (VV 1+2). Wenn es zutrifft, dass Paulus Versöhnung existentiell auslegt, wird diese Richtung auch die Predigt auszeichnen können. Obwohl ein Peristasenkatalog vorgelegt wird, kann die Predigt keine Katalogware sein. Eine große Hilfe ist, sich den Predigttext „gegliedert“ aufzuschreiben (s.o. unter Predigttext) In der Passionszeit, die jetzt (wieder) beginnt, könnte die Predigt offen aussprechen, was zu den dunklen Seiten gehört, die uns – in den Gemeinden unterschiedlich – bewegen und zermürben. Und von dem zu erzählen, was trägt und weiter reicht als die Gedanken, die wir uns „machen“. Christus-Predigten sind immer existentiell. Sie stehen nicht über den Dingen, unterwerfen sich ihnen aber auch nicht. Berühmtes Beispiel: die Invokavit-Predigten Martin Luthers. Werden Beispiele gebraucht? Paulus ist ein Beispiel. Sein Konflikt mit den Korinthern lässt sich erzählen. Nicht einmal unwichtig: den Apostel zu zeigen, wie er sich wehrt. Und wie sein Wehren bis heute Menschen Kraft gibt, Konflikte durchzuhalten und zu bestehen. Ein anderes Beispiel könnte Dietrich Bonhoeffer sein. Er hat die Frage gestellt: Wer bin ich? Wer bin ich? Wer bin ich? Sie sagen mir oft, ich träte aus meiner Zelle gelassen und heiter und fest wie ein Gutsherr aus seinem Schloß. Wer bin ich? Sie sagen mir oft, ich spräche mit meinen Bewachern frei und freundlich und klar, als hätte ich zu gebieten. Wer bin ich? Sie sagen mir auch, ich trüge die Tage des Unglücks gleichmütig, lächelnd und stolz, wie einer, der Siegen gewohnt ist. Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen? Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß? Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig, ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle, hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen, dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe, zitternd vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung, umgetrieben vom Warten auf große Dinge, ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne, müde und zu leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen, matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen? Wer bin ich? Der oder jener? Bin ich denn heute dieser und morgen ein anderer? Bin ich beides zugleich? Vor Menschen ein Heuchler und vor mir selbst ein verächtlich wehleidiger Schwächling? Oder gleicht, was in mir noch ist, dem geschlagenen Heer, das in Unordnung weicht vor schon gewonnenem Sieg? Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott. Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott! Wenn dieses „Gedicht“ aus dem Gefängnis auch nicht ganz vorgetragen werden kann, hilft es doch, den Predigttext aufzuschließen. Gedicht? Der letzte Satz zeigt, dass es sich hier um ein Gebet handelt. Die Idee, den Predigttext selbst auch als Gebet zu verstehen, ist nicht aus der Luft gegriffen. Man mache die Probe aufs Exempel: die Argumentation des Paulus als Gebet zu formulieren. Übrigens: das könnten die Fürbitten werden.Lieder:
„Du großer Schmerzensmann“ (EG 87 bes. 3 + 4), „Holz auf Jesu Schulter“ (EG 97), „Treuer Wächter Israel“ (EG 248,1 + 5), „Nun saget Dank“ (EG 294, Ps. 118!), „Ach bleib mit deiner Gnade“ (EG 347), „Ist Gott für mich“ (EG 351), „In dir ist Freude“ (EG 398), „Herr, wir bitten“ (EG 607), „Ich lobe meinen Gott“ (EG 673). - Als Credo: „Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will …“ (EG 813)Literatur:
Luthers Invokavit-Predigten - http://www.predigten.uni-goettingen.de/archiv-6/predigt1-gesamt.pdf ; Wolfgang Schrage, Leid, Kreuz und Eschaton. Die Peristasenkataloge als Merkmal paulinischer theologia crucis und Eschatologie, EvTh 34 (1974), 141-175; Christoph Münchow, GPM 95 (2006), 142-147; Marje Mechels, Predigtmeditationen im christlich-jüdischen Kontext. Zur Perikopenreihe IV (2005/6), 101-106.Was nach dem Komma kommt
In einem Brief lese ich: Mir geht es schlecht, aber ich lasse den Kopf nicht hängen. Vor dem Komma kann auch das Bittere einen Platz finden, nach dem Komma aber kommt der Widerspruch. Vor dem Komma wird formuliert, wie es geht, nach dem Komma, was ich mache. Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, wie oft wir so schreiben oder reden?
Eigentlich bewundere ich das. Ich sehe auch Gesichter vor mir: Da erzählt ein Mensch von seiner Krankheit. Sie zermürbt ihn. Macht ihn klein. Aber er beugt sich nicht. Aber ich lasse den Kopf nicht hängen, sagt er – manchmal sehr leise. Ein anderer hat in seinem Ordner hunderte Bewerbungen. Jeder Brief ein Unikat, Bote einer Hoffnung. Zu den wenigsten gab es eine Antwort. Und wenn: Es tut uns leid. Aber ich gebe nicht auf, sagt er – manchmal trotzig. Und auch das ist heute so selten nicht: Da ist eine Gemeinde, die muss sich von einer ihrer Kirchen trennen. Auch vom Personal. Auch von Erinnerungen und Plänen. Die Beschlüsse lassen sich kaum vermitteln, müssen aber getroffen werden. Aber wir machen weiter, sagen die Menschen – manchmal sehr geknickt.
Vor dem Komma steht, was zu sagen ist. Nach dem Komma, was daraus wird. Solange es das Komma gibt, gibt es auch das „Aber“.
Widerworte
Paulus hat den Korinthern einen Brief geschrieben. Lange wird er überlebt haben, was er schreiben kann, schreiben muss. Es gab Vorwürfe, die ihn verletzten, Zweifel, die seine ganze Verkündigung in Misskredit brachten. Und er war weit weg, konnte weder zuhören noch in ein Gesicht schauen. Ihm blieben nur Worte. Ich sehe ihn vor mir. Und dann schreibt er von sich. Er nennt sich einen Diener Gottes, der so vor den Menschen steht:
als Verführer und doch wahrhaftig;
als die Unbekannten und doch bekannt;
als die Sterbenden, und siehe, wir leben;
als die Gezüchtigten und doch nicht getötet;
als die Traurigen, aber allezeit fröhlich;
als die Armen, aber die doch viele reich machen;
als die nichts haben und doch alles haben.
Paulus schreibt so, als würde er die Menschen, an die er denkt, in dem „wir“ einbeziehen. Das ergibt reizvolle Nuancen, bezieht die Korinther mit ihren Lebensgeschichten ein und lässt viele Erfahrungen anklingen. Paulus bewegt, dass er wie ein Verführer dasteht, wie ein Unbekannter, wie ein Sterbender. Und er gibt Widerworte: Wahrhaftig und verlässlich ist, was er sagt, allen kann es vertraut sein – und als Totgesagter, verstärkt mit einem „siehe“, erzählt er sein Leben.
Unwillkürlich frage ich nach dem Geheimnis. Und muss auch nicht lange suchen. Paulus hat die Spur nicht einmal versteckt. „Als die Sterbenden, und siehe, wir leben“ – das hat Paulus aus dem 118. Psalm, den auch Luther so sehr liebte. In ihm heißt es: „Ich werde nicht sterben, sondern leben … gezüchtigt hat mich der Herr, aber nicht dem Tode übergeben.“
Widerworte gibt Paulus. Er leiht sie uns auch. Aber eigentlich sind es nicht seine Widerworte. Er vertraut auf die – Widerworte Gottes. Eine ungewohnte Perspektive: Einmal nicht von dem Wort Gottes reden, sondern von seinem Widerwort. Es ist ein Widerwort gegen die Trauer, die Resignation und den Tod.
Viele reich machen
Ich lade Sie ein, hier noch ein wenig zu verweilen. Werden die Menschen in Korinth verstanden haben? Als Liebhaber großer Weisheit müsste ihr Herz aufgehen, aber: Wir hören nichts von ihnen. Geht uns denn das Herz auf?
Normalerweise bedrücken Gegensätze eher als dass sie das Herz öffnen. Aber Paulus, der mit den Korinthern einen Streit auszufechten hat, möchte nicht Gegensätze vertiefen, sondern aufbrechen, nicht nur wahrnehmen, was nach unten zieht, sondern hinausführt und befreit. Ohne die Streitpunkte überhaupt bei Namen zu nennen, nimmt er ihnen die Macht.
Schauen uns wir uns zwei Beispiele aus dem Leben an. Paulus schreibt: Als die Traurigen, aber allezeit fröhlich! Dass Trauer und Freude dicht beieinander liegen können, wissen wir aus der alltäglichen Erfahrung, aber dass sie sich nicht mehr widersprechen – und auch nicht widersprechen müssen, sehen wir bei Paulus. Er ist traurig, in Korinth verkannt zu sein. Er ist traurig, sich rechtfertigen zu sollen. Doch die Fröhlichkeit, die ansteckt, findet Paulus bei Gott – und verschenkt sie weiter. Paulus trägt die Trauer nicht vor sich her, zieht sich nicht beleidigt hinter ihr zurück, missbraucht sie auch nicht, um Mitleid zu erheischen. Als Waffe wie als Begründung taugt die Trauer nicht mehr. Paulus sieht, wenn er die Verheißungen Gottes beim Wort nimmt, die Fröhlichkeit aus der Trauer herauswachsen. Dass die Trauer bleibt (und bleiben darf), wird nicht bestritten. Nur sie ist kein Stein mehr, der auf dem Weg liegt.
Wenn Paulus dann weiter schreibt: als die Armen, aber die doch viele reich machen, ist der vermeintliche Gegensatz vollends aufgelöst. Dass viele reich beschenkt werden, hat mit dem Geldbeutel wenig, mit dem Herzen aber viel zu tun. Staunend entdecken Menschen, mit wie wenig Mittel andere glücklich werden. Die aufgehäuften Besitztümer stehen sich nur im Weg. Vielleicht ist es gut, eine sehr menschliche Erfahrung von Paulus ausgelegt zu bekommen. Denn mit materiellen Reichtümern war Paulus nicht gesegnet. Er konnte von seinen Reden auch nicht leben – wie viele in der bedeutenden Kulturstadt Korinth. Seinen Lebensunterhalt verdiente Paulus als Teppichweber und Zeltmacher – und war stolz darauf. Auch wenn er damit nicht in die feinen Kreise passte, die sich in Korinth etablierten. Was aber kann Paulus geben, um viele reich zu machen? Das Evangelium. Gottes Wort. Gottes Widerwort. Und Paulus weiß: In Gottes Treue und Barmherzigkeit sind auch die Menschen geborgen und getragen, die nichts vorweisen und nichts mitbringen können. Die an sich herunterschauen. Die sich schuldig sprechen. Die mit dem Katzenbänken vorlieb nehmen – selbst am Tisch des Herrn. Wer ist eigentlich arm? Wer reich?
Normalerweise bedrücken Gegensätze eher als dass sie das Herz öffnen. Aber Paulus ist ein Meister der ihm anvertrauten Widerworte: Er sieht in den Gegensätzen Gottes Verheißungen – und entwindet ihnen die verhängnisvolle Macht, das Leben einzuschließen. Nein, kein Punkt – ein Komma muss gesetzt werden: damit das Leben weitergeht – und gelingt. Einfache Sätze hat Paulus gefunden. An ihnen beißt sich die Weisheit bis heute die Zähne aus.
Gegensätze, die keine sind
Darf ich Mäuschen spielen? Schade, ganz wird es nicht gelingen. Aber ich stelle mir vor, wie der Brief, den Paulus schreibt, in Korinth ankommt. Als er geöffnet und vorgelesen wird, herrscht betretenes Schweigen. Dass eine Antwort kommen würde – zugegeben, damit wurde seit längerem gerechnet. Er konnte das auch nicht auf sich sitzen lassen. Die Sticheleien, bissigen Kommentare, respektlosen Reden. Meinten viele. Aber so, mit diesen Worten? Lies noch einmal den Anfang, meint einer:
Als Mitarbeiter aber ermahnen wir euch, dass ihr die Gnade Gottes nicht vergeblich empfangt. Denn er spricht (Jesaja 49,8):
»Ich habe dich zur Zeit der Gnade erhört und habe dir am Tage des Heils geholfen.«
Siehe, jetzt ist die Zeit der Gnade, siehe, jetzt ist der Tag des Heils!
Und wir geben in nichts irgendeinen Anstoß, damit unser Amt nicht verlästert werde; sondern in allem erweisen wir uns als Diener Gottes: in großer Geduld …
Jetzt war es heraus. Hier setzt keiner zu einer großen Verteidigungsrede an. Bringt aber das Wichtigste einfach auf den Punkt. Nicht alle waren damit zufrieden. Wer ihm übel wollte, sagte: Nicht einmal auf den Putz kann er hauen. Aber wer sich erinnerte, hörte ihn sagen, was er immer schon gesagt und gelebt hat. Dass jetzt die Zeit der Gnade, jetzt der Tag des Heils ist.
Jetzt? Jetzt! Die eigene Befindlichkeit, Tagesform und Lebenserwartung – auf ein Wort zusammen geschmolzen. Auch die Gegensätze, in und mit denen ein Mensch lebt – auf ein Zentrum ausgerichtet. Paulus übernimmt, was Jesaja in Babylon sagte. Dass angesichts der vielen Mächte und großen Töne der Knecht Gottes zu den verunsicherten Menschen spricht: »Ich habe dich zur Zeit der Gnade erhört und habe dir am Tage des Heils geholfen.«
Paulus, der immer die Treue und Verlässlichkeit Gottes in den Mittelpunkt stellt, weiß: Es sind nicht kluge Einsichten, private Offenbarungen, große Erlebnisse, die helfen – nein, es ist Gottes Gnade, die Menschen ernst nimmt und birgt, sein Heil, das zu einem guten Leben befreit. Die Frage „wann“, die mir in den Sinn kommt, stellt Paulus nicht: Siehe, jetzt ist die Zeit der Gnade, siehe, jetzt ist der Tag des Heils!
Und der Friede Gottes,
der höher ist als alle Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne,
in Christus Jesus,
unserem Herrn.