Das Ohr an Gottes Wort legen
Wer mit dem Anspruch auftritt, Gottes Wort zu verkündigen, muss auf Auseinandersetzungen gefasst sein
Predigttext: Jesaja 50,4-9 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
4 Gott der HERR hat mir eine Zunge gegeben, wie sie Jünger haben, daß ich wisse, mit den Müden zu rechter Zeit zu reden. Alle Morgen weckt er mir das Ohr, daß ich höre, wie Jünger hören. 5 Gott der HERR hat mir das Ohr geöffnet. Und ich bin nicht ungehorsam und weiche nicht zurück. 6 Ich bot meinen Rücken dar denen, die mich schlugen, und meine Wangen denen, die mich rauften. Mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel. 7 Aber Gott der HERR hilft mir, darum werde ich nicht zuschanden. Darum hab ich mein Angesicht hart gemacht wie einen Kieselstein; denn ich weiß, daß ich nicht zuschanden werde. 8 Er ist nahe, der mich gerecht spricht; wer will mit mir rechten? Laßt uns zusammen vortreten! Wer will mein Recht anfechten? Der komme her zu mir! 9 Siehe, Gott der HERR hilft mir; wer will mich verdammen? Siehe, sie alle werden wie Kleider zerfallen, die die Motten fressen.Lied nach der Predigt:
„Er weckt mich alle Morgen“ (EG 452)Liebe Gemeinde!
Der Knecht Gottes, den wir aus diesem Predigttext sprechen hören, muss doch ein glücklicher Mensch sein! Ihm hat Gott eine Zunge gegeben, die so sprechen kann, wie es Jünger können. Ihm hat Gott das Ohr geöffnet, dass er das Wort Gottes hören und verstehen kann. Dieser Knecht Gottes muss doch glücklich sein! Er hat eine Sprache, die andere so verstehen, dass sie an Gott glauben können. Er hat ein Ohr, mit dem er hören kann, was Gott zu sagen hat. Ja, der Knecht Gottes lobt Gott dafür, solch eine Sprache und solch ein Ohr von ihm bekommen zu haben. Aber glücklich ist er damit nicht. Davon ist in dem Text nicht die Rede. Nein, der Knecht Gottes ist nicht glücklich, sondern er leidet. Er ist kein glücklicher Gottesknecht, sondern ein leidender Gottesknecht. Und er leidet ganz erheblich: Er berichtet, dass er geschlagen wird, er wird bespuckt, er wird verachtet. Aber die Sprache hat ihm das nicht verschlagen und hören kann er sehr wohl! Darum fordert er seine Peiniger auf, dass sie vortreten sollen, damit er mit ihnen darüber rechten kann. Er fordert seine Peiniger nicht dazu auf, dass man mal darüber redet, dass man mal miteinander diskutiert. Er fordert auf zu rechten, er fordert sein Recht ein. Denn hier spricht ein Prophet, der mit dem Anspruch auftritt, dem Volk Israel Gottes Wort zu predigen. Aber sie wollen es nicht hören, sie wollen es nicht annehmen. Der Prophet steht alleine da und muss Schmach und Schande ertragen. Er verteidigt sich damit, dass das, was er sagt, von Gott kommt. Gott wird ihm schon noch Recht geben!
Wenn wir heute am Sonntag Palmarum diesen Text bedenken, erinnert er uns sogleich an den Leidensweg Jesu. An Palmarum wurde Jesus noch als König gefeiert: Kleider wurden auf den staubigen Weg gelegt, Jesus sollte auf dem Esel darüber reiten, damit er als König wie auf einem roten Teppich daherkommt. Palmenzweige wurden geschwenkt und die Menschen riefen: Hosianna, gelobt sei, der kommt – im Namen des Herrn! Ja – im Namen des Herrn! Sie haben anerkannt und angenommen, dass Jesus das Wort Gottes verkündigt. Dass Jesus ihnen das sagt, was Gott den Menschen zu sagen hat. Dennoch wurde Jesus einige Tage später als Verbrecher gekreuzigt. Auch er war ein leidender Gottesknecht. Auch er bot seinen Rücken für die Schläge dar, auch er wurde angespuckt und verachtet.
Wer mit dem Anspruch auftritt, Gottes Wort zu verkündigen, muss auf Gegenwehr, muss auf Auseinandersetzungen gefasst sein. Das betrifft den alttestamentlichen Gottesknecht, das betrifft Jesus, und es kann auch uns betreffen. Die Kirche kennt eine lange Liste von Märtyrern, die für ihren Glauben gestorben sind. Angefeindet zu werden, war damals genauso möglich, wie es auch heute der Fall sein kann. Zum Glück ist es bei uns im christlich geprägten Europa anders als in vielen anderen Ländern unserer Erde: Bei uns ist das Christentum eine allgemein anerkannte Religion, die zum Leben dazugehört. Wenn auf Gottes Wort gehört wird, wenn Gottes Wort verkündigt wird, wenn im Glauben gelebt wird, ist das zumindest bei uns kein Grund zur Verfolgung oder zur Folter. Trotzdem setzen auch wir uns immer wieder damit auseinander: Was sagt uns Gott heute? Wir setzen uns manchmal auch zu Recht kritisch damit auseinander: Wie verstehen wir das, was die Heilige Schrift uns sagt, wie hören wir das, was uns Pfarrer/innen in der Predigt verkündigen? Hat Gott uns das Ohr geöffnet, um sein Wort zu verstehen? Hat er uns eine Zunge gegeben, um den Glauben recht zu verkündigen? Das betrifft nicht nur die Prediger/innen, sondern – zumindest, was das Ohr betrifft – uns alle: Hat uns Gott unser Ohr geöffnet, dass wir sein Wort an uns recht verstehen? Ja, überhaupt verstehen können? Denn wenn er selbst uns das Ohr nicht öffnet, werden wir ihn nicht verstehen können. Das ist schon so ein Argument, das viele aufregt. Wie kann man so etwas nur behaupten! Da kann doch jeder etwas behaupten, was er versteht und verstanden haben will! Wer will das noch auf seine Richtigkeit hin überprüfen? Wer kann denn beweisen, dass Gott einem das Ohr geöffnet hat oder auch nicht? Wer kann denn einfach mit dem Anspruch auftreten, er wisse, was Gott sagt, und wisse, was Gott will?
Auch wenn der Anspruch bei anderen Menschen Aggressionen auslöst, darf ihre Reaktion von uns doch niemals wiederum mit Aggressivität, womöglich mit Gewalt beantwortet werden. Mit Gewalt lassen sich Fragen der Glaubensüberzeugung nicht lösen. Es ist vielmehr der Weg der Achtung vor dem anderen Menschen, der Weg des Respekts, ja der Liebe zu den anderen Menschen, der dazu veranlasst, mit Worten und Argumenten zu kämpfen, aber nicht mit den Waffen der Gewalt. Lieber leidet man Schmach und Schande wie der leidende Gottesknecht, ja wie Jesus selbst, als dass man zu Gewalt und Terror greift, um sein Recht durchzusetzen. Als trauriges Beispiel dieses Konflikts erlebten wir in den vergangenen Wochen den Prozess gegen den Afghanen Rahman. Der Muslim ist zum Christentum konvertiert und wurde von seiner eigenen Familie vor Gericht angezeigt. Nach afghanischen Gesetzen ist ein Übertritt vom Islam zu anderen Religionen nicht erlaubt und wird mit der Todesstrafe geahndet. Die Familie wollte diesen Konflikt mit Gewalt lösen, nur westliche Politiker haben dies verhindert. Aber nicht, weil sie so fromme Christen wären, sondern weil sie es sich politisch nicht erlauben können, dass mit Geld aus ihren Ländern, mit eigenen Soldaten ein Land auf den Weg in eine Demokratie gebracht werden soll, in der solche Gesetze in Sachen Religion möglich sind. Das wollen wir eigentlich – auch politisch – nicht mitmachen. Weil wir als Christen in dieser Frage den Weg des Hörens auf das Wort Gottes, notfalls auch den Weg des Leidens gehen, nicht aber den Weg der Gewalt und des Terrors. Ich meine, dass sich genau an der Beantwortung dieser Frage in Zukunft vieles in unserer Kirche, ja in der ganzen Christenheit weltweit entscheiden wird, wie es mit dem christlichen Glauben weitergehen wird.
Als Prediger/innen und auch als Hörer/innen der Predigt haben wir den Anspruch, dass wir Gottes Wort immer wieder von Neuem hören und es verkündigen. Alles andere hat in der Kirche, im Gottesdienst nichts verloren. Aber ich sage bewusst: den Anspruch. Wir haben den Anspruch, Gottes Wort zu hören und zu verkündigen. Aber wir sagen nicht, hier spricht – sozusagen ohne menschliche Zwischeninstanz – Gott selbst. Auch kann und darf kein Mensch von sich behaupten, er höre und verkündige Gottes Wort authentisch, absolut und völlig fehlerfrei.
Es gehört zu unserem Glauben und zu unserer Demut gegenüber Gott, dass wir unsere menschliche, unsere religiöse Wirklichkeit von der Wirklichkeit Gottes klar zu unterscheiden wissen. Dass wir klar zu unterscheiden wissen zwischen dem, was wir als Menschen sagen und sagen können, was wir als seine Gemeinde hören und verstehen können, und dem, was Gott selbst sagt. Beides ist nicht automatisch identisch. Wer das behauptet und damit seine eigene Fehlerlosigkeit, ja Sündlosigkeit behauptet, nimmt etwas für sich in Anspruch, was nur Gott selbst hat und nur Gott selbst haben kann. Im Gegenteil: Wir alle, Prediger/innen wie Hörer/innen, sind darauf angewiesen, dass Gott uns unser Ohr für sein Wort öffnet. Wer aber von sich selbst behauptet, Gott habe ihm das Ohr geöffnet, und nicht gegenüber sich selbst kritisch ist und bleibt, ob er nicht vielleicht doch etwas überhört hat, etwas verkehrt verstanden hat, der wird fanatisch und wird fundamentalistisch. Wir Menschen sind und bleiben unvollkommen, davon ist das Hören auf Gottes Wort nicht ausgenommen.
Liebe Gemeinde, es ist sehr wichtig, dass wir uns begreifen als solche, die gemeinsam auf Gottes Wort hören. Die immer wieder das Ohr an Gottes Wort legen und um das rechte Verstehen ringen, miteinander darüber sprechen und uns über das Wahrgenommene austauschen. Damit wir in unserer Zeit, in unserer Kirche das sagen, was Gott uns sagen will, dass wir das tun, von dem Gott will, dass wir es tun. Hinter diesen Anspruch dürfen wir nicht zurückfallen. In unseren nicht ganz einfachen Zeiten für die Kirche, in Zeiten, in denen die Glaubenstradition bei vielen unserer Mitmenschen verloren geht, in denen der Säkularismus um sich greift, ja Gott geradezu vergessen wird, scheint es mir unabdingbar zu sein, klar zu unterscheiden, was unsere und was Gottes Wirklichkeit ist. Dann können wir durchaus mutig mit dem Anspruch auftreten, wir haben von Gott gehört und wir haben verstanden, was er uns sagt und was er von uns will. Aber dieser Anspruch ist nicht einfach aus der Luft gegriffen. Da wird nicht einfach irgendetwas behauptet, ohne dafür einen Grund zu haben. Es muss ja einen Übergang, eine Verbindung zwischen beiden Wirklichkeiten geben. Sonst bliebe der Anspruch wirklich eine Anmaßung ohne gleichen. Gottes Wirklichkeit und unsere Wirklichkeit müssen nicht nur klar zu unterscheiden sein, sondern ebenso klar auch zusammenzubringen sein. Es ist Gott selbst, der in einem Menschen beiden Wirklichkeiten zusammengebracht hat: in dem Menschen Jesus von Nazareth als dem Sohn Gottes. Er ist Gott und Mensch zugleich und bringt für uns Menschen beide Wirklichkeiten in seiner Person zusammen. Auf ihm ruht aller Anspruch, den wir erheben können, wenn wir sagen, wir haben Gottes Wort gehört. Denn Jesus Christus ist mehr als nur Hörer des Wortes Gottes, er ist selbst das Wort Gottes. Er ist nicht nur der leidende Gottesknecht, sondern er ist Gott selbst, an dem das Leiden ausgeführt wird. Er kann zu Recht behaupten, dass das, was er hört, authentisch das Wort Gottes, des Vaters ist, das er, sein Sohn weiß und hört, das er ausspricht und lebt. Was wir von Jesus Christus hören und sehen, das ist Gott selbst. An dem Menschen Jesus von Nazareth erkennen wir Gott. Bei ihm und nur beim ihm fallen der Anspruch, dass er das authentische Wort Gottes hört und der Anspruch, dass er das Wort Gottes selbst ist, zusammen. Nur bei diesem Menschen, nur bei Gottes Sohn fällt beides zusammen, das Hören auf das, was der Vater sagt, und das authentische Formulieren dessen, was er gesagt hat.
Darum wollen wir auf Jesus Christus sehen und uns an ihm halten. Was er gesagt hat und was er getan hat, ist das, was Gott will. Er ist mit Gott identisch und an diesem Leben können wir uns klar und deutlich orientieren. Oder wie es der alttestamentliche leidende Gottesknecht sagt: „Alle Morgen weckt er mir das Ohr, dass ich höre, wie Jünger hören.“
Amen.