Ganz Ohr sein

Es geht um Aufmerksamkeit auf höchstem Level

Predigttext: Jesaja 50,4-9
Kirche / Ort: Prizren/ Kosovo, 13.Ktgt. KFOR Feldlager
Datum: 09.04.2006
Kirchenjahr: Palmsonntag (6. Sonntag der Passionzeit)
Autor/in: Pastor Jochen Meyer-Bothling

Predigttext: Jesaja 50,4-9 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)

4 Gott der HERR hat mir eine Zunge gegeben, wie sie Jünger haben, daß ich wisse, mit den Müden zu rechter Zeit zu reden. Alle Morgen weckt er mir das Ohr, daß ich höre, wie Jünger hören. 5 Gott der HERR hat mir das Ohr geöffnet. Und ich bin nicht ungehorsam und weiche nicht zurück. 6 Ich bot meinen Rücken dar denen, die mich schlugen, und meine Wangen denen, die mich rauften. Mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel. 7 Aber Gott der HERR hilft mir, darum werde ich nicht zuschanden. Darum hab ich mein Angesicht hart gemacht wie einen Kieselstein; denn ich weiß, daß ich nicht zuschanden werde. 8 Er ist nahe, der mich gerecht spricht; wer will mit mir rechten? Laßt uns zusammen vortreten! Wer will mein Recht anfechten? Der komme her zu mir! 9 Siehe, Gott der HERR hilft mir; wer will mich verdammen? Siehe, sie alle werden wie Kleider zerfallen, die die Motten fressen.

Vorbemerkung des Herausgebers des Heidelberger Predigt-Forums

Als im Deutschen Pfarrerblatt 2/2006 die mich sehr ansprechende Predigthilfe über den wunderbaren Jesajatext, Jesaja 50,4-9 (das dritte Gottesknechtlied), zum Palmsonntag erschien, nahm ich spontan Verbindung mit dem Autor, Pastor Jochen Meyer-Bothling, auf, mit der Anfrage, ob er am Palmsonntag in Prizren/Kosovo auch mit der Predigt „dran“ und bereit sei, seine Ausarbeitung im Heidelberger Predigt-Forum zu veröffentlichen. Über seine Zusage freute ich mich sehr. Sie war im Hinblick auf die besondere Predigtsituation bescheiden zurückhaltend, aber mir darum um so wichtiger, weil mir gerade die Situation und das gemeindliche Umfeld wichtig erscheint, die eine Predigt unverwechselbar und unaustauschbar machen. Darum lässt sich keine Predigt einfach kopieren und in die eigene Gemeindesituation übertragen, aber sie kann mich anregen, meinen eigenen Zugang zum Bibeltext und den empfindsamen Umgang damit in der mir anvertrauten Gemeinde zu suchen. Zur Gemeindesituation in Prizren schrieb mir mein Kollege in einem persönlichen Brief, aus dem ich einige Passagen zitiere, weil sie über das Persönliche hinaus in nuce fast so etwas wie Aspekte einer Homiletik darstellen: „Sonntag für Sonntag trifft sich eine Kern-Gottesdienst-Gemeinde, einen Sonntag unter protestantischen Vorzeichen, den andern Sonntag unter katholischen. Wenn ich sage, dass die Gemeinde sich hier gefunden hat, dann setzt sie sich zusammen aus Männern und Frauen, die in der Heimat nicht selbstverständlich Sonntagsgottesdienste besuchen, d.h. sie mitfeiern. Ich gehe davon aus, dass der größere Teil eher selten in die Kirche geht. Hier im Einsatz, das hört man dann auch immer wieder mal im Originalton, ist der Gottesdienst ein besonderer Ort, der für die Zeit des Einsatzes prägt. Heute bin ich eine Woche nach meiner letzten Predigt daraufhin auf einer Fahrt mit Feldjägern angesprochen worden. Das habe ich zu Hause so eher selten. Dort lebe ich als Pastor nach dem Dienst, denn z.Zt. bin ich Bundesbeamter auf Zeit und habe so keine eigene Gemeinde. Ich lebe aber mit meiner Frau weiter in der Gemeinde und im Pfarrhaus, in der/dem wir seit 1993 sind. Das ist eine mecklenburgische viel zu kleine aber sehr aufmerksame Landgemeinde. In der Art liege ich dort mit meinen Predigten nicht so viel anders als hier im Einsatz. Ich möchte den Hörern/Hörerinnen Anstöße geben und ihnen sonst sehr viel eigenen freien Umgang mit den natürlich nicht aus der Luft gegriffenen Anstößen zutrauen…Für mich weiß ich, dass ich mir die Predigt in der nächsten Woche immer noch einmal vornehmen werde. Das Gerüst und der Verlauf werden aber, wenn nicht unvorhergesehene Ereignisse alles verändern, so bleiben...“ Hier im Feldlager Prizren von KFOR, gibt es einen kleinen Kirchenchor, der z.Zt. von Herrn Drüssel aus Heidelberg geleitet wird. Er sagt, Sie würden sich gut kennen. So klein ist die Welt. Es gibt auch eine kleine Bläsergruppe aus Trompeten, einer Posaune und Querflöten. Dazu kommt die nach meiner Beobachtung sehr offene und aufmerksame Gottesdienstgemeinde. Die Mischung ist schon als ein Geschenk anzusehen, ich sehe das jedenfalls so. Insgesamt gesehen gibt es im Auslandseinsatz eine ganze Menge schwierige Dinge für einen Pastor, aber es bringt auch viel persönlichen Gewinn...“ Ganz herzliche Grüße und gute Wünsche nach Prizren aus Heidelberg (Providenz-Kirche, Altstadt/City), und mögen dort und überall, wo die Palmsonntagspredigt gehört/gelesen wird, die Hörerinnen und Hörer „ganz Ohr sein“. Heinz Janssen redaktion@predigtforum.de

zurück zum Textanfang

Liebe Soldaten und Soldatinnen, liebe Gemeinde!

Es gibt Menschen, die können mit den Augen hören. Vor einiger Zeit habe ich in einer Talkshow eine junge Frau kennen gelernt, die als gehörlos geborene sprechen gelernt hat. Ihre Behinderung ist ihr kaum anzumerken. Sie kann sich von Angesicht zu Angesicht mit jedem unterhalten, hat Studien absolviert und beherrscht mehrere Fremdsprachen. Sie kann die Sprache ihres Gegenübers nicht hören, sie kann sie sehen. Bei all dem Fleiß, der zu einer solchen Entwicklung gehört, bleibt doch etwas, was man mindestens in der Nähe, wenn nicht überhaupt in die Kategorie Wunder einordnen muss.

Vor langer Zeit wurden Teile eines Volkes in ein ihnen nicht nur bezüglich der Sprache, sondern auch der Religion, fremdes Land deportiert, vom Jordan in das Gebiet von Euphrat und Tigris. Sie haben ihre eigene Sprache nicht aufgegeben (das haben die Okkupanten wohl auch nicht verlangt) und haben in der Fremde die Erfahrung der Anwesenheit ihres Gottes gemacht, er war mit ausgezogen. Er hat sich unter sein Volk gemischt. Die Menschen haben ihm ihr Ohr geliehen.

Es ist erst geraume Zeit her, dass in unserer gemeinsamen Heimat Deutschland, genauer: in einem Teil dieser Heimat, ein totalitäres Regime abgesetzt worden ist. Dem war es trotz großer Anstrengungen nicht gelungen, Religiosität, Glauben oder auch Gottvertrauen ein für allemal aus den Gedanken der Menschen zu tilgen. In meiner Schulzeit in den sechziger Jahren wurde uns erklärt, Kirche sei in 25 Jahren nicht mehr vorhanden.

Das Geschehen vergangener Zeiten und die Erfahrung jüngster Zeit sind zu großen Teilen sagen wir mal vernünftig zu erklären. Und doch bleibt auch da genug stehen, auf das wir nur voller Bewunderung eine angemessene Antwort finden. Genau das haben wir heute schon einmal thematisiert, als wir miteinander gesungen haben: „Er weckt mich alle Morgen, er weckt mir selbst das Ohr…“ ER ist dabei in Großbuchstaben geschrieben zu lesen. Und ER, wieder groß geschrieben, erreicht uns wie durch weit aufgesperrte Ohren, denen nichts entgehen kann. Die anderen Sinne haben mit Sicherheit gleiches Gewicht; kommen aber später einmal dran. Wer Luthers Katechismus mit Erklärungen noch auswendig hat lernen müssen, der weiß mit dem Reformator, woher er seine Sinne hat: „… ich glaube, dass mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen, mir Leib und Seele, Augen und Ohren, Vernunft und alle Sinne gegeben hat und noch erhält…“ Das, finde ich, ist großartig formuliert gegen das Vergessen. So, als wäre das immer klar gewesen, hören wir es bei Jesaja durchklingen, Luther hat es aufgegriffen und es uns neu ins Gedächtnis geschrieben. Es läuft auf die Botschaft hinaus: Wenn Gott die Zeit für gekommen hält, hilft alles Sich-wehren nichts. Daraus ergibt sich: Es gibt keine wirklich guten Gründe, sich den Annäherungsversuchen Gottes zu entziehen. Es lohnt sich, es bringt wirklich was, ganz Ohr zu sein.

Am 23. März ist nach Zeitungsberichten in Deutschland der Film „Das Leben des Anderen“ angelaufen. Das war im Rheinischen Merkur zu lesen. Unter einem Foto, es zeigt einen Abhörspezialisten der Stasi, steht in Großbuchstaben GANZ OHR. Als ich das gelesen habe, habe ich gedacht: das kann nicht sein, das bringt dir dein Konzept völlig durcheinander. Denn diese großen Ohren – sie waren tausendfach unter uns technisch installiert oder auf zwei Beinen unterwegs – haben Würde von Menschen in den Schmutz gezogen, haben in der Konsequenz Existenzen bis zur letzten Stufe hin zerstört. Was der Film bringt, seine Botschaft, wird man sehen, wenn wir ihn dann zu Hause sehen können. Diese Ohren sind hier heute nicht gemeint. Es geht um Aufmerksamkeit auf höchstem Level. Beim Besuch einer Schule in der Has-Region habe ich zwei Schüler mit hervorragenden Deutschkenntnissen kennenlernen können. Auf die Frage, woher sie so gut deutsch sprechen könnten, kam als Antwort: Wir haben es in deutschen Fernsehprogrammen gelernt. Das hat erhöhte Aufmerksamkeit erfordert, die Brüder sind ganz Ohr gewesen, ganz intensiv mit allen Sinnen.

Um der Würde willen ganz Ohr zu sein, ist uns, der Spur Jesajas folgend, aufgetragen. Die leisen Töne, die Gott eigen sind, wie die Bibel zu erzählen weiss, aufzufassen, braucht solche erhöhte Aufmerksamkeit. Gott ist nicht in der vernichtenden Gewalt von Tornados in seinem Element, sondern im kaum vernehmbaren leichten Wehen. Das ist nicht frei erfunden, sondern in der Schrift belegt. Das Ohr ist nicht für sich selber da. Es hat Funktion am Ganzen wie jeder einzelne Finger an der Hand. Schließlich geht es darum, mit den Müden zur rechten Zeit reden zu können, da zu sein, wenn es nötig ist, Zeit zu haben, wenn Menschen meine Zeit brauchen, aufmerksam zu sein, wenn Probleme angesprochen werden, vermeintlich Wichtiges aus der Hand zu legen, wenn anderes meine Zuwendung braucht. Darum, davon bin ich überzeugt, geht es in unserem Leben in den meisten aller Fälle. Diese Erwartung drückt Jesaja aus. Er ist auch bereit, Härten auszuhalten und Niederlagen einzustecken. Er weiß um das Gelingen. Das können wir 1:1 übernehmen unter den Bedingungen unserer Zeit.

So gesehen steckt eine politische Komponente in der Predigt des Propheten, deren Ansage sich nicht erledigt hat. Ich denke, wir sind es einander schuldig, mit noch viel wacheren Sinnen das Geschehen im eigenen Land und sonst in der Welt wahrzunehmen und uns einzumischen. Teilnahme ist von Nöten, damit Teilhabe möglich bleibt. Wenn Wahlen sind in Bundesländern, und so wenige gehen hin, muss uns das mehr als nachdenklich machen. Das Verhalten in diesen Dingen sagt etwas über unseren Gesamtzustand aus.

Ganz Ohr sein, sprachfähig, mündig werden, ist wie zu Jesajas Zeiten ein Gebot der Stunde. Das gilt für die Gesellschaft insgesamt. Das gilt in gleicher Weise für die kleinen Räume. Das gilt hier und heute. Wir sind uns bewusst: Gott macht sich bemerkbar. Das ist unübersehbar und unüberhörbar. Und es ist sagbar geworden mit dem Weg Jesu hinauf nach Jerusalem. Es ist Palmsonntag. In gehörigem Abstand zu ihm sind wir mit ihm in Jerusalem angekommen. Mit Ostern werden wir in die Mündigkeit entlassen. Gegen unsere Vergesslichkeit hören und singen wir drum ein Lied wie: „Er weckt mich alle Morgen, ER weckt mir selbst das Ohr. Gott hält sich nicht verborgen …“ – auch hier und heute nicht.

Amen.

zurück zum Textanfang

Ihr Kommentar zur Predigt

Ihre Emailadresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind markiert.