Töchter, steht auf!
Das Aufstehen beginnt bei uns selbst
Vorbemerkung der Redaktion
Das Redaktionsteam des Heidelberger Predigt-Forums dankt Herrn Professor Dr. de Lange für die Predigt zu Markus 5,21-42, die nach der Leseordnung der PKN – Protestantische Kirche der Niederlande – an diesem Sonntag als Alternative vorgestellt wird, vgl. auch Tijdschrift voor verkondiging 78/4 2006, S. 215-218 Die für diesen Sonntag vorgesehenen Gebete aus dem Dienstboek Schrift, Maaltijd, Gebet (Gottesdienstbuch der PKN, Teil 1) werden der Predigt angefügt. Die Übersetzung aus dem Niederländischen für das Heidelberger Predigt-Forum erstellte Manfred Wussow vom Redaktionsteam. Wer eine exegetische Einführung in den Text sucht, wird fündig unter: http://www.perikopen.de/Lesejahr_B/13_iJ_B_Mk5_21-43_Schumacher.pdf Lesenswert sind auch die catena aurea: http://www.catena-aurea.de/ljbpann13.html Manfred WussowPredigttext: Markus 5,21-43 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
(21) Und als Jesus wieder herübergefahren war im Boot, versammelte sich eine große Menge bei ihm, und er war am See. (22) Da kam einer von den Vorstehern der Synagoge, mit Namen Jaïrus. Und als er Jesus sah, fiel er ihm zu Füßen (23) und bat ihn sehr und sprach: Meine Tochter liegt in den letzten Zügen; komm doch und lege deine Hände auf sie, damit sie gesund werde und lebe. (24) Und er ging hin mit ihm. Und es folgte ihm eine große Menge und sie umdrängten ihn. (25) Und da war eine Frau, die hatte den Blutfluss seit zwölf Jahren (26) und hatte viel erlitten von vielen Ärzten und all ihr Gut dafür aufgewandt; und es hatte ihr nichts geholfen, sondern es war noch schlimmer mit ihr geworden. (27) Als die von Jesus hörte, kam sie in der Menge von hinten heran und berührte sein Gewand. (28) Denn sie sagte sich: Wenn ich nur seine Kleider berühren könnte, so würde ich gesund. (29) Und sogleich versiegte die Quelle ihres Blutes, und sie spürte es am Leibe, dass sie von ihrer Plage geheilt war. (30) Und Jesus spürte sogleich an sich selbst, dass eine Kraft von ihm ausgegangen war, und wandte sich um in der Menge und sprach: Wer hat meine Kleider berührt? (31) Und seine Jünger sprachen zu ihm: Du siehst, dass dich die Menge umdrängt, und fragst: Wer hat mich berührt? (32) Und er sah sich um nach der, die das getan hatte. (33) Die Frau aber fürchtete sich und zitterte, denn sie wusste, was an ihr geschehen war; sie kam und fiel vor ihm nieder und sagte ihm die ganze Wahrheit. (34) Er aber sprach zu ihr: Meine Tochter, dein Glaube hat dich gesund gemacht; geh hin in Frieden und sei gesund von deiner Plage! (35) Als er noch so redete, kamen einige aus dem Hause des Vorstehers der Synagoge und sprachen: Deine Tochter ist gestorben; was bemühst du weiter den Meister? (36) Jesus aber hörte mit an, was gesagt wurde, und sprach zu dem Vorsteher: Fürchte dich nicht, glaube nur! (37) Und er ließ niemanden mit sich gehen als Petrus und Jakobus und Johannes, den Bruder des Jakobus. (38) Und sie kamen in das Haus des Vorstehers, und er sah das Getümmel und wie sehr sie weinten und heulten. (39) Und er ging hinein und sprach zu ihnen: Was lärmt und weint ihr? Das Kind ist nicht gestorben, sondern es schläft. (40) Und sie verlachten ihn. Er aber trieb sie alle hinaus und nahm mit sich den Vater des Kindes und die Mutter und die bei ihm waren und ging hinein, wo das Kind lag, (41) und ergriff das Kind bei der Hand und sprach zu ihm: Talita kum! - das heißt übersetzt: Mädchen, ich sage dir, steh auf! (42) Und sogleich stand das Mädchen auf und ging umher; es war aber zwölf Jahre alt. Und sie entsetzten sich sogleich über die Maßen. (43) Und er gebot ihnen streng, dass es niemand wissen sollte, und sagte, sie sollten ihr zu essen geben. Lesung:Psalm 116Liedvorschläge (von der Redaktion zusammengestellt)
„Das ist mir lieb, dass du mich hörst“ (EG 292 nach Ps. 116 nach Heinrich Vogel) „Gott hat das erste Wort“ (EG 199) „Nun lasst uns Gott, dem Herren“ (EG 320) „Sei Lob und Ehr dem höchsten Gut“ (EG 326) „Ich steh vor dir mit leeren Händen“ (EG 382) „Herr, du hast mich angerührt“ (EG 383) „Lass die Wurzel unseres Handelns Liebe sein“ (EG 417) EG 382 und EG 427 gehen auf den niederländischen Dichter Huub Osterhuis zurück.Gebete
Gebet vom Sonntag: Du, der Menschen heil macht und ins Leben ruft: Durch das heilsame Wort der Propheten und Apostel öffne uns für Jesus, deinen Sohn, und lass uns die Kraft erfahren, die von ihm ausgeht und uns aufleben lässt. In dieser Stunde und an all unseren Tagen. Amen Schlussgebet: Gott des Lebens, halte uns an der Hoffnung fest, die dein Wort in uns weckt. Lass unser Leben durch das Vertrauen zu dir zu einem Zeichen dafür werden, dass du uns nicht dem Tode preisgibst, sondern ihn überwindest. Heute und an all unseren Tagen. Amen (Dienstboek S. 423)Im Scheinwerfer
Gemeinde unseres Herrn Jesus Christus,
große und kleine Kinder Gottes!
Zwei Frauen stehen heute im Mittelpunkt!
Im Gedränge eines Volksauflaufes kreuzen sich ihre Lebenswege.
Jede von ihnen hat eine eigene Biographie, aber dass sie sich nicht entfalten, ihre Gaben und Talente nicht einsetzen können, verbindet sie.
Zwei Biographien
Die eine ist beinahe eine junge Frau. Sie wird von ihrem Vater noch „Töchterchen“ genannt – so wie Väter das tun, wenn sie ihre größer werdende Tochter zärtlich noch klein halten. Besorgter Vater. Dabei ist sie auf dem besten Wege, erwachsen zu werden und das Leben in die eigene Hand zu nehmen. Im besten Fall ist sie auf das Leben gut vorbereitet, aber sie wird ihre eigenen Schritte gehen – ohne Papa. „Groß heraus kommen durch Kleinhalten“ ist keine Lebensmöglichkeit. So können keine kraftvollen und selbstbewussten Menschen aufstehen und mit offenen Augen in ihr Leben treten. Kann der Vater sie schützen, Flügel über sie ausbreiten? Aber jetzt, jetzt hat er noch Verantwortung. Er macht sich große Sorgen. Seine Tochter ist sehr krank. Ihre Zukunft, ihr Leben hängt an einem seidenen Faden. Der Tod steht vor der Tür.
Die andere Frau ist schon ein Stück weiter in ihrem Leben. Zumindest was die Jahre angeht. Niemand nennt sie mehr „Töchterchen“, aber – ist sie dadurch in ihrem Leben freier, selbständiger? All die Jahre über ist sie von Arzt zu Arzt gelaufen, hat viel Geld gelassen, jeden Strohhalm ergriffen – ohne jeden Erfolg. Müde ist sie und blass. Sie sieht schlecht aus. Sie hat ständig ihre Regel-Blutung. Damit hätte sie vielleicht leben können, aber die Gesetze und Regeln in ihrem Land machten sie „unrein“ und schlossen sie aus. Zurückgezogen musste sie leben, durfte nicht berührt werden, am normalen Leben der Menschen nicht teilhaben. Was das für sie bedeutete? Jahre der Isolation … Wie kann sie Freude und Lebenslust ausdrücken? Mehr noch: wie Lebensfreude geben? Sie ist eine Unberührbare geworden, ein „jemand“ am Rand der Menschengemeinschaft.
Zwei Frauen … Die eine zwölf Jahre, eigentlich kein Kind mehr. Eher eine junge Frau, wie das in vielen Ländern so gilt. Sie steht auf der Schwelle, die Kindheit und Erwachsen sein trennt, aber der Schritt droht, ins Leere zu gehen. Sie ist Tochter eines hoch gestellten und angesehenen Mannes, aber welches Leben soll sie haben? Wird sie überhaupt ein eigenes Leben haben? Der Tod hat sich herangeschlichen und lauert in der Nähe.
Und die andere: zwölf Jahre krank. Mit dem Blut, das sie verlor, verlor sie auch das Leben als Frau. Was ist das für ein Leben? Zwölf Jahre währt der Kampf. Gibt es noch eine Chance für ein gelingendes Leben, die Chance, neu aufzublühen?
Zwei Frauen in derselben Stadt … Beide sind in ihren Lebensmöglichkeiten ernsthaft bedrängt und gefährdet. Die eine wird für tot erklärt, die andere ist es im übertragenen Sinn schon lange.
Vertrauen – erste Schritte
In diese Stadt kommt Jesus von Nazareth. Sein Ruf schallt ihm weit voraus. Mit ihm kommt etwas Besonderes in die Stadt. Immer versammelt er Menschen um sich, immer ziehen Menschen mit ihm mit. Er spricht befreiende Worte, er geht auf Menschen ein…Es scheint etwas an ihm zu sein, wodurch sie …
Der Vater des Mädchens ergreift seine Chance. Jairus heißt er. Der Name bedeutet soviel wie „Gott wird erstrahlen“, andere sagen: „Gott wird erwecken“. Das ist für diese Geschichte nicht ohne Bedeutung. Und auffällig ist, dass er der einzige ist, der mit Namen genannt wird. Damit wir wissen, dass es Gott ist, der erstrahlt, der erweckt – der aufersteht.
Als Oberster der Synagoge ist der Vater ein angesehener Mann in der Stadt. Aber vor Jesus zeigt er sich klein und bittend. Er spricht sein Vertrauen aus – und seine Hoffnung. Daran soll Jesus nicht vorbei gehen! Aber die andere Frau hat nichts, um sich vorne hinstellen zu können. Sie hat auch niemanden, der für sie eintritt. Wie Jairus kann sie nicht auftreten. Schon gar nicht mit ihrer Krankheit. Man wird sie wegdrücken. Aber ihre Chance ergreift sie dann doch.
Jesus ist auf dem Weg zum Wohnhaus des Jairus. In dem Gedränge lässt sie sich nicht davon abhalten, mit Jesus in Berührung zu kommen, bei ihm Rat zu suchen. Sie nähert sich ihm mit Angst und Zittern. Wir kennen Jesus aus vielen anderen Geschichten. Er stellt den Geist eines Gesetzes über die Worte. Aber was wir wissen, weiß die Frau noch nicht. Für sie ist er ein Gerücht, und was sie tut, ein Spiel. Und jetzt, jetzt beginnt in der Bibel ihre Geschichte. Jetzt wird sie gesehen, durch das, was sie fühlt. Jesus sieht einen Menschen mit einem großen Vertrauen vor sich. Er erkennt sie!
Nicht anders als Jairus macht sie einen nicht selbstverständlichen Schritt, einen Schritt von Vertrauen und Übergabe, obwohl sie fürchten muss, abgewiesen zu werden. Aufs neue. Wieder einmal mehr. In beiden Fällen ist das der rote Faden: Der Schritt von Vertrauen und Übergabe.
Die große Familie Jesu
„Tochter“ sagt Jesus zu ihr. Das ist schön. Und es fällt auf. Denn der Erzähler nennt sie sonst nur „Frau“. „Frau“ ist aber nur ein Gattungsname. Jesus nennt sie „Tochter“. Das ist etwas ganz anderes! Das unterstellt eine – Beziehung! Es ist, als ob Jesus sagen will: Du stehst nicht allein. Auch für dich gibt es Menschen, die sich um dich kümmern. Ich lasse dich nicht stehen. Du gehörst zu meiner Familie. Du, von den Menschen für tot erklärt, ich sage dir: Tochter, Kind von mir, dein Vertrauen rettet dich. Steh auf und geh mit Zuversicht in dein Leben.
Die Geschichte geht weiter. Jesus kommt in das Haus der jungen Frau. Im Gegensatz zu der älteren Frau wissen wir von ihrer Krankheit eigentlich nichts. Nur: als Jesus kommt, sagen die Menschen, dass sie gestorben ist. Der Tod ist in das Haus getreten. Es ist zu spät … Hier ist nichts mehr zu tun. Aber Jesus? Was geht uns durch den Kopf, wenn wir ihn sagen hören, dass das Mädchen schläft? Sie schläft, sagt er. Mit anderen Worten: er sieht Leben, das aufgerichtet, das geweckt werden muss, um aufzustehen
Jesus nimmt Menschen wahr, die von anderen für tot erklärt werden, die aber Leben in sich tragen und ihre Zukunft nicht aufgeben müssen. Es berührt ihn. Er nimmt das Leben ernst. Auch wenn die anderen es nicht mehr sehen, nicht mehr fühlen. Wenn Menschen aneinander vorbei laufen. Wenn nichts mehr erwartet wird. Dann kommt der Schmerz. Gib auf. Du hast in deinem Leben Pech gehabt …Da will Jesus Menschen zu ihrem Recht kommen lassen – als Mensch, als Frau.
Auferstehung beginnt mit Aufstehen
Das will uns der Erzähler der beiden Frauengeschichten erzählen. Jesus leidet mit Menschen und lässt sich ansprechen. Er läuft nicht vorbei. Er sieht hin. Uns wird gesagt: Vertrau dich ihm an. Jemand, der so Menschen sieht, kann dir viel bedeuten. Wenn dich andere aufgeben und keine Möglichkeiten mehr sehen, richtet er dich auf und gibt dich dem Leben zurück.
Was bedeutet das jetzt? Dass wir uns Jesus als Zauberdoktor ausliefern sollen? Nein, so ist das nicht. In dieser Geschichte von Gott und Menschen werden Menschen nicht ausgesondert. Im Gegenteil. Da muss jeder Mensch auch selbst etwas tun … Das Aufstehen beginnt bei uns selbst! Dann wird daraus auch die Chance, gehört und gesehen zu werden.
Hier, in dieser Geschichte, beginnt das Aufstehen bei den Menschen selbst. Sie wagen den ersten Schritt. Der Vater, der für seine Tochter auf die Knie geht … Die Frau, die gegen alle Regeln aus den Schatten ihres Lebens tritt und sich nach vorne wagt …
Diese Geschichte erzählt von Menschen, Frauen, Töchter, die mit Jesus auf ihr Leben blicken und ihr Vertrauen auf ihn richten: Rühr mich an, richte mich auf.
Spurensuche
Wir lesen diese Geschichte, nachdem wir Ostern und Pfingsten gefeiert haben, das Fest von Jesu Auferstehung – und das Fest von Menschen, die ihm nachfolgen. gerufen durch seinen Geist. Heute begegnen wir Menschen, Frauen, die ihm nahe kommen, seine Stimme hören und die Kraft entdecken, die sie zum Leben weckt. Sie suchen seine Spur, um durch ihn wieder Leben zu haben.
Zwei Frauen … eine junge, eine ältere. In dieser Geschichte stehen sie für viele andere Frauen, denen das Leben nicht mehr glückt, die verneint werden, klein gehalten, nicht wahrgenommen, für tot erklärt. Aber dann kommt Jesus von Nazareth in die Stadt. Er sagt: Töchter, steht auf – und geht – in Frieden.
Und der Friede Gottes,
der höher ist als unsere Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne
in Christus Jesus,
unserem Herrn.
Amen