Stadt der Hoffnung

Zum Israelsonntag 2006

Predigttext: Jesaja 62,6-12
Kirche / Ort: 02906 Mücka (Gebelzig und Förstgen)
Datum: 20.08.2006
Kirchenjahr: 10. Sonntag nach Trinitatis
Autor/in: Pfarrer Mag. theol. Ulrich Hutter-Wolandt

Predigttext: Jesaja 62,6-12 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)

6 O Jerusalem, ich habe Wächter über deine Mauern bestellt, die den ganzen Tag und die ganze Nacht nicht mehr schweigen sollen. Die ihr den HERRN erinnern sollt, ohne euch Ruhe zu gönnen, 7 laßt ihm keine Ruhe, bis er Jerusalem wieder aufrichte und es setze zum Lobpreis auf Erden! 8 Der HERR hat geschworen bei seiner Rechten und bei seinem starken Arm: Ich will dein Getreide nicht mehr deinen Feinden zu essen geben noch deinen Wein, mit dem du so viel Arbeit hattest, die Fremden trinken lassen, 9 sondern die es einsammeln, sollen's auch essen und den HERRN rühmen, und die ihn einbringen, sollen ihn trinken in den Vorhöfen meines Heiligtums. 10 Gehet ein, gehet ein durch die Tore! Bereitet dem Volk den Weg! Machet Bahn, machet Bahn, räumt die Steine hinweg! Richtet ein Zeichen auf für die Völker! 11 Siehe, der HERR läßt es hören bis an die Enden der Erde: Saget der Tochter Zion: Siehe, dein Heil kommt! Siehe, was er gewann, ist bei ihm, und was er sich erwarb, geht vor ihm her! 12 Man wird sie nennen »Heiliges Volk«, »Erlöste des HERRN«, und dich wird man nennen »Gesuchte« und »Nicht mehr verlassene Stadt«.

Exegetisch-homiletische Erwägungen

Die Analyse des Jesajabuches Kap. 56-66 ist umstritten. Die teilweise lose miteinander verbundenen Worte des dritten Jesaja gehen nach Ansicht vieler Exegeten auf mehrere Verfasser zurück. Das Zentrum des Tritojesaja sind die Kap. 60--62, die von der Mehrzahl der Exegeten auf einen Propheten "Tritojesaja" zurückgeführt werden können, der nach der Rückkehr aus dem Exil in Jerusalem gewirkt hat. Seine Worte zeigen auffallend enge Berührungen mit der Verkündigung Deuterojesajas, dessen Verkündigungs- und Hoffnungsziel der erlöste Zion war. Nun waren Teile des Volkes zum unerlösten Zion zurückgekehrt, sie mussten aber feststellen, dass ihre Hoffnung enttäuscht wurde. Die Kap. 60-62 gehören inhaltlich eng zusammen – „als Verkündigung des eschatologischen Heils, das in Jerusalem anbrechen wird.“ (Hans-Joachim Kraus) Strittig ist in der Exegese, wer in V. 6f, die „Wächter“ sind. Mit Claus Westermann sind darin auf keinen Falle himmlische Wesen „über den Mauern Jerusalems“ zu sehen, sondern die vom Propheten angeredeten Menschen in Jerusalem. Die Funktion dieser Wächter wird sehr eigenwillig beschrieben. Sie sollen Gott an seine Verheißungen erinnern. In der schwierigen Situation der nachexilischen Zeit bringt Tritojesaja wieder die grundlegenden Verheißungen Gottes ins Spiel, die Deuterojesaja im Exil dem Volk verkündigt hatte. Es geht mit Hans-Joachim Iwand um „die Wiederholung eines Verlorenen, einer faktisch verlorenen und betrogenen Hoffnung“. Der Prophet spricht zu Gott und fordert seine Hörer auf, dies ebenfalls zu tun und Gott keine Ruhe zu geben, „bis er Jerusalem wieder aufrichte und es setze zum Lobpreis auf Erden“. (V. 7) Die Bewohner Jerusalems werden ermuntert, durch die Tore hinauszuziehen, um den Weg für die zu bereiten, die noch nicht zurückgeholt sind, die sich noch in der Fremde befinden. Damit soll auch für sie das Heil konkret und erfahrbar werden. Aber – und dies ist ganz entscheidend ! – die Rückführung der übrigen Exilierten ist allein Gottes Angelegenheit, ohne denn nichts bewegt werden kann. Was auf dem Zion passiert, ist Ausdruck der Liebe Gottes zu seinem Volk Israel und erweiternd gesprochen Ausdruck der Liebe und Zuwendung zu allen Menschen. Mitten im Sommer ein besonderer Sonntag, der sich mit dem Gedenken an Israel beschäftigt. Damit gemeint ist die Treue Gottes zu seinem Volk Israel, aber auch unser Respekt vor diesem Volk, dessen Geschichte mit dem Christentum wie auch mit der Geschichte unseres Volkes so eng verbunden ist. Aus dem Predigttext ergibt sich ein Thema, das existentiell mit dem Lebensthema der Menschen zur Zeit Tritojesajas wie auch für die Menschen unserer Tage verbunden werden kann: Das Ganze steht noch aus. Das heißt: Unser jetziges Leben ist noch unvollständig, was im Augenblick ist, ist nicht die ganze Wirklichkeit. Dieses Thema gilt für den Einzelnen ebenso wie für ein ganzes Volk. „Siehe, dein Heil kommt“, das Heil ist noch nicht angebrochen, es kommt noch, auch der Glauben verheißt dem Menschen, dass er mit seinen großen Wünschen an das Leben rechnen darf. Das Ganze geschieht im Beten vor Gott, der dieses Gebet erhört und die Menschen nicht mehr verlässt.

Literatur:

Rudolf Bohren, Prophet in dürftiger Zeit. Auslegung von Jesaja 56-66, Neukirchen-Vluyn 1969, 112-119; Reinhard G. Kratz, Artikel Tritojesaja, in: TRE 34 (2002), 124-130 (Lit.!); Hans-Joachim Kraus, Das Evangelium der unbekannten Propheten. Jesaja 40-66, Neukirchen-Vluyn 1990; Claus Westermann, Das Buch Jesaja. Kapitel 40-66, Göttingen 1966; ders., Predigten, Göttingen 1975, 80-84; Walther Zimmerli, Zur Sprache Tritojesajas, in: ders., Gottes Offenbarung. Gesammelte Aufsätze zum Alten Testament, München 1969, 217-233.- Eine gute Arbeitshilfe zum Thema Israelsonntag bietet: Studienkreis Kirche und Israel der Evangelischen Landeskirche in Baden. Israel im Gottesdienst. Eine Arbeitshilfe zum erneuerten Verständnis des Gottesvolkes Israel, Karlsruhe 2004.

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Liebe Gemeinde!

Heute ist Israelsonntag, und an diesem Sonntag fällt uns unsere eigene deutsche Geschichte ein: Die Deutschen haben in der Zeit des Dritten Reiches große Schuld auf sich geladen. In dieser Zeit kam großes Unglück über das Volk Israel, über die Juden in Deutschland und Europa. In den Jahren zwischen 1933 und 1945 hätten wir mehr Wächter gebraucht, die gegen die Massenvernichtung eines ganzen Volkes aufgestanden wären. Man darf nur hoffen, dass wir Deutschen aus diesem Dunkel unserer Geschichte gelernt haben, und dass sich heute so etwas in unserem Land nicht mehr ereignet, auch wenn in einzelnen Teilen Deutschlands – z. B. im Osten unseres Landes – viele Jugendliche und auch Erwachsene sich für die neuen rechten Gruppierungen interessieren und angesichts von Arbeits- und Perspektivlosigkeit im Osten für diese Gruppierungen eine willkommene Klientel sind. Und es gibt in unserem Land bedingt durch den neu aufgeflammten Rechtsextremismus eine Debatte darüber wie man über dieses Thema gerade mit Jugendlichen ins Gespräch kommt. Nun werden aber die Predigthörer sich fragen, weshalb der Predigttext den wir gleich hören, für den heutigen Israelsonntag ausgewählt wurde?

(Lesung des Predigttextes)

Hier geht es nicht um Politik, sondern hier geht es um das Gebet: Menschen beten tagaus tagein zu Gott und flehen ihn für Jerusalem an. Der Prophet fordert die Menschen, die in unserem Text Wächter genant werden auf, „Gott keine Ruhe zu lassen“ – bis er Jerusalem wieder aufgebaut hat.

Wie war es zu dieser Lage des Volkes Israel gekommen? Das Volk Israel war im babylonischen Exil fernab des Tempelheiligtums in Jerusalem, Jerusalem war zerstört, der Tempel abgerissen und die Menschen hatten große Probleme über die Runden zu kommen. Sie mussten für die Babylonier Sklavenarbeit tun und hatten täglich kaum genug zu Essen.

In dieser Lage schärft ihnen der Prophet Jesaja, der auch der dritte Jesaja genannt wird, ein: Betet immer wieder zu Gott, bedrängt ihn, so gut ihr könnt, bis Jerusalem wieder aufgebaut ist und es überall auf der Welt in Lobgesängen gepriesen wird. Die Menschen werden sicher damals viel von dem umgesetzt haben, was ihnen der Prophet geraten hatte. Und ich denke, dass es den Israeliten ähnlich ergangen ist, wie den deutschen Juden bei ihrer Deportation in die Konzentrationslager: sie haben zu Gott gebetet, so wie es Menschen immer tun in ihrer Not.

Jerusalem und der Tempel wurden wieder aufgebaut. Im Jahre 70 n. Chr. wurde der Jerusalemer Tempel dann von den Römern zerstört – doch ist das irdische Jerusalem bis heute nicht der Ort, den wir im Lobgesang in unseren Gesangbuchliedern anstimmen. Vielmehr ist es das himmlische Jerusalem, das uns vor allem durch den Hebräerbrief als zukünftige Heimat verheißen ist, die wir als Christinnen und Christen suchen.

Wir leiden heute nicht wie zu Zeiten des dritten Jesaja materielle Not, wir sind nicht im Krieg, doch es gibt bei uns viele andere Nöte: Materialismus, Armut oder Arbeitslosigkeit. Und in vielen unserer Gemeinden beklagen wir Glaubensnöte. Vielen Menschen ist der christliche Glaube ziemlich egal geworden, was sich ganz oft an den Zahlen unserer Gemeindeveranstaltungen ablesen lässt. Die Menschen sind zwar noch evangelisch, sind noch in der Kirche, doch ihren Glauben praktizieren nur wenige Gemeindeglieder regelmäßig. Müssen wir nicht – genauso wie Jesaja – solch eine Sehnsucht auf das Ganze, das noch aussteht, entwickeln? Er rief die Gemeinde in der Zeit des Exils dazu auf, solche Wächter zu werden, die Gott im Gebet den ganzen Tag bedrängen – nicht nur für die eigene Not, nicht nur für die kranken Angehörigen, für die Entwurzelten, die Arbeitslosen, sondern für die Stadt Jerusalem – d. h. für die ganze große Gemeinschaft.

Nun könnte jemand einwenden: Das war doch damals in Israel, lange ist es her, und uns gilt das schon gar nicht. Denn Jesus hat uns doch das „Vater Unser“ gelehrt und mit dem Gebet deutlich gemacht, dass wir nicht plappern sollen wie die Heiden. Das Thema Gebet ist nicht nur für die Juden ein wichtiges Thema, sondern auch für uns Christinnen und Christen. Und ich glaube, wir müssen uns das wieder neu bewusst machen. Denn in unserer evangelischen Kirche neigen wir doch eher zu einem liberalen Christentum.

Wünschen wir denn wirklich Veränderungen in unserer Kirche und in unserem Leben? Möchten wir denn wirklich den immer wieder beschworenen Aufbruch in unserer Kirche – nicht nur in der Ortsgemeinde, sondern auch in unserer Landeskirche oder in den ganzen EKD? Sind wir als Kirche nur noch eine Kasualkirche, wenn wir taufen, wenn wir trauen, wenn wir Menschen beerdigen, wenn wir Religionsunterricht erteilen oder Konfirmandenunterricht oder Christenlehre erteilen, – alles gut und schön. Aber wo bleibt das gemeinsame Gebet, von dem der Prophet Jesaja spricht? Wo finden wir Menschen das, was Jesus seinen Jüngerinnen und Jüngern mitgibt? Es gibt auch in unseren Gemeinden Menschen die in Gebetskreisen beten, doch wer geht da hin? Ich glaube, viele Christen haben vor dem gemeinsamen Gebet Angst. Angst, zusammen mit anderen laut zu beten. Ich denke der Predigttext fordert uns heraus, zu überlegen, ob wir nicht eine neue Kultur des gemeinsamen Gebets brauchen auf die bereits Dietrich Bonhoeffer hingewiesen hat.

Vielleicht fragen manche: Wirkt Gott nicht auch, wenn ich alleine zu ihm bete? Klar, dafür gibt es in unserer Bibel viele Beispiele. Doch Gott will, dass wir in Gemeinschaft mit anderen Menschen leben und in Gemeinschaft mit anderen auch zu ihm Kontakt aufnehmen, zu ihm beten. Das finden wir ebenfalls in zahlreichen Bibelstellen. Jesus betete nicht nur allein, sondern er berief 12 Jünger, weil ihm die Gemeinschaft wichtig war und lehrte diese, gemeinsam zu beten Die Urgemeinde lebte diese Gemeinschaft: Man traf sich im Tempel und in den Häusern der frühen Christen, betete gemeinsam, feierte gemeinsam Abendmahl, teilte den Besitz, teilte Freud und Leid. Diese urchristliche Gemeinschaft veränderte die Welt.

In diesen Wochen höre ich immer wieder die Frage: Ist die Kirche nicht eine überholte Einrichtung? Brauchen wir Kirche heute überhaupt noch? Ich denke unsere Welt braucht nichts dringender als Menschen, die sich – wie damals die Israeliten – gemeinsam auf den Weg machen, gemeinsam beten, gemeinsam feiern und auch gemeinsam ihren Glauben leben. Das dürfen wir vom Propheten Jesaja lernen, der uns verheißt: „Siehe dein Heil kommt“.

Amen.

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