“Komm, hilf mir”

Zufriedenheit erspüren und sich nicht durch einen himmlischen Leistungssport bestimmen lassen

Predigttext: Galater 2,16-21
Kirche / Ort: 55288 Schornsheim/Udenheim
Datum: 27.08.2006
Kirchenjahr: 11. Sonntag nach Trinitatis
Autor/in: Pfarrer Kurt Rainer Klein

Predigttext: Galater 2,16-21 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)

16 Doch weil wir wissen, daß der Mensch durch Werke des Gesetzes nicht gerecht wird, sondern durch den Glauben an Jesus Christus, sind auch wir zum Glauben an Christus Jesus gekommen, damit wir gerecht werden durch den Glauben an Christus und nicht durch Werke des Gesetzes; denn durch Werke des Gesetzes wird kein Mensch gerecht. 17 Sollten wir aber, die wir durch Christus gerecht zu werden suchen, auch selbst als Sünder befunden werden - ist dann Christus ein Diener der Sünde? Das sei ferne! 18 Denn wenn ich das, was ich abgebrochen habe, wieder aufbaue, dann mache ich mich selbst zu einem Übertreter. 19 Denn ich bin durchs Gesetz dem Gesetz gestorben, damit ich Gott lebe. Ich bin mit Christus gekreuzigt. 20 Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir. Denn was ich jetzt lebe im Fleisch, das lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt hat und sich selbst für mich dahingegeben. 21 Ich werfe nicht weg die Gnade Gottes; denn wenn die Gerechtigkeit durch das Gesetz kommt, so ist Christus vergeblich gestorben.

Exegetische (I.) und homiletische (II.) Vorbemerkungen

I. Petrus war einst nach Antiochien gekommen und hat mit den Brüdern und Schwestern der heidenchristlichen Gemeinde Tischgemeinschaft gepflegt. Als aber einige aus der Jakobus-Gruppe kamen, "zog er sich zurück und sonderte sich ab". Weil die jüdischen Speisegebote keine Beachtung in der antiochischen Gemeinde fanden und Petrus den Konflikt mit den Judenchristen fürchtete, verweigerte er die Tischgemeinschaft mit den Heidenchristen. Das brachte Paulus fürchterlich in Rage und er donnerte: Weder die Speisegebote noch die Beschneidung noch das jüdische Gesetz können zum Heil führen. Dies anzunehmen wäre ein schrecklicher Rückfall hinter die Erkenntnis des Evangeliums. Einzig und allein der Glaube an Jesus Christus, "der mich geliebt hat und sich selbst für mich dahin gegeben" hat, führt uns zur Gemeinschaft mit Christus. Die Gnade Gottes überbietet die Gerechtigkeit, die aus dem Gesetz kommt. Während das Gesetz unsere Eigenliebe fördert und uns auf uns selbst bezogen leben lässt, ermutigt uns die Liebe Christi zur Liebe zu unsere Mitmenschen. II. Theologische Einsichten zu predigen, die so substantiell wie unsere Perikope formuliert sind, gehören zu den größten Herausforderungen des Predigtamtes. Wie bringen wir das unseren ZuhörerInnen so rüber, dass es in ihrem Lebenskontext andockt und verständlich wird? Keine leichte Aufgabe! Der hier eingeschlagene Weg versucht es mit viel menschlicher Anschaulichkeit. Es besteht freilich die Gefahr, dass eine Verwässerung der theologischen Erkenntnis vermutet wird. Aber es ist ein Versuch, anschaulich zu machen, was Gesetze - religiöse oder weltliche -, denen wir uns unterwerfen, produzieren. Darin mag das Evangelium aufleuchten, das uns durch die Liebe Christi frei macht von jeglicher Ängstlichkeit zum Leben

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Dem Gesetz unterworfen

Frau Meyer ist gerade aus dem Urlaub zurückgekehrt. Sie war im Süden, vierzehn Tage in Tunesien, wo die Sonne den ganzen Tag scheint, ohne Wolken am Himmel. Braun gebrannt ist sie nun – am ganzen Körper. Ihr dunkler Hautteint ist ohne Frage gesund anzusehen. Auch sonst legt Frau Meyer sehr viel Wert auf gutes Aussehen und ihr Äußeres. Regelmäßig spielt sie Volleyball, und einmal in der Woche sieht man sie mit ihren Nordic-Walking-Stöcken eine gewisse Strecke zurücklegen. Im Winter besucht sie das Fitness-Studio und erhält ihre sommerliche Bräune auf der Sonnenbank. Auf ihr Gewicht und ihre Figur gibt sie Acht. Schönheit bedeutet Frau Meyer alles.

Herr Müller dagegen hat keine Zeit für Urlaub. Er würde sich zu Tode langweilen. Nein, er kann seine Arbeit einfach nicht loslassen. Seit er sich selbständig gemacht hat, jagt er jedem Auftrag hinter her. Sein Tag hat weit mehr als acht Arbeitsstunden. Ob er überhaupt einmal an etwas anderes als seine Arbeit denkt, bezweifeln alle die, die ihn gut kennen. Er will sein Geschäft nicht nur erhalten, er will vergrößern, expandieren, noch mehr anbieten und besser dastehen als alle seine Konkurrenten. Wo soll da die Zeit für ein Bier mit Freunden bleiben?! Was Herr Müller auch erreicht hat, alles hat er sich von klein auf mit unbändigem Fleiß und Zielstrebigkeit erarbeitet. Darauf ist er stolz.

Ob wir das Gesetz der Schönheit oder das Gesetz der Zielstrebigkeit betrachten, erkennen wir deren fordernden Charakter. Gesetze sind hart und unnachgiebig. Sie verlangen von einem, dass man sich ihnen beugt. Sie erwarten, dass man ihnen gerecht wird. Wird man es nicht, klagen sie an und zeigen uns unsere Versäumnisse und Verfehlungen, unser Ungenügen und Versagen.

Gesetze verführen gern zu Extremen. In den letzten Wochen haben wir im Radrennsport vor der Tour de France von neuen Doping-Fällen gehört. Einzelne Radrennfahrer haben mit unerlaubten Mitteln versucht, ihre sportlichen Möglichkeiten zu verbessern. Das Gesetz der Leistung hat sie auf diesen Weg gebracht. Um vorne mitzufahren, um ganz vorne mit dabei zu sein, um möglicherweise auf ein Siegertreppchen zu kommen, war Doping mit einem Male nicht mehr verpönt. Es wurde zum Mittel der Wahl gegen das Gesetz des Alterns, das jeden Sportler irgendwann erreicht und dessen Kräfte und Möglichkeiten schwinden lässt.

Unsere Gesellschaft heute zeichnet sich als Leistungsgesellschaft auf. Es herrscht das Gesetz der Leistung. Die PISA-Studie legt hier den Finger auf die Wunde. Schon im Kindergarten sollen die Kinder mit Wissen im weitesten Sinne des Wortes gefüttert werden. Nur die Besten erhalten eine Lehrstelle. Die gymnasiale Schulzeit ist in Rheinland-Pfalz auf zwölfeinhalb Jahre verkürzt worden, anderswo auf zwölf Jahre. Die Studienzeit soll schnell durchlaufen werden, damit der Wirtschaft junge, kreative Arbeitskräfte zur Verfügung hat. Die Rückseite dieser Medaille ist uns allen bewusst. Wer den Leistungsanforderungen nicht gerecht wird, bleibt auf der Strecke. Das Gesetz der Leistung ist hart und unbarmherzig.

Himmlischer Leistungssport

Gesetze haben auch etwas Spaltendes. Sie teilen in solche, die dem Gesetz gerecht werden und in die, die dem Gesetz nicht genügen (können).

So war das auch in Antiochien gewesen, wie Paulus im Galaterbrief erzählt: Petrus, Jude seines Zeichens, kam nach Antiochien und aß fröhlich mit den Heidenchristen, die unbeschnitten waren. Das war okay, sagt Paulus, weil das Evangelium von der Liebe Gottes in Christus dazu frei macht. Als aber einige Personen aus der (judenchristlichen) Jakobus-Gruppe dazu kamen, zog sich Petrus von der geübten Tischgemeinschaft mit den Heidenchristen zurück. Das war für Paulus ein Affront und brachte ihn auf die Palme. Denn die Befolgung des jüdischen Gesetzes stellte für Paulus mit einem Male das Evangelium in Frage. Für Paulus bedeutete das Verhalten des Petrus einen Rückfall in himmlischen Leistungssport.

Ein alter rechtschaffener Mönch spürte seine letzten Tage kommen und machte sich auf, Gott entgegen zu gehen. Als er zum Himmelstor kam, pochte er erwartungsvoll gegen die mächtige Tür, aber sie blieb verschlossen. Traurig ging er ins Kloster zurück und nahm sich vor: Du m u s s t noch strenger fasten, noch intensiver beten und noch länger schweigen! Abgehärmt ging er ein Jahr später wieder den steilen Weg zum Himmel hinauf und klopfte. – Nichts rührte sich. “Was habe ich falsch gemacht?” dachte er. “Vielleicht, weil ich immer abgeschieden in meinen vier Wänden war und keinen einzigen Menschen bekehrt habe?” Jetzt zog er in unermüdlicher Verbissenheit von einem Marktplatz zum anderen, und sobald er auf Menschen traf, predigte er: “Kehrt um! Ändert euch! Tut Buße! Sonst könnt ihr dem Strafgericht Gottes nicht entfliehen!” In froher Erwartung kehrte er nach einem Jahr zum Himmelstor zurück, sicher, jetzt eingelassen zu werden. Er schlug gegen die Pforte und – erbleichte: Nichts regte sich. “Ach”, schoss es ihm durch den Kopf, “ich habe ja immer nur gepredigt und habe den Dienst am Menschen vernachlässigt”. Und er ließ sich in einem Krankenhaus als Krankenpfleger einstellen. Mit aller Zärtlichkeit, die seinen Händen geblieben war, wusch und pflegte er mit eisernem Willen ein Jahr lang die Kranken. – Dann schritt er voller Hoffnung den Berg hinan. Er klopfte, klopfte lauter – nichts rührte sich. Traurig und enttäuscht setzte er sich neben das Tor. Er konnte nicht mehr. Da rief die Stimme eines Kindes: “Komm, hilf mir”, rief es aus einem Sandberg, “ich will hier einen Tunnel bauen, aber alles bricht wieder zusammen.” Er freute sich über die Zuneigung des Kindes, das ihn, den alten Mann, rief, und selbstvergessen begann er mit dem Kind zu spielen. Er vergaß all seine Anstrengung und Verbissenheit, das Richtige zu tun … bis das Kind rief: “Schau mal, wie schön!” Er schaute in den feurig roten Sonnenball, der am Horizont ins Meer sank und dachte: “Ja, Gott, deine Welt ist so schön.” Und er spürte, wie sein Herz ganz weit wurde voller Dankbarkeit. Da knarrte die Himmelstür in den Angeln und öffnete sich, und der Mönch wusste, dass er jetzt eintreten durfte. (Nach einer Geschichte von Franz-Josef Ortkemper)

Sich geliebt wissen

Für Paulus hat das Gesetz seine Bedeutung durch Christus verloren. Er muss nicht mehr dessen Bedingungen erfüllen, um erfüllt zu sein. Denn das, was ihn erfüllt ist das Wissen darum, geliebt zu sein. Das ist Balsam für seine Seele. Nicht mehr das geschriebene Wort verlangt ihm alles ab, sondern eine neu gewonnene Beziehung schenkt ihm alles. Das lässt atmen, das gibt Freiheit, das schenkt Zukunft. Sich geliebt zu wissen, ist das Tollste auf Erden, ist im wahrsten Sinne des Wortes der Himmel auf Erden.

Was würde es für Frau Meyer bedeuten, wenn sie angesichts ihres fortschreitenden Alters spüren würde, dass sie geliebt ist? Würde das Gesetz der Schönheit nicht seine Bedeutung verlieren?! Was hieße es für Herrn Müller, wenn seine Leistungsfähigkeit nachlässt, dass er sich geliebt fühlt? Würde das Gesetz der Zielstrebigkeit nicht unbedeutend werden?! Weder durch Schönheit noch durch Fleiß, weder durch Doping noch durch “strenger fasten, intensiver beten oder länger schweigen” kann man sich Liebe erwerben – weder in dieser Welt noch der himmlischen. Man muss statt dessen allzeit bereit sein, sich Liebe schenken zu lassen. Dafür ist manchmal los zu lassen von dem, was wir krampfhaft festhalten. Los lassen von den Gesetzen, denen wir uns sklavisch unterwerfen. Los lassen von Ansichten, denen wir unreflektiert zustimmen. Los lassen von Forderungen, mit denen wir uns selbst überfordern.

Schauen wir uns um, sehen wir mit wachen Augen, wo uns Liebe begegnet. Wir werden staunen, dass dies öfter geschieht, als wir auf Anhieb begreifen. Wo entdecken wir das Kind, das uns – in aller Geschäftigkeit und Hektik – ruft: “Komm, hilf mir …!” … und wir selbstvergessen – frei von allen fordernden Gesetzen – unsere Zufriedenheit erspüren!

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