Ansehen
Jeder Mensch hat Gesicht und Name
Predigttext: Apostelgeschichte 3,1-10 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
1 Petrus aber und Johannes gingen hinauf in den Tempel um die neunte Stunde, zur Gebetszeit. 2 Und es wurde ein Mann herbeigetragen, lahm von Mutterleibe; den setzte man täglich vor die Tür des Tempels, die da heißt die Schöne, damit er um Almosen bettelte bei denen, die in den Tempel gingen. 3 Als er nun Petrus und Johannes sah, wie sie in den Tempel hineingehen wollten, bat er um ein Almosen. 4 Petrus aber blickte ihn an mit Johannes und sprach: Sieh uns an! 5 Und er sah sie an und wartete darauf, dass er etwas von ihnen empfinge. 6 Petrus aber sprach: Silber und Gold habe ich nicht; was ich aber habe, das gebe ich dir: Im Namen Jesu Christi von Nazareth steh auf und geh umher! 7 Und er ergriff ihn bei der rechten Hand und richtete ihn auf. Sogleich wurden seine Füße und Knöchel fest, 8 er sprang auf, konnte gehen und stehen und ging mit ihnen in den Tempel, lief und sprang umher und lobte Gott. 9 Und es sah ihn alles Volk umhergehen und Gott loben. 10 Sie erkannten ihn auch, dass er es war, der vor der Schönen Tür des Tempels gesessen und um Almosen gebettelt hatte; und Verwunderung und Entsetzen erfüllte sie über das, was ihm widerfahren war.Liebe Gemeinde!
Wann haben Sie zuletzt einen Bettler aufmerksam und freundlich angesehen, so angesehen, dass er es auch wagte, Sie anzuschauen?
Wirkliches Helfen fangt damit an, dass man einen Menschen sieht
Nach dem Bericht der Apostelgeschichte schauten Petrus und Johannes einen Bettler an und konnten ihm ganz überraschend helfen. Das erzählt die Bibel so: Der Bettler war von Geburt an gelähmt. Weil es damals keine staatliche Fürsorge gab, bettelte er wohl schon vierzig Jahre lang am Tempel, sozusagen vor der Kirchentür. Ich stelle mir vor, dass er wegen seines Leidens sehr einsam war, dass jede lebendige Hoffnung auf Heilung in ihm erstorben war und dass er nur noch Geld für den Lebensunterhalt erwartete.
Da geschieht es, dass Petrus und Johannes zur gewohnten Gebetszeit („um die neunte Stunde“, d.h. um 15 Uhr) zum Tempel in Jerusalem gehen. Als sie von dem Gelähmten angebettelt werden, gehen sie nicht achtlos vorüber, sondern blicken ihn aufmerksam an. Weil sie es wagen, sich in die Gedanken und Gefühle des Gelähmten hineinzuversetzen, wird ihnen klar, dass er zwar Geld erwartet, aber etwas anderes braucht. So sagen sie: “Sieh uns an!”
Das finde ich wichtig, liebe Gemeinde. Wirkliches Helfen fängt nämlich immer damit an, dass man einen Menschen sieht, ihm in die Augen blickt und ihn ansieht, auch mit dem Herzen ansieht! Denn wer Hilfe braucht, wer im Dunkeln ist, wird gewöhnlich nicht als Gegenüber angesehen. Außenseiter der Gesellschaft sagen manchmal, dass sie kaum von anderen mal so angesehen werden, dass sie einen Blickkontakt aufnehmen können; vielmehr werden sie oft von anderen nur mit den Augen verfolgt und beobachtet, beargwöhnt und bewacht. Sie leiden darunter, dass man ihren Blicken ausweicht und ihnen ebensowenig wie gefährlichen Raubtieren in die Augen sieht. Behinderte sagen oft, dass sie am Rande des Blickfeldes anderer Menschen stehen – wie es allen ergeht, die niemand liebhat. Aber nicht nur Zeitgenossen, die am Rande stehen, sondern auch die aus der Mitte klagen heute, dass sich die Mitmenschen nur noch wie im kalten Nebel begegnen und oft eine einsame Masse bilden. Zu wem kann man heute eigentlich gehen, wenn man sich isoliert und einsam fühlt? Zu wem kann man sagen: Sieh mich an mit meinem Kummer und meiner Enttäuschung und meinem geheimen Leid? Deshalb sollte sich jeder Mensch fragen: Wann habe ich eigentlich zuletzt einem anderen Menschen wirklich ruhig, teilnehmend und aufmerksam in die Augen gesehen und mich dabei auch seinem geheimen Leid, auch seinen dunklen Seiten und seiner Enttäuschung oder seiner Wut ausgesetzt? Zu oft weichen wir einfach dem Blick des anderen Menschen aus, weil es anstrengend und gefährlich erscheint!
Geben, was wir wirklich geben können
Petrus und Johannes aber sehen den Gelähmten an, beachten ihn, nehmen eine innere Beziehung auf. Das haben sie so bei Jesus gelernt. Für ihn hatte jeder Mensch Gesicht und Namen. Jesus sah die Menschen mit den Augen Gottes an und hat erst auf die oft äußerlich und innerlich entstellte, verzerrte oder kranke Erscheinung des Einzelnen gesehen, und dann darauf, was Gott mit ihm eigentlich vorgehabt hatte und weiter vorhat. Daran hat sich Jesus orientiert, dass jeder Mensch, wenn auch Sünder/Sünderin, trotzdem ein Ebenbild Gottes, ein besonderer Entwurf Gottes und ein Kind Gottes ist, um das sich Gott Sorgen macht, und das er nicht aus seiner Liebe entlässt.
Das haben die Apostel im Blick gehabt und den Bettler angesehen und ihn aufgefordert, auch sie anzusehen. Die Apostel können etwas anderes geben als Geld, deswegen sagt Petrus: “Gold und Silber habe ich nicht! Was ich aber habe, gebe ich dir!” Ich finde diesen Teil ihrer Antwort sehr bedenkenswert. Petrus und Johannes scheuen sich nicht, öffentlich zuzugeben, dass sie materiell nicht helfen können. Sie stehen zur Armut ihrer eigenen Mittel und geben das, was sie wirklich geben können. Als Kirche erwecken wir heute aber leicht den Eindruck, als könnten wir gerade materiell sehr viel helfen. Ein einzelner arbeitsloser Familienvater, der verschuldet ist und der in seiner Gemeinde anklopft, macht schnell deutlich, wie bescheiden unsere rein materiellen Möglichkeiten sind. Bei diesem Problem ist tatsächlich die Solidarität unserer ganzen Gesellschaft gefordert!
Ich kenne es aber auch, dass einzelne Christen beim Helfen ihre Gesundheit, ihre Kräfte und ihren Geldbeutel überfordern und plötzlich selbst Hilfe gebrauchen. Die Apostel jedenfalls lehnen unrealistische Erwartungen ab, aber geben „im Namen Jesu“, was sie können. Weil die Apostel ihr ganzes Leben in seinem Namen führen, ist etwas von Jesu Kraft auf sie übergegangen; sie können im Namen Jesu den Gelähmten und andere heilen, weil sie Jesus nachfolgen. Das will die Apostelgeschichte zeigen und hat dabei die Überzeugung, dass Christen auch in Zukunft heilmachen und versöhnen können.
(Vor-)Zeichen – Einander helfen durch liebevolle Zuwendung
Auf dem Hintergrund der allgemeinen christlichen Erfahrung: “Wir müssen durch viele Trübsale ins Reich Gottes gehen”, was auch in der Apostelgeschichte steht, wird es immer wieder einzelne Heilungen geben. Es sind einzelne, wirksame Zeichen, Vorzeichen für die „Schlussveranstaltung der Weltgeschichte“ wenn “Gott alle Tränen trocknen wird und Leid und Geschrei und Schmerz nicht mehr sein wird”. Bis dahin kann man über die Heilungswunder ins Grübeln kommen: Ist so etwas denn medizinisch möglich? Ein Gelähmter, der wieder gehen kann? Nicht jeder Mensch, der die Bibel liest und betet oder am Gottesdienst teilnimmt, wird gleich spürbar von seinem Leiden befreit. Gleichzeitig ist es aber doch heute keine Frage mehr, dass Zuwendung, persönlicher Kontakt, Glaube und Hoffnung gute Veränderungen, auch in Krankheiten, bewirken können.
Auch die moderne Medizin und Psychologie haben erkannt, wie stark Seele und Körper, Glaube und Leib zusammenhängen. Immer deutlicher wird, dass wir allein aus seelischen Ursachen körperlich krank werden können und andererseits, dass seelische Kräfte die Heilung unglaublich fördern können. Ärzte und Medikamente sind sicher als Lebensretter oder Lebensförderer sehr wichtig; aber wer kennt nicht Menschen, denen Liebe und Glaube mehr geholfen haben als alle Medizin! Ich kenne Menschen, die dadurch frei wurden von Depressionen und Alkoholkrankheit, Süchten, Zwängen und Ängsten. Gute Worte, ein kritischer Freund, eine kritische Freundin oder eine freundliche Gruppe, ein intensiv herzlicher Blick, ein offenes Ohr, in einem Wort: Nächstenliebe, sie kann soviel heilmachen! Wie solche Wunder möglich sind, möchte ich mit einer meiner Lieblingsgeschichten verdeutlichen:
Ein Schriftsteller ging jeden Tag um die Mittagszeit mit einer Begleiterin in der Stadt spazieren. Jedes Mal kamen sie am Marktplatz vorbei. Dort saß gewöhnlich eine Bettlerin und hielt mit leblosem Gesicht die Hand auf. Die Begleiterin des Dichters pflegte ihr jeden Tag eine Münze zu geben. Hastig steckte die Bettlerin jedes Mal das Geldstück in ihre Tasche und murmelte mit ungerührtem Gesichtsausdruck etwas Unverständliches. “Warum geben Sie eigentlich nie etwas?“, fragte nach einiger Zeit die Begleiterin den Schriftsteller. „Sie braucht etwas anderes”, war seine Antwort. Am nächsten Tag besorgte er sich die schönste Rose, die er in der Stadt fand und überreichte sie der Bettlerin. Sie lächelte, legte sich die Rose in den Arm und verschwand. Eine ganze Woche lang war sie nicht zu sehen. Dann saß sie wieder mit leblosem Gesicht an ihrem alten Platz und bettelte. „Wovon hat sie denn die ganze Woche gelebt?”, fragte die Begleiterin den Dichter, und er antwortete: „Von der Rose.”
Kirche als gemeinsamer Freiraum, von dem heilende Kräfte ausgehen
Diese Geschichte und die von der Heilung des Gelähmten sollen uns darauf aufmerksam machen, dass von einer Kirchengemeinde, auch von der unsrigen, heilende Kräfte ausgehen sollen und können. Es darf uns nicht so gehen wie einem Papst vor Jahrhunderten in Mittelalter. Dieser zeigte die großen Kirchen und Paläste und die Kirchenschätze und erklärte dann stolz: „Ich kann nicht wie Petrus sage: >>Gold und Silber habe ich nicht<<. Worauf ein Besucher bemerkte: „Sie können auch nicht mehr wie Petrus im Namen Jesu heilen!”
Wenn heute in unserer Kirche in finanzieller Hinsicht überall massiv gespart werden muss, besteht aber die Chance zu erkennen, wo unsere wirklichen Möglichkeiten liegen zu helfen und zu heilen. Wir sollten uns darauf besinnen, was wir im Namen Jesu geben können: Kirche ist doch ein Freiraum, in dem Gottes Wunder bestaunt und verehrt werden und in dem heilende Kräfte von Gott her eine Chance haben. Das heißt ein Raum, in dein man sich in die Augen sieht und wahrnimmt; in dem man „im Namen Jesu“ die Menschen und die Welt ansieht und versucht zu erspüren, was Gott mit uns allen noch Gute vorhat; eine Gemeinschaft, in der man keine Masken tragen muss und sich aussprechen kann; in der man sich fair streiten und großzügig versöhnen kann. Mit einem Satz gesagt: Kirche sollte ein gemeinsamer Raum sein, in dem wir weitergeben, was wir von Jesus an heilenden Kräften geschenkt bekommen haben. Eine Rose verschenken könnte ein Anfang sein oder jemanden wirklich herzlich ansehen.
Amen.