Gottes Heilswille umfasst alle Menschen
Sich anstecken lassen von dem Feuer des Glaubens, den wir auch mit unseren älteren jüdischen Geschwistern teilen
Predigttext: Jesaja 49,1-6 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
1 Hört mir zu, ihr Inseln, und ihr Völker in der Ferne, merket auf! Der HERR hat mich berufen von Mutterleibe an; er hat meines Namens gedacht, als ich noch im Schoß der Mutter war. 2 Er hat meinen Mund wie ein scharfes Schwert gemacht, mit dem Schatten seiner Hand hat er mich bedeckt. Er hat mich zum spitzen Pfeil gemacht und mich in seinem Köcher verwahrt. 3 Und er sprach zu mir: Du bist mein Knecht, Israel, durch den ich mich verherrlichen will . 4 Ich aber dachte,ich arbeitete vergeblich und verzehrte meine Kraft umsonst und unnütz, wiewohl mein Recht bei dem HERRN und mein Lohn bei meinem Gott ist. 5 Und nun spricht der HERR, der mich von Mutterleib an zu seinem Knecht bereitet hat, daß ich Jakob zu ihm zurückbringen soll und Israel zu ihm gesammelt werde, - darum bin ich vor dem HERRN wertgeachtet, und mein Gott ist meine Stärke -, 6 er spricht: Es ist zu wenig, daß du mein Knecht bist, die Stämme Jakobs aufzurichten und die Zerstreuten Israels wiederzubringen, sondern ich habe dich auch zum Licht der Heiden gemacht, daß du seist mein Heil bis an die Enden der Erde.Exegetische und homiletische Vorbemerkungen
Jes 49 als Teil des unter dem Begriff Deuterojesaja zusammengefassten Textkomplexes Jes 40-55 gehört in den Kontext der im babylonischen Exil entstandenen Literatur. Mit der mit Nachdruck versehenen Anrede „Hört mir zu“ verdeutlicht der Text die Wichtigkeit des Dargebotenen. Mit seiner universalen Perspektive weitet er das prophetische Selbstverständnis ungeheuer aus, indem hier vom „Licht der Heiden“ die Rede ist, das reichen soll „bis an die Enden der Erde“. Gerade durch diese Aufweitung hin zu den „Völkern in der Ferne“ kommen wir selbst in diesen Text hinein, der uns Mut machen will, das Licht Gottes weiterzutragen.Liebe Gemeinde,
wann hat das letzte Mal jemand zu ihnen gesagt: „Hör mir zu!“? „Hör mir zu, ich will dir etwas sagen.“ „Hör mir zu“ – das kann einen verschiedenen Klang in unseren Ohren annehmen. Dieser Satz kann mahnend und ärgerlich daherkommen: „Jetzt hört mir doch endlich mal zu!“, sagt vielleicht eine Lehrerin zu ihren schwätzenden Schülern oder eine Mutter zu ihren unruhigen und abgelenkten Kindern. Dieser Satz kann auch bittend daherkommen: „Bitte, schenk mir dein Gehör. Ich habe etwas Wichtiges auf dem Herzen. Ich möchte dir etwas sagen“. Das sagt vielleicht ein Mann zu seiner Frau oder jemand zu einem guten Freund/einer guten Freundin. Es ist die Bitte um Aufmerksamkeit, um Wahrgenommenwerden, um Gehör.
Nicht gehört werden, zu erleben, dass das, was wir sagen wollen, untergeht, das ist eine bittere Erfahrung. Das kränkt uns, das macht uns traurig oder manchmal auch aggressiv. Keinen zu haben, der uns zuhört, lässt einen Mensch als Mensch seine Einsamkeit und seine Bedrücktheit doppelt spüren. „Hör mir zu!“, das signalisiert von vornherein und ganz deutlich: Ich brauche deine Aufmerksamkeit. Das, was ich dir jetzt sagen will, ist mir wichtig. Mir liegt etwas daran, dass du wirklich zuhörst, was ich dir jetzt mitteilen will.
Das Licht Gottes für Israel in dunkler Exilszeit
Mehr als 30mal werden im Jesajabuch, aus dem unser heutiger Predigtext stammt, Passagen eingeleitet, genau mit diesem Aufruf: „Hör mir zu!“ oder „Hört mir zu!“ Und was danach kommt, ist dem, der es sagt, wichtig, sehr wichtig sogar. Schon der zweite Satz im Prophetenbuch stimmt uns auf die Situation, um die es geht, ein: „Höret, ihr Himmel, und Erde, nimm zu Ohren, denn der Herr redet! Ich habe Kinder großgezogen und hochgebracht, und sie sind von mir abgefallen!“ (Jesaja 1,2).
Israel ist im Exil, in der babylonischen Gefangenschaft. Von den Babyloniern weit weggeführt ins heutige Persien, mehrere Tausend Kilometer weit. Israel ist in der Zerstreuung, fern der Heimat, ungewiss ist seine Rückkehr aus diesem fremden Land. Viele der Oberen und auch viele aus dem Volk sind von Gott abgefallen: sie haben begonnen, Götzen anzubeten statt den lebendigen Gott Israels.
Der Prophet will sie wachrütteln in dieser Situation. Aufwecken will er sie; zum Zuhören bringen. Er will sie zurückbringen zu Gott, zum lebendigen Glauben an den Gott Israels, den Gott der Väter und Mütter. Und diese Rückkehr im Glauben soll die Rückkehr in die Heimat, das angestammte Land, nach sich ziehen. So wie der Prophet Unheil angesagt hatte als Strafe für den Abfall, so verkündet er auch wieder Heil, die zukünftige Rückkehr nach Zion: „Die Erlösten des Herrn werden wiederkommen und nach Zion kommen mit Jauchzen; ewige Freude wird über ihrem Haupte sein; Freude und Wonne werden sie ergreifen, und Schmerz und Seufzen wird entfliehen“ (Jesaja 35,10). Diese Heilszusage verdient den allergrößten Nachdruck. So eindrücklich dem Volk Israel sein Versagen und sein Abfall von Gott vorgehalten wird, so eindrücklich wird ihm jetzt auch wieder Gottes Heilswillen verkündigt: „Es ist zuwenig, dass du mein Knecht bist, die Stämme Jakobs aufzurichten und die Zerstreuten Israels wiederzubringen, sondern ich habe dich auch zum Licht der Heiden gemacht, dass du seist mein Heil bis an die Enden der Erde“.
Kaum dass sich das Volk diese unverhoffte Wende aus der Trübsal des Exils vorstellen konnte, wird ihm klar gemacht, dass der Heilswillen Gottes sogar noch viel größer ist: Er reicht bis an die Enden der Erde, er umfasst alle Menschen, die ganze Welt. Gott will seiner Welt Licht bringen, Licht für die, die im Dunkeln sitzen: „Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht, und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell“ (Jesaja 9,1).
Das Licht des Glaubens in unserem Leben und für die Außenstehenden
Licht wird zugesagt im Jesajabuch, das Heil Gottes, das Räume und Zeiten hinter sich lässt. Das heißt doch: Auch wir sind gemeint! Gottes Heilswillen ist universal – sowohl räumlich wie zeitlich. Er umfasst Völker und Menschen, die weit voneinander entfernt leben. Darum heißt es zum Beginn unseres Predigttextes: „Hört mir zu, ihr Inseln, und ihr Völker in der Ferne, merket auf!“ Dieser Aufruf zum Hören durchschreitet Räume und Zeiten und klingt bis herüber zu uns. Gott will auch uns sein Licht geben. Er will in unsere Dunkelheiten hineinsprechen, unsere finsteren Stellen erleuchten. Er will uns Anteil geben an seinem Heil, das so viel größer ist, als wir engherzigen Menschen uns das vorstellen können. Wir sollen uns von seiner hellen Wahrheit erleuchten lassen.
Uns soll ein Licht aufgehen, in dessen Schein wir unser Leben deutlicher und klarer sehen: Wo sind auch wir in der Zerstreuung, innerlich nicht bei uns selber, sondern zerstreut in unseren Gedanken und in unserem Herzen. Wo sind wir hin- und hergerissen zwischen verschiedenen Absichten und Wünschen, zwischen den verschiedenen Stimmen unserer Zeit, die uns unsicher machen? Wo sitzen wir zwischen den Stühlen, wissen nicht, wie wir den Aufbruch wagen können, den neuen Anlauf, der uns wieder zurückbringt in einen heilen Zustand? Wie oft sind wir auch geistlich heimatlos, innerlich weggeführt, nicht im Reinen mit uns selber und nicht im Reinen mit Gott – gleichsam im Exil mit unserer Hoffnung und unserem Glauben? Gott will uns zurückbringen zu uns selber und zu sich. Was in unserem Leben auseinanderfällt, zerrissen ist, ort- und heimatlos ist, will er wieder sammeln und zurückbringen in einen guten, heilen Zustand. Gott schätzt uns, er achtet uns seiner Liebe wert. Wir sind seiner Güte würdig, weil er uns mit den gnädigen Augen seiner Liebe und Barmherzigkeit anschaut. Und er will uns wieder aufrichten, uns Stärke geben und inneren Halt: „Und nun spricht der Herr, der mich von Mutterleib an zu seinem Knecht bereitet hat, dass ich Jakob zu ihm zurückbringen soll und Israel zu ihm gesammelt werde, – darum bin ich von dem Herrn wertgeachtet und mein Gott ist meine Stärke“.
Gefahr der Resignation und Mutlosigkeit und Einladung, das Licht Gottes trotzdem weiterzugeben
Wir haben im Glauben an Gottes Heilswillen für die Welt einen großen Schatz, den wir mit anderen Menschen teilen können, über Räume und Zeiten hinweg. Wir haben in diesem Glauben, den wir auch teilen mit unseren älteren jüdischen Geschwistern ein Licht, das strahlt, eine Fackel, die ansteckt, ein Feuer, das weithin sichtbar ist, eine Hoffnung, die wärmt. – Und doch sind wir oft kleingläubig und mutlos, werden enttäuscht, sind ernüchtert von dem, was uns von außen begegnet. Wir vermissen vielleicht das positive Echo auf unsere Bemühungen, auch anderen etwas von unserem Glauben zu erzählen, ihn mitzuteilen. Wir denken, wir arbeiteten vergeblich, verzehrten unsere Kraft umsonst und unnütz. Auch als engagierte Christen, auch als Menschen, die sich christlich gebunden fühlen, sich vielleicht sogar kirchlich engagieren, können wir von diesem Gefühl der Mutlosigkeit und Resignation ergriffen werden. Gerade dann sollen wir uns nicht zurückziehen. Gerade dann brauchen wir den Zuruf Gottes: „Hört mir zu!“ Gerade dann, wenn Gegenwind kommt und Zurückweisung, gerade dann braucht es den Mund, der scharf ist wie ein Schwert und die Sache mit dem Glauben auf den Punkt bringen kann. Gerade dann braucht es das geschliffene Wort, das spitz ist wie ein Pfeil und Menschen trifft mit seiner Zeitansage und sie aufrüttelt. So wie es der Predigttext sagt: „Er hat meinen Mund wie ein scharfes Schwert gemacht, mit dem Schatten seiner Hand hat er mich bedeckt. Er hat mich zum spitzen Pfeil gemacht und mich in seinem Köcher verwahrt“.
Die Botschaft von Gottes Heilswillen braucht zu allen Zeiten prophetische Stimmen, die ihr Gehör verschaffen. Sie braucht Menschen, die sie weitersagen und weitertragen. Sie braucht Menschen, die sich anstecken lassen von diesem Feuer des Glaubens, dem „Licht für die Heiden“. Menschen, die dieses Licht Gottes weitergeben und weitertragen, auch zu denen, die vermeintlich draußen stehen, erst begeistert werden müssen und informiert werden müssen über die Sache mit Gott, die Sache mit dem Glauben. Der Knecht Gottes, von dem wir in diesem sogenannten Gottesknechtslied bei Jesaja hören, ist vermutlich keine Einzelperson gewesen, sondern meint ein Kollektiv. Das Lied meint alle, die sich für Gottes Sache einsetzen; es meint das Israel des Glaubens, aufgerichtet durch Gottes Wort und zu einem Licht gemacht, das auch „Licht der Heiden“ ist, das die Distanzierten und Außenstehenden erleuchtet und ausstrahlt bis an die Enden der Erde.
Der Weg des Lichts
Dieses Licht, das Gott in die Welt gegeben hat, setzt seinen Weg fort, durch Zeiten hindurch und über Räume hinweg. Von Jesaja und der Nacht des Exils leuchtet es herüber zu uns, in die Dunkelheiten unserer Zeit und unseres Lebens. Es leuchtet und es will die Nacht über der Welt und auch die Nachtgedanken in unserem Leben vertreiben. So wie es ein Liedvers aus unserem Gesangbuch sagt:
„Licht, das in die Welt gekommen, Sonne voller Glanz und Pracht,
Morgenstern aus Gott entglommen,
treib hinweg die alte Nacht;
zieh in deinen Wunderschein
bald die ganze Welt hinein.“ (EG 554,1)
Stimmen wir mit ein in diese Bitten. Lassen auch wir uns von diesem Licht Gottes erleuchten und seinen Glanz hineinstrahlen in unseren manchmal grauen und dunklen Alltag. Lassen wir uns in seine wunderbare Liebe hineinziehen und von ihr erwärmen. Lassen wir uns von Gott aufrütteln und anreden, wenn er uns zuruft: „Hört mir zu!“
Amen.