Gefühlte Zeit
Das menschliche Zeitempfinden misst anders als eine physikalische Uhr
Predigttext: 1.Korinther 7,29-31 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
Das sage ich aber, liebe Brüder: Die Zeit ist kurz. Fortan sollen auch die, die Frauen haben, sein, als hätten sie keine; und die weinen, als weinten sie nicht; und die sich freuen, als freuten sie sich nicht; und die kaufen, als behielten sie es nicht; und die diese Welt gebrauchen, als brauchten sie sie nicht. Denn das Wesen dieser Welt vergeht.Vorüberlegungen
Täuscht sich Paulus, wenn er schreibt, die Zeit bis zur Parusie sei kurz? Paulus hat sich geirrt, wenn man den klassischen Zeitbegriff der Physik zugrundelegt. Doch wir leben heute nicht mehr in der Welt von Newton. In der modernen Physik ist es mit der Zeit nicht mehr ganz so einfach. Einstein hat mit seinem berühmten Satz „Zeit ist relativ“ ein neues Zeitverständnis postuliert. Er meint damit, dass die Zeit abhängig ist vom Ort. Zeit vergeht demnach nicht immer gleich schnell. Freilich ist die Aussage des Paulus weniger eine naturwissenschaftliche Zeitaussage als eine emotionale Aussage über sein Zeitempfinden. Paulus empfindet die Zeit bis zur Parusie als „zusammengedrängte Zeit“, wie es im Urtext wörtlich heißt (1 Kor 7,29). Das menschliche Zeitempfinden ist stark emotional geprägt. Je nach „Qualität“ der Zeit und Stimmungslage erfährt der Mensch den Zeitfluß unterschiedlich - bedrängend schnell oder auch unendlich langsam (Erlemann). Gerade die Endzeitaussagen der Bibel müssen vor allem als emotionale Zeitaussagen verstanden werden. Indem Paulus die Zeit als „zusammengedrängt“ empfindet, drückt er seine Sehnsucht nach der Parusie aus.Literatur:
Kurt Erlemann, Endzeiterwartungen im frühen Christentum, UTB 1937, Tübingen 1996.Liebe Schwestern und Brüder!
Die gefühlte Zeit ist kurz
Hat sich der Apostel Paulus geirrt? Die Zeit ist kurz, so schreibt er an die Gemeinde in Korinth. Er dachte dabei an die Wiederkunft Jesu. Jesus würde bald wiederkommen, um das Wesen dieser Welt neu zu machen. Bald? Seit Paulus sind knapp 2000 Jahre vergangen, aber Jesus ist nicht wiedergekommen. Zumindest bisher nicht. Hat sich also Paulus getäuscht?
Ich denke: Ja und nein. Das muß ich Ihnen freilich näher erläutern.
Ja. Paulus hat sich geirrt, wenn man den klassischen Zeitbegriff der Physik zugrundelegt. Wenn man die Stoppuhr betrachtet, hat er sich getäuscht. 2000 Jahre sind keine „kurze Zeit“.
Ja und Nein. Wenn Paulus von „kurz“ spricht, dann sagt er weniger etwas über den Zeiger einer Stoppuhr. Vielmehr macht er eine Aussage über seine gefühlte Zeit. Nun wenden Sie sich vielleicht ein: Was soll denn gefühlte Zeit sein? Dazu möchte ich ein kleines Spiel mit Ihnen machen. Ein Zeit-Fühl-Spiel. Fühlen Sie einmal eine Minute! Das Spiel geht so: Stehen Sie auf, und sind Sie eine Minute ganz still! Schauen Sie nicht auf die Uhr! Hören Sie in sich hinein und fühlen Sie die Zeit! Wenn Sie das Gefühl haben, 60 Sekunden sind vergangen, dann setzen Sie sich still hin. Wer am nächsten an einer Minute heran kommt, hat gewonnen. Ich gebe Ihnen ein Zeichen, wenn es losgeht. – Ab jetzt… (Zeit-Fühl-Spiel. Prediger beobachtet die Uhr und den Zeitpunkt, wann sich jemand hinsetzt. Anschließend Auswertung: Wann hat sich der erste hingesetzt? Wann der letzte? Wer ist am nächsten an einer Minute dran? Wie ging es Ihnen mit dem Zeit-Fühl-Spiel? Eine Minute ist kurz. Wie kam sie Ihnen vor? Kurz? Oder lang?)
Es war augenfällig: Die gefühlte Minute ist unterschiedlich. Sie haben sich nicht alle zusammen hingesetzt, als nach der Stoppuhr eine Minute vergangen war. Im Gegenteil, sie waren sehr unterschiedlicher Meinung. Die Zeit wurde verschiedenartig gefühlt. Vielleicht haben Sie im Stillen gezählt. Wenn sie möchten, können Sie das Experiment zu Hause eine Stufe schwerer wiederholen: Fühlen Sie einmal eine Stunde! Ohne zu zählen. Ohne zu denken. Eine Stunde ist eigentlich kurz. Ich vermute, diese stille Stunde wird Ihnen sehr lang vorkommen. Was ich mit dem Spiel deutlich machen will: Die Zeit der Stoppuhr ist nicht unsere gefühlte Zeit. Das menschliche Zeitempfinden misst anders als eine physikalische Uhr.
Unser Zeitempfinden ist stark von Gefühlen geprägt. Je nach Stimmungslage erfahren wir den Zeitfluß unterschiedlich. Eine kurze Zeitspanne kann uns sehr lang vorkommen. Eine Stunde Predigt empfinden nicht nur die Konfis als unerträglich lang. Oder im Wartezimmer des Zahnarztes scheint die Zeit unendlich langsam zu vergehen. Und umgekehrt: Die Zeit verfliegt atemberaubend schnell. Ein spannender Spielabend vergeht wie im Flug. Oder: Je mehr ein Mensch eingebunden ist in Aufgaben, Arbeit und Verantwortung, desto schneller vergeht scheinbar die Zeit. Je älter er wird, desto mehr scheint ihm die Zeit in den Händen zu zerrinnen. Diese Woche hat eine ältere Frau zu mir gesagt: „Die Zeit vergeht immer schneller!“ Man kann bei einem solchen Satz ganz unterschiedliche Gefühle haben: Trauer über das, was sich nicht festhalten läßt. Oder eher Angst über das, was kommen mag…
Was hat das Ganze mit Paulus zu tun? Luther übersetzt den Anfang des Predigttextes mit: „die Zeit ist kurz“. Übersetzt man indes wörtlich aus dem Griechischen, dann heißt es: „Die Zeit ist zusammengedrängt“. Paulus macht eine Aussage über sein Zeitempfinden. Die Zeit erscheint ihm zusammengedrängt. Diese Welt ist mit ihren Strukturen und Spielregeln im Vergehen begriffen.
Die Zeit ist zusammengedrängt. Es kommt mir ein Gummiband in den Sinn. Die Zeit ist wie ein Gummiband, das man ausdehnen oder zusammendrängen kann.
Die Zeit ist zusammengedrängt. Paulus erlebt die Zeit als äußerst intensive Phase. Sie läuft schnell auf das Ende zu. Qualitativ gesehen, ist es für ihn eine Zeit mit besonderem Stellenwert. Entscheidendes ereignet sich!
Die Zeit ist zusammengedrängt. Ich spüre Ungeduld bei Paulus. Flammende Sehnsucht. Verlangen nach Veränderung. Da sehnt sich einer danach, dass Jesus wiederkommt und alles neu macht.
Die Zeit ist zusammengedrängt. Da kann man doch nicht so weiter leben wie bisher! Korinther, seid klug und nutzt die Restzeit!
Paulus macht im Predigttext eine Aussage über sein Zeitgefühl, über seine Emotionen: „Jesus kommt. Die Zeit bis er kommt, erscheint mir kurz und zusammengedrängt“. Und wir heute? Können wir überhaupt noch etwas mit diesem emotionalen Predigttext anfangen? Für mich ist das die bleibende Botschaft des Predigttextes: „Jesus kommt. Er kommt, um der Welt ein neues Wesen zu bringen“. Ob die Zeit kurz oder lang ist, bis Jesus kommt, mag man unterschiedlich empfinden. Mag sein, dass Jesus nicht mehr zu meinen Lebzeiten wiederkommt, aber ändert dies viel? Meine Lebenszeit ist begrenzt. Die Restzeit, die mir zu leben bleibt, ist beschränkt. Vielleicht sogar zusammengedrängt. Es liegt an mir, diese Restzeit positiv zu nutzen.
Haben, als hätte man schon nicht mehr
Liebe Gemeinde, jetzt fragen Sie sich vielleicht: Wie nutzt man die Restzeit positiv? Indem man im Bewußtsein lebt, dass diese Welt und ihre Strukturen und Spielregeln vergehen werden. Man soll haben, als hätte man schon nicht mehr, meint Paulus. An zwei Beispielen möchte ich dies erklären.
Paulus schreibt: Wer kauft, soll sich so verhalten, als behielte er das Gekaufte nicht. Anders gesagt: Man soll nichts als sein Eigentum ansehen. Ein neutestamentliches Grundproblem ist damit angesprochen: Die Evangelien meinen, alles Hab und Gut ist nur eine Leihgabe Gottes. Güter sind Gabe des Schöpfergottes. Wir dürfen sie gebrauchen, aber sie gehört uns letztlich nicht. Eines Tages wird Gott sie zurückfordern und Rechenschaft verlangen. Güter sind Gebrauchsgegenstände. Wenn man sie aber als sein uneingeschränktes Eigentum ansieht, ist man innerlich anfällig. Leicht verfällt man dem Schätzesammeln. Man häuft Kapital und Güter an. Sammeln um des Sammelns willen ist aber Suchtverhalten. Jesus warnt davor in der Bergpredigt: „Wo euer Schatz ist, da ist euer Herz“ (Mt 6,21).
Anhäufung von Gütern gaukelt bleibende Sicherheit vor. Verfällt ein Mensch der Sucht des Schätzesammelns, so meint er, sich durch Geld Lebenssicherheit zu erkaufen. Das ist jedoch eine Illusion! In Wirklichkeit können Geld und Güter das Leben nicht um eine Minute verlängern. Man soll daher sein Herz nicht an vergängliche Schätze hängen, folgert Jesus in der Bergpredigt. Vielmehr soll man sein Herz voll und ganz an Gottes Reich ausrichten (Mt 6,25-32)! Ähnlich Paulus: Die Restzeit ist und bleibt beschränkt. Man soll sich ungeteilt auf das Wesentliche konzentrieren, nämlich den kommenden Jesus. Dazu muß man innere Distanz zu den Gütern bewahren: Haben als hätte man schon nicht mehr! Ein kurzer Blick auf jene, die zuwenig haben: Es sind Millionen in unserem Land. In diesen Tagen wird heftig darüber diskutiert, wie man sie nennen soll. Da ist es gut, dass der EKD-Ratsvorsitzende Wolfgang Huber klarstellt: Wir haben kein Unterschichtproblem. Wir haben ein Armutsproblem in unserem Land!
Haben als hätte man schon nicht mehr. In diesem Gottesdienst haben wir ein Kind getauft. Ich glaube, auch für Sie, liebe Eltern, gilt der Merksatz des Paulus. Ich übersetze ihn so: Sie werden Leo loslassen müssen. Freilassen in sein eigenes Leben. Diese Loslösung begann schon im Augenblick, da er abgestillt wurde. Jetzt ist der Moment gekommen, da er laufen lernt und selbst die Welt erkundet. Später kommt der Kindergarten, die Schule. Vielleicht werden Sie das Gefühl haben, dass die Zeit zerrinnt. Jeder neue Lebensschritt Ihres Kindes ist zugleich ein Abschied, der Ihnen wohl Wehmut bereiten wird. Konfliktreich wird die Ablösung in der Pubertät. Die Konfis können ein Lied davon singen. Aus dem Jungen wird dann ein Mann. Ein Mann, der seine eigenen Wege geht. Dazu braucht er Sie! Er braucht, dass Sie ihm Freiheit lassen. Er braucht, dass Sie ihm Mut machen, zu einem eigenen Leben zu finden. Er braucht, dass Sie ihn Ernst nehmen, ohne von ihm Besitz zu ergreifen. Loslassen und haben, als hätte man schon nicht – das ist eine der Aufgaben als Eltern.
Ich höre die Frage: Woher die Kraft dazu nehmen? Bei der Taufe wurde Gottes Name über Leo ausgesprochen. Er ist damit Gottes Eigentum. Er gehört nicht den Eltern, sondern allein Gott. Gott hat ihn als sein geliebtes Kind angenommen. Ich habe ihn dann gesegnet und ihm eine gute Macht zugesprochen, die ihn auf seinem Lebensweg begleitet soll. Wir haben für ihn gebetet. Das alles ist für Sie, liebe Eltern, eine Entlastung: Sie können den Wegen Ihres Kindes groß und gelassen zusehen. Gott wird Leo begleiten. Sein Segen wird ihn bewahren.
Unsere Zeit in Gottes Hand
Liebe Gemeinde, ich habe heute mit Ihnen über Zeit nachgedacht. Ein herbstliches Thema. Ein Thema voller Gefühle, bei manchen auch voller Trauer und Besorgnis. Folgendes Gebet gibt mir selbst Kraft und Mut in diesen Herbsttagen:
Unsere Zeit
Ein Leben lang
Unsere Zeit
Von Anfang an
Unsere Zeit
Kostbare Zeit
Aus deinen guten Händen, Gott.
Unsere Zeit
Ein Liebesschrei
Unsere Zeit
Im Flug und frei
Unsere Zeit
Erfüllte Zeit
Hältst du in deinen Händen, Gott.
Amen.