Gottgeschenkte Gelassenheit

Es ist dieses Leben hier nie schon alles und das Ganze gewesen, es steht noch etwas aus

Predigttext: 1.Korinther 7,29-31
Kirche / Ort: Darmstadt
Datum: 29.10.2006
Kirchenjahr: 20. Sonntag nach Trinitatis
Autor/in: Professor Dr. Karl Dienst, Pfarrer und OKR i.R.

Predigttext: 1.Korinther 7,29-31 (Übersetzung von Friedrich Lang)

Das sage ich aber, Brüder: Die Zeit ist kurz (zusammengedrängt). Fortan sollen auch die, die Frauen haben, sein, als hätten sie keine; und die weinen, als weinten sie nicht; und die sich freuen, als freuten sie sich nicht; und die kaufen, als behielten sie es nicht; und die die Welt gebrauchen, als (ver-)brauchten sie sie nicht. Denn das Wesen (die Gestalt) dieser Welt vergeht.

Exegetisch-homiletische Vorbemerkungen

1) Wallstreet und Marxismus, Glaube an den Fortschritt durch Wissenschaft (Szientismus) und ökologisch - apokalyptische Ängste: Noch in ihrer verweltlichten Form sind Christlicher Glaube und „Eschatologie“ Zwillinge. Da verkündet zum Beispiel eine jede Ein–Dollar– Note der USA in dem auf ihr abgebildeten „Großen Siegel“ die Heilsgeschichte, wie sie sich in der Neuen Welt enthüllte. Dieses „Große Siegel“ zeigt nämlich eine gemauerte Pyramide, deren Spitze ein strahlendes Dreieck krönt, das ein geöffnetes Auge füllt – ein Bild der allsehenden, allwissenden, alldenkenden Dreifaltigkeit. Die in die Basis der Pyramide eingemeißelte Jahreszahl 1776 bedeutet mehr als das Jahr der Unabhängigkeitserklärung der USA! Gemeint ist damit eine „neue Ordnung der Zeiten“, eine Zeitenwende, welche die Trennung vom Mutterland schuf und die die Banknote jetzt als göttliche Botschaft in die Welt trägt. Mancherlei fließt hier in eins: freimaurerische Emblematik, rosenkreuzerische Sinnbildlichkeit und reformatorisch-calvinistischer Eifer, und verkündet den neuen Glauben: Die „Neue Welt“ scheint zum „Neuen Jerusalem“ bestimmt zu sein, zum Gottesstaat, das Christenvolk dort zum „Neuen Israel“, zum endzeitlich erwählten Gottesvolk (Vgl. Johannes Fried, Aufstieg aus dem Untergang. Apokalyptisches Denken und die Entstehung der modernen Naturwissenschaft im Mittelalter, München 2001,9f.). Eschatologie hat hier Heilsfunktion! 2) Auf der anderen Seite verbindet sich bei uns Eschatologie mit Ängsten und Horrorvisionen. Sie war und ist nicht nur der Nährboden für religiöses Sektierertum. Auch alltagspolitisch verwertbare Objekte sind hier zum Beispiel Kernkraft, Klimawandel, Lebensstil und Erderwärmung. Daß im „grünen“ Horizont auch romantische Frömmigkeit wiederbelebt wird, liegt auf der Hand: „Wer sich mit der grünen Religion anlegt, legt sich mit weit mehr an als nur harmlosen Meinungen oder den Interpretationen von Statistiken. Längst geht es um Lebenswerte, ums Eingemachte, um den Wesenskern der Weltbilder. Das Ozonloch, der Kulturzerfall, die Artenkrise sind also auch Synonyme für ein inneres Gefühl der Unerlöstheit“ (Matthias Horx). Im Unterschied zur „kalten Welt der Moderne“ ist „das Natürliche“ eine heilige Macht. 3) Wer heute über einen eschatologischen Text predigt, muß auch diese sich „säkular“ gebenden quasireligiösen Dimensionen im Blick haben! „Bibeltreue“ als Reproduktion biblischer Formeln auszugeben, genügt nicht. Zur homiletischen Bewältigung der Eschatologie bieten sich, je nach den Grundüberzeugungen der Predigerin / des Predigers, folgende Theoriemodelle an: a) „Politische“ Theologien meist kultur-, öko- und politikkritischer Natur. Ihr Movens ist oft die Angst vor einer „Privatisierung“ des christlichen Glaubens. Im Unterschied zu rechts – links gestrickten Dichotomie-Modellen des alten Klassenkampfes erkennt man Freund und Feind jetzt eher an den „zarten“ Frontverläufen. b) Eine existentialtheologische Übersetzung der Eschatologie: Christlicher Glaube wird hier eher zu einer intellektuellen Vergewisserung, zu einer anderen Möglichkeit des Selbstverständnisses und der Lebensdeutung, zur „gottgeschenkten Gelassenheit“, die allerdings vom „Stoizismus“ („ataraxia“) als einer sich selbst zu verdankenden Distanz zur Welt abzugrenzen ist: „Es geht um die Kunst einer lebensdienlichen Lebensgestaltung. Sie geht aus gesteigerter Selbstreflexion im Lichte des Christusgeschehens hervor“ (Wilhelm Gräb, in: PrSt 2005/2006, Stuttgart 2006, S. 197ff.- Hans Conzelmann, Der erste Brief an die Korinther, Göttingen 1969). Der individuelle Tod ist das eschatologische Datum. c) Eine sich auch auf Bonhoeffers Unterscheidung von „Vorletztem“ und „Letztem“ stützende, allerdings leicht abstrakt bleibende dialektische Verschränkung des „Schon“ und „Noch nicht“: „Da das eschatologische Weltverständnis des Paulus am Christusgeschehen orientiert ist, wird von der Sendung Christi her nicht nur die Abkehr von der Welt, sondern auch eine positive Zuwendung zur Welt in der Liebe zum Nächsten begründet. Diese positive Seite in der paulinischen Weltsicht vermögen die Begriffe ‚Weltentfremdung‘, ‚Indifferenz gegenüber der Welt‘ oder ‚innere Distanz zur Welt‘ nicht voll zu erfassen. Das Verhältnis des Christen zur Welt ist nach der Lehre des Apostels weder Weltförmigkeit noch Weltflucht, sondern ein von Tod und Auferweckung Jesu Christi aus begründeter differenzierter Umgang mit den Gütern und Vorgängen der vergehenden Welt“ (Friedrich Lang, Die Briefe an die Korinther. NTD16 , Tbd. 7, Göttingen 1986, S. 101). d) Erwägenswert ist auch Christoph Bizers Fokussierung des „als ob nicht“ auf den Gottesdienst (PrSt 2005/2006, Stuttgart 2006, S. 203ff.): „Ich möchte die Privatisierung der eschatologischen Heilsgegenwart im individuellen Bewußtsein vermeiden. Ich verstehe deswegen den Gottesdienst in seinem von der Welt abgesonderten Kirchengemäuer als eine Gegenwirklichkeit zur Welt, die – was draußen vorgeht – relativiert und vom ‚Ende‘ her umgreift“. 4) Für eine homiletisch brauchbare Übersetzung des Predigttextes halte ich diejenige von Friedrich Lang (a.a.O., S.99, s.o.)

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Als Schreckensbild: Die Gestalt dieser Welt vergeht!

„Die Zeit ist zusammengedrängt. Die Gestalt dieser Welt vergeht“! Dies gehört für Paulus zum Glauben des Christen, der an Jesu Tod und Auferstehung seinen Anhalt hat. Das mag uns zunächst an Sekten mit ihrer „Fünf-Minuten-vor Zwölf“-Botschaft erinnern. Inzwischen ist das aber längst „salonfähig“ geworden! Eine ähnliche Botschaft findet sich heute nicht nur in der „Bild-Zeitung“, sondern auch in „seriösen“ Blättern und Fernsehsendungen. Da verbindet sich nicht nur der „Terrorismus“ mit Ängsten und Horrorvisionen, die sich schnell ins Apokalyptische steigern. Ein dankbares Objekt sind hier zum Beispiel auch Kernkraft, Lebensstil, Klimawandel und Erderwärmung. Mögen auch viele Meinungen über die Negativentwicklung unserer Welt – vom Artensterben über Waldsterben, Überbevölkerung, Hunger und Armut, Umweltverschmutzung usw.- wissenschaftlich auf tönernen Füßen stehen: Das spielt für ihre bewußtseinsmäßige Wirksamkeit kaum eine Rolle. Es geht hier eher um „Religion“ als um „Wissenschaft“! Auch wenn man nicht genau weiß, was „Natur“ eigentlich ist: Im Unterschied zur „kalten Welt der Moderne“ gilt „das Natürliche“ als eine heilige Macht. Solche „Religion“ hat bekanntlich auch eine Weltordnungsfunktion. Sie scheidet das Unnatürliche, Künstliche, Plastikartige, Globalisierte, Kapitalverseuchte als das „Böse“ vom Echten, Einzigartigen, Handwerklichen, Unentfremdeten, Heimatlichen als dem „Wahren“. „Natur“ ist dann das Schwache, Unterdrückte, „Zivilisation“ ist das Böse, Gemeine, Technische. Könnte es sein, daß viele Rituale, die sich in unseren Alltag eingeschlichen haben –Biogemüse essen, Müll trennen, auf ‚Umweltverschmutzer‘ schimpfen, Vollkorn lieben, McDonald’s verdammen- religiösen Ablaßriten nahe kommen?

Als Hoffnungsbild: Die Gestalt dieser Welt vergeht!

Die Predigt von den „Letzten Dingen“ (so übersetzen wir gewöhnlich den Fachausdruck „Eschatologie“) kann aber auch ganz anders lauten: Wissenschaft, Wirtschaft und gesellschaftlicher Fortschritt werden die Welt verändern und erlösen! Werfen wir hier einen Blick auf die amerikanische Ein-Dollar-Note! Dieser Geldschein ist mehr als ein Zahlungsmittel; er ist so etwas wie eine „Bibel“! Er predigt! Er hat eine Geschichte zu erzählen, eine Heilsbotschaft zu verkündigen. Er verkündet in dem aufgedruckten „Großen Siegel“ die Heilsgeschichte, wie sie sich in der Neuen Welt enthüllte. Dieses „Große Siegel“ zeigt nämlich eine gemauerte Pyramide, deren Spitze ein strahlendes Dreieck krönt, das ein geöffnetes Auge füllt – ein Bild der allsehenden, allwissenden, alldenkenden Dreifaltigkeit. In Latein steht da: „Gott stimmt dem Begonnenen zu“. Unten an der Pyramide ist die Jahreszahl 1776 eingemeißelt, das Jahr der Unabhängigkeitserklärung derUSA. Dieses Jahr ist für den Dollarschein mehr als ein gewöhnliches Datum der Geschichte. Gemeint ist damit der Beginn einer „neuen Ordnung der Zeiten“, welche ein politisches Ereignis, nämlich die Trennung vom Mutterland England schuf. Mancherlei fließt hier zusammen: Freimaurerisches, Rosenkreuzertum und calvinistischer Eifer verkünden den neuen Heilsglauben! Denn: Was hier als „letzte Dinge“ gepredigt wird, meint eine große Zeit- und Weltenwende hin zum Guten. Die Neue Welt, das heißt Amerika, wird zum „Neuen Israel“, zum endzeitlich erwählten Gottesvolk. Die „Wallstreet“ als das Reich Gottes? Die geschäftige Welt des Kommerzes und der Banken, die gnadenlose Realität der Politik soll aus endzeitlichem Gnaden- und Sendungsbewußtsein gelenkt und geleitet sein? Das ist nicht nur für Marxisten eine fremdartige Impression! Aber das steht nun einmal auf der Ein-Dollar-Note!

Als Bild der Gelassenheit: Die Gestalt dieser Welt vergeht!

Neben diesen genannten „Letzten Dingen“ ist es der eigene und des anderen Tod, der uns bestimmt. Und Leben auf dieses eigene Ende hin bedeutet doch auch: Die Frage nach dem Sinn unseres Lebens zu stellen. Mancher hat allerdings das Gefühl, daß er vergeblich gelebt hat, daß sein Leben sinnlos ist. Das Leben ist kurz. Manche sterben früh, viel zu früh. Es wäre noch vieles möglich oder wünschbar gewesen. Es ist grausam, daß unser Leben einfach abbricht, daß die Zeit so kurz ist. Denn auch Christen leben gern. Auch Christen stehen mit beiden Beinen auf der Erde. Um mit Paulus zu sprechen: Sie lachen und weinen. Sie heiraten und lassen sich scheiden. Sie kaufen und verkaufen. Sie erfahren Liebe und Haß. Sie geraten in Streit und schließen Frieden. Sie konkurrieren miteinander und sorgen sich um das gemeinsame Wohl. Christen sind hier Menschen wie andere auch. Sie wollen etwas aus ihrem Leben machen.

Und doch gibt es da einen feinen Unterschied, auf den Paulus in unserer Briefstelle aufmerksam macht: Ihr Christen könnt über euer Leben und Tun anders denken, euch anders verstehen, eine andere Einstellung zu euch selbst und zu den Dingen des Lebens gewinnen! Ihr könnt euer Leben bewußter führen und zuweilen auch anders gestalten, nämlich: „Haben, als hätte man nicht“! Das gelingt nicht einfach aus eurer eigenen Kraft, sondern fließt aus dem Christusgeschehen heraus. Es ist schon ein Unterschied, sagt Paulus, ob jemand sich in letzter Instanz zum Gott Jesu Christi gehörig weiß, ob er durch die Taufe zur christlichen Gemeinde gehört, oder ob er sein eigener Herr sein will. Jesus, der Gekreuzigte und Auferstandene, eröffnet die Möglichkeit zu einer anderen Betrachtung und Deutung des Lebens. Da wird uns deutlicher, daß unser Leben begrenzt ist. Gleichzeitig führt uns diese Betrachtung und Deutung über uns und die Dinge dieser Welt hinaus. Es geht nicht einfach um Rückzug aus der Welt. Bewahre dir aber in der Welt auch die nötige Gelassenheit, denn du weißt: Es ist dieses Leben hier nie schon alles und das Ganze gewesen. Es steht noch etwas aus: Die Auferstehung von den Toten, die neue Schöpfung. Das wird hier alltagspraktisch buchstabiert und eingeübt. Von Jesu Tod und Auferstehung herkommend sagt Paulus: Lernt die Kunst der rechten Gestaltung eures Lebens! Aber übernehmt euch dabei nicht! Hütet euch vor neuen Gesetzen, die euch wieder erdrücken! Mit Jesus in einem neuen Leben wandeln, in dem dieses „Haben, als hätte man nicht“ gilt, heißt: Schon hier und jetzt die Chance der Freiheit zu einer anderen Sinneinstellung, zur Selbstbestimmung, zu einer bewußten Lebensgestaltung zu haben, also eine andere Sicht der Dinge, ein anderer Maßstab ihrer Bewertung. „Haben, als hätte man nicht!“ – da wird für Paulus die Freiheit eines Christenmenschen eingeübt.

Freiheit im Sinne des Paulus darf aber nicht mit Beliebigkeit verwechselt werden. Das wäre nur eine neue Fremdsteuerung. Paulus beschreibt hier diese Freiheit als eine Qualifikation des inneren Menschen und seines Selbstverständnisses. Er beschreibt diese Qualifikation in unserem Briefabschnitt als Haltung der Gelassenheit. Gemeint ist damit die Fähigkeit, sich aus innerer Einsicht so zu verhalten, daß es der jeweiligen Situation, daß es den eigenen Bedürftigkeiten und den Bedürftigkeiten der anderen angemessen ist. Paulus sagt: Ihr könnt euer Leben nicht heil und auch nicht vollkommen machen. Das braucht ihr auch gar nicht, weil das Jesu Sache ist. Darum könnt ihr immer wieder auch einen Schritt zurücktreten. Zu einer lebensdienlichen Lebensgestaltung braucht ihr Distanz, die nötige Gelassenheit. Wenn ihr darauf vertraut, daß mit der vergehenden Zeit zugleich der gekreuzigte und auferstandene Christus seine Arme weit ausbreitet und auf euch zukommt, dann findet ihr sie.

Christlicher Glaube zum Nulltarif?

Für mich ist das angesichts der vielen Zwänge, denen wir unterworfen sind, eine frohe Botschaft! Aus Erfahrung weiß ich aber, daß sie nicht überall gut ankommt! Gerade auch bei solchen, die mit Ernst Christen sein wollen! Ganz verschiedene, ja gegensätzliche Frömmigkeitswelten wittern hier eine „Relativierung“ der Botschaft Jesu, ihre Ermäßigung zum Nulltarif. „Links“ wie „rechts“, im eher linken „epd–Protestantismus“ und im eher rechten evangelikalen „idea-Protestantismus“ beschwört man gerade „Eindeutigkeit“ und „Entschiedenheit“ gegenüber konkurrierenden Frömmigkeitsstilen, politischen Weltdeutungen und kulturellen Einstellungen als das eigentlich „Christliche“. Also: Gerade nicht „Gelassenheit“, sondern „Bekehrung“ des anderen zur eigenen Position. Die „Volkskirche“ mit ihrem eher offenen „Markt der Möglichkeiten“ an Frömmigkeitsformen und Verhaltensweisen gilt als der (gemeinsame) Gegner einer von Christus direkt abgeleiteten „Entschiedenheit“ und „Eindeutigkeit“. Notfalls macht man noch eine eigene, eine sog. „freie“ Gemeinde auf. [Zuweilen begrüßte man in diesem Milieu sogar das rot-grüne „Antidiskriminierungsgesetz“, weil man glaubte, dadurch den Sektierervorwurf besser abwehren zu können.] Was man hier schlicht vergißt, ist die einfache Einsicht: Durch die Relativierung der überkommenen Bekenntnisse und Kirchenlehre hat sich das Schwergewicht auf die Religion des Einzelnen verlagert. Ein Blick ins Internet zeigt: Nicht mehr der jeweilige „Pfarrer / Pastor / Prediger“ der jeweiligen Gruppe hat das Auslegungsmonopol darüber, was dort als „religiös“, als „christlich“ gelten darf. Das ärgert nicht Wenige. Es läßt sich aber nicht aus der Welt schaffen!

Aber auch hier gilt die Botschaft des Paulus von der „gottgeschenkten Gelassenheit“! Und zur gottgeschenkten Gelassenheit gehört auch dies: Die Liebe soll das Kriterium, der Maßstab im Umgang miteinander sein. Es gilt darauf zu sehen, was dem andern, insbesondere dem Schwachen hilft und der Erbauung der Gemeinde dient. Das „als ob“ des Paulus meint nicht eine vornehme Zurückhaltung, erst recht keine Gleichgültigkeit nach dem Motto der Freidenker: „Ob Christ, ob Jud, ob Hottentott – wir glauben all an einen Gott“! Es geht um die Fähigkeit, sich bewußt zu allem zu verhalten, was das Leben fordert, was es beglückend, was es schwer macht. Es geht um die Kunst einer lebensdienlichen Lebensgestaltung. Und für diese gilt: Eine Wahrheit, die in erster Linie Wahrheit für mich ist, ist darum doch Wahrheit und Leben. Das göttliche Leben ist in unserer irdischen Erfahrung nicht ein Eines, sondern ein Vieles. Das Eine in dem Vielen zu ahnen, das aber ist das Wesen der Liebe (formuliert nach Ernst Troeltsch).

Der Gottesdienst als Ort der Einübung der Gelassenheit

Gottgeschenkte Gelassenheit: Das fordert den Einzelnen heraus. Wird er damit aber nicht überfordert? Gerade im 1. Korintherbrief geht Paulus mehrfach auf den Gottesdienst ein. Und der Gottesdienst in seinem von der Welt abgesonderten Kirchengemäuer kann das, was draußen vor sich geht, relativieren, Raum für Gelassenheit schaffen! Ist Paulus damit aber nicht ein „Ausnahme-Protestant“? Hat es der Protestantismus nicht eher mit dem Ethos, mit dem Handeln und weniger mit der Lehre und dem Gottesdienst zu tun? Schon um 1860 schrieb einer meiner Vorgänger über den Darmstädter Kirchenbesuch: „Sonntags war die Hofloge in der Hofkirche nur schwach besetzt: Die Großherzogin Mathilde war katholisch, und der Großherzog Ludwig III., ein rechter Darmstädter Spießer, war unkirchlich“. Der Darmstädter Hofgerichtsadvokat Buchner fiel bei seinem sonntäglichen Gottesdienstbesuch dadurch auf, daß er das Gesangbuch sichtbar in der Hand trug, was als ein Bekenntnis gewertet wurde. Ist die Darmstädter „Hofloge“ heute nicht fast überall zu finden?

Nun sind wir hier zum Gottesdienst zusammengekommen! Zum Gottesdienst gehört auch das Heilige Abendmahl! Jesus Christus lädt uns als Gäste an seinen Tisch. In der orthodoxen, in der römisch-katholischen, in der anglikanischen und in der lutherischen Abendmahlsliturgie heißt es:

„Wahrhaft würdig und recht, billig und heilsam ist‘s,
daß wir dir, heiliger Herr, allmächtiger Vater, ewiger Gott,
allezeit und allenthalben Dank sagen durch Christum, unsern Herren…
Durch welchen deine Majestät loben die Engel,
anbeten die Herrschaften, fürchten die Mächte;
die Himmel und aller Himmel Kräfte samt den seligen Seraphim
mit einhelligem Jubel dich preisen.
Mit ihnen laß auch unsre Stimmen uns vereinen
Und anbetend ohn‘ Ende lobsingen“.

Ein großartiges Bild in einer poetischen Sprache! Gemeinsam mit Gott und seinem himmlischen Hofstaat feiern wir hier in der Kirche als dem sichtbar gewordenen neuen Jerusalem Gottesdienst! Wir haben das bestimmt schon einmal gesehen: Die Kirchengebäude vor allem des Mittelalters bergen nicht nur die Schar der irdischen Gottesdienstbesucher. Mosaiken, Gemälde oder Plastiken von Heiligen und Engeln an den Wänden, in den Fenstern und in den Gewölben repräsentieren zugleich Gottes himmlischen Hofstaat, in den die irdische Gemeinde einbezogen wird. Mit den Tausenden von Engeln und den unzähligen bereits Vollendeten bilden die noch lebenden Gläubigen die Festversammlung des himmlischen Jerusalem. Und wir werden aufgefordert, unsere Stimmen mit dem anbetenden Lobpreis der Engel, Herrschaften und Mächte des Himmels zu vereinen. Wir werden so zu Teilnehmern der „himmlischen Liturgie“. Was bis zum letzten „Amen“ im Gottesdienst folgt, ist also nicht einfach Alltagswelt, sondern Gotteswirklichkeit. Wir beten: „Dein Reich komme!“ Draußen mag alles seinen Gang weitergehen, wenigstens vorerst. Aber hier rufen wir Gott herbei. Er kommt. Nicht automatisch, und bei jedem auch anders. Er bleibt verborgen und läßt doch in der Kirche sein Reich beginnen. Christus ist der Wiederkommende, dem alle Gewalt im Himmel und auf Erden gegeben ist. Er kommt vom Ende der Zeit her auf uns zu, als Heiland und Bruder. Er spendet mit ausgebreiteten Armen Heil und Segen. Segen verwandelt die Gesegneten mit ihrem Geschick, mit ihren Freuden und mit ihrem Leiden, in Geschwister des kommenden Christus. Das ist der Rahmen, den Paulus in unserem Predigttext aufzeigt. Das ist auch der Raum für die gottgeschenkte Gelassenheit.

Vielleicht sagt jetzt Jemand: „Lieber Paulus! Das ist viel zu abgehoben!“ Paulus würde sagen: „Religion hebt immer ab! Wer aber aus dem Raum der Religion den Alltag wieder betritt, geht fest und sicher!“

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