Zumutungen
Jeremias Brief ist seiner Zeit weit voraus und in unserer noch immer nicht angekommen
Predigttext: Jeremia 29,1.4-7.10-14 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
1 Dies sind die Worte des Briefes, den der Prophet Jeremia von Jerusalem sandte an den Rest der Ältesten, die weggeführt waren, an die Priester und Propheten und an das ganze Volk, das Nebukadnezar von Jerusalem nach Babel weggeführt hatte [2 - nachdem der König Jechonja und die Königinmutter mit den Kämmerern und Oberen in Juda und Jerusalem samt den Zimmerleuten und Schmieden aus Jerusalem weggeführt waren -, 3 durch Elasa, den Sohn Schafans, und Gemarja, den Sohn Hilkijas, die Zedekia, der König von Juda, nach Babel sandte zu Nebukadnezar, dem König von Babel] 4 So spricht der HERR Zebaoth, der Gott Israels, zu den Weggeführten, die ich von Jerusalem nach Babel habe wegführen lassen: 5 Baut Häuser und wohnt darin; pflanzt Gärten und esst ihre Früchte; 6 nehmt euch Frauen und zeugt Söhne und Töchter, nehmt für eure Söhne Frauen und gebt eure Töchter Männern, dass sie Söhne und Töchter gebären; mehrt euch dort, dass ihr nicht weniger werdet. 7 Suchet der Stadt Bestes, dahin ich euch habe wegführen lassen, und betet für sie zum HERRN; denn wenn's ihr wohlgeht, so geht's auch euch wohl. [8 Denn so spricht der HERR Zebaoth, der Gott Israels: Lasst euch durch die Propheten, die bei euch sind, und durch die Wahrsager nicht betrügen, und hört nicht auf die Träume, die sie träumen! 9 Denn sie weissagen euch Lüge in meinem Namen. Ich habe sie nicht gesandt, spricht der HERR.] 10 Denn so spricht der HERR: Wenn für Babel siebzig Jahre voll sind, so will ich euch heimsuchen und will mein gnädiges Wort an euch erfüllen, dass ich euch wieder an diesen Ort bringe. 11 Denn ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe, spricht der HERR: Gedanken des Friedens und nicht des Leides, dass ich euch gebe das Ende, des ihr wartet. 12 Und ihr werdet mich anrufen und hingehen und mich bitten und ich will euch erhören. 13 Ihr werdet mich suchen und finden; denn wenn ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet, 14 so will ich mich von euch finden lassen, spricht der HERR, und will eure Gefangenschaft wenden und euch sammeln aus allen Völkern und von allen Orten, wohin ich euch verstoßen habe, spricht der HERR, und will euch wieder an diesen Ort bringen, von wo ich euch habe wegführen lassen.Exegetisch-homiletische Annäherungen
Beginnen wir die Predigtvorbereitung mit einem Stadtbummel. Er kann in Köln beginnen, aber auch in Basel, Bremen, Erfurt, sogar in Brüssel. An Außen- oder Innenfassaden der Rathäuser treffen wir auf Jeremia. Er gehört zu den sog. acht Rathauspropheten, die die Gerechtigkeit verkörpern sollen, die ein Gemeinwesen ziert und ihm Zukunft verleiht. Aus dem Brief des Jeremia an die Exilierten in Babylon überdauert V. 7 – in Stein gehauen – auch die wirren Zeiten, von denen Rathäuser künden. Wörtlich übersetzt: Fragt dem Frieden der Stadt nach. Frieden meint alles, was Wohlergehen, gutes Leben und erfülltes Zusammenleben ausmacht. Die LXX bietet: Fragt dem Frieden des Landes nach! In V. 13 wird wie in V. 7 dasselbe Wort für „suchen, fragen“ im Hebräischen verwendet. „Gott suchen“ und den „Frieden suchen“ fallen ineinander, ohne deckungsgleich zu werden. Nach Ez. 3,15 wohnen die Exilierten wohl in einem Siedlungsgebiet zusammen. Stärkung der Familien und wirtschaftliche Absicherung, aber auch die Kooperation mit der Bevölkerung um einen herum sichern überhaupt erst ein Überleben in der Fremde. Jeremia gibt eine Gewissheit, die nicht von selbst einleuchtet: JHWH wird sich in der Geschichte erweisen, weil er treu ist. Wann? In dem Unheil? In Babylon? Oder erst danach? Aber wann danach? Damit ist dann auch der Stadtbummel schon zu Ende. Wir sitzen mit dem Brief des Jeremia wieder allein am Schreibtisch. Wir denken an Menschen, die von weit her gekommen sind und jetzt in unserer Stadt, unserem Dorf wohnen. Ostpreußen, Pommern, Schlesier, Sudetendeutsche - Menschen, für die Flucht und Vertreibung keine Fremdworte sind. Aber wir sehen auch Menschen vor uns, die in unserer Nachbarschaft angekommen sind, aber fremde Namen tragen und fremde Geschichten erzählen. Sie sind vor Krieg geflohen, vor Folter und Gefängnis. Vor wirtschaftlicher Not auch. Sie suchen bei uns Frieden und einen neuen Anfang. An dieser Stelle könnte der Wunsch aufkommen, einen Brief des Jeremia an die Babylonier zu finden …. Aber wir haben nur den Brief an die Exilierten. Und eine große Aufgabe. Jeremia schreibt einen Brief an die judäische Oberschicht, die im Zuge der ersten Einnahme Jerusalems im Jahre 597 v.Chr. nach Babylonien verbannt worden war. Der Brief ist deswegen so ungewöhnlich, weil er an einem Wendepunkt der Geschichte und der Lebensentwürfe (Biographien) Orientierung gewährt, aber nicht ohne neue Konflikte – vor allem in der Innensicht – heraufzubeschwören. Es ist nicht nur ein Trostbrief, den Jeremia den Verbannten schreibt – er mutet ihnen viel zu (in des Wortes doppelter Bedeutung). Selbst der Leser, Jahrhunderte danach, hält an vielen Stellen den Atem an. Jeremias Brief bildet die literarische Grundlage für den erheblich jüngeren Text in Jer. 29,1-14 (als Predigttext schon ausgedünnt), der Wachstumsspuren sichtbar zurückgelassen hat. Diese Beobachtung, hier nicht näher spezifiziert, ist nicht ohne Bedeutung. Der Marburger Alttestamentler, Jörg Jeremias, resümiert: „Während der Brief von Haus aus für eine einmalige, prinzipiell unwiederholbare Situation geschrieben war – das Interesse an der Einmaligkeit der Situation bezeugt V. 3 durch namentliche Nennung der Königsboten, die den Brief überbringen sollen -, übersetzen ihn die zugewachsenen Verse ins Grundsätzliche, immer wieder Begegnende im Blick auf spätere Generationen, die nicht mehr in der Situation der ersten Adressaten leben“. Wenden wir uns dem Brief zu, bevor wir seine Auslegung im Text selbst anstrahlen. Die Situation ist schnell erzählt: 597 wird Jerusalem von Nebukadnezar umzingelt. Am 16. März kapituliert König Jojachin. Die handwerkliche und geistige Oberschicht wird deportiert. In Babylon können die Verbannten durchaus ein eigenes Leben führen, begrenzt sogar eine Selbstverwaltung („Älteste“) aufbauen, Grundbesitz erwerben und Kontakte mit der alten Heimat pflegen. Dass sie in einem Gefängnis leben würden, konnten sie ehrlicherweise nicht sagen. Aber was sie bewegt und zu schaffen macht, ist die religiöse Verohnmachtung: fern vom Tempel in Jerusalem, fern von JHWH, fern von den alten Überlieferungssträngen, fern von den bergenden Geschichten der Väter. Weippert hat das die fehlende „kultische Rückversicherung ihres Glaubens“ genannt. Der Brief, der ihnen zugestellt wird, ist zwar ein Brief aus der Heimat, entwindet sie ihnen aber. Der Brief muss eine herbe Enttäuschung für sie gewesen sein, denn in nicht weniger als 5 Zumutungen (Mutmachungen gleich Verheißungen) werden sie ganz neu auf die „Ursprünge“ verwiesen: 1. Zumutung: Das Exil ist nicht von kurzer Dauer , ein Ende nicht kalkulier. Sich einrichten – auf einem Tiefpunkt – bleibt nicht Alptraum, sondern wird Überlebensstrategie. 2. Zumutung: Hinter dem grausamen Widerfahrnis sind nicht die bösen Babylonier auszumachen, sondern JHWHs strafende Hand (V. 7.a: „dahin ich euch habe wegführen lassen“). 3. Zumutung: Ein fremder Acker soll bebaut werden. Bislang galt als ausgemacht, dass es kein härteres Geschick geben könne, als in fremden Land sterben zu müssen. Fremdes Land war unrein (Amos 7,17; Hosea 9,3f.). Die Erde Babyloniens war nicht neutral – die Aufforderung im Brief „heiligt“ die fremde Erde. Vgl. V. 7. Dass JHWH an allen Orten ist, wird besonders in der Berufungsvision des nach Babylon verschleppten Propheten Ezechiel bezeugt: Der Thron des göttlichen Weltenkönigs hat Räder erhalten, mit denen er nach – Babylon fährt. Wo er ist, ist kein Feindesland! 4. Zumutung: Die Verbannten sollen nicht aussterben – sie sollen sich vermehren! Exegetisch ist zwar umstritten, ob auch Ehen gemeint sind, in denen der Partner, die Partnerin babylonisch ist, aber im Duktus der Argumentation liegt es nahe, genau das zu meinen. V. 6 und V. 7 sind miteinander, nicht gegeneinander zu lesen. Sowohl in der vom Deuteronomium beeinflussten Literatur (Deuteronomium 7,3f.; Josua 23,12f.) als auch in der Reformpolitik der Bücher Esra (9,10-12) und Nehemia (10,3f.) werden Mischehen strikt als mit JHWHs Willen unvereinbar abgelehnt. Verständlich wird diese Exklusivität in der nachexilischen Zeit, als Glaubensindifferenz und –gefährdung die Identität des Volkes Gottes bedrohten, aber Jeremia hilft den Exilierten, an einem Tiefpunkt ihrer Geschichte falsche Sicherheiten (dazu gehören auch Traditionen) hinter sich zu lassen. Nicht Wahrung der Tradition verspricht einen neuen Anfang, sondern Vermehrung. Nicht zuletzt wird die Erinnerung an die Schöpfungsgeschichte wach – die am Anfang von allem steht. 5. Zumutung: Jeremia erwartet von den Exilierten, dass sie für die Feinde beten – ungeachtet leidvoller Erfahrungen mit Tod und Vertreibung. In gewisser Weise wird schon die Zumutung zur Feindesliebe in der Bergpredigt sichtbar. Die Sorge um das Wohl der Feinde ist zudem Sorge um das eigene Wohl. Im Gebet wird jede Abschottung, Beschränkung oder Abgrenzung überwunden. Das bei Jubiläen und vielen Sonntagsreden beliebte Motto „Suchet der Stadt Bestes“ hat jedoch deutliche Abnutzungsspuren, weil der entrüstete Protest des Propheten Schemaja gegen den Brief des Jeremia (V. 24-28) keine Funken sprüht! Ein Hand voll Zumutungen! Man kann sie auch an einer Hand abzählen, vermag sie aber nicht zu bändigen. Jeremias Brief ist seiner Zeit weit voraus – und in unserer noch immer nicht angekommen. Da trifft es sich gut, im Predigttext selbst auf jene Spuren zu stoßen, die der „zeitlosen“ Aneignung gewidmet sind, den Brief also seiner ursprünglichen Situation entwinden, um ihn jeweils neu wahrzunehmen. Durch die historische Einkleidung der VV 1b-2, gezielt spätere Leser im Blick, und – vor allem – durch die kommentierenden jüngeren VV 8-14 wird der Brief „generalisiert“. 1. Weiterführung: In V. 8f. wird die fehlgeleitete und illusionäre Hoffnung der Exulanten und die nüchterne Sicht der Zukunft, wie sie im Brief zu finden ist, mit neuen Perspektiven gedeutet: es geht um „wahre“ und „falsche“ Prophetie! Das Buch Jeremia ist von dieser Gegenüber- und Klarstellung besonders geprägt, auch und gerade in den Kapiteln 27-28. Die von den Exulanten gepflegte Hoffnung wird als Lüge entlarvt, die sich nicht auf JHWH berufen kann, ja sogar gegen ihn gerichtet ist. JHWH richtet, schlägt, verbannt. Jeremia zuckt zusammen (vgl. Jer. 6,11; 23,9 usw.) 2. Weiterführung: VV 10-14 ist ein Heilswort, V. 7 auslegend. Wesentliche Stichworte: V.11 „Gedanken des Friedens“, schalom 3 x in V. 7. – V.12 „anrufen“: Im Hebr. identisch mit „beten für“ V. 7. – V. 3: „suchen“ wie V.7. Vgl. auch Jer. 24,4-7 und 25,11f. Das Gericht ist nicht JHWHs letztes Wort. Allerdings: das Heil ist für das Volk Gottes und kommt nach dem Gericht! Für Jeremia offenbarte sich das Heil jedoch im Gericht und ging über das Volk Gottes hinaus. 70 Jahre Exilsdauer, fast unerträglich lange, nach 25,11f eine „runde“ Zahl, steht hier für eine abgeschlossene und abschließbare Periode. Nach ihr (erst) kann sich JHWHs Heilswillen endlich Bahn schaffen. Jeremias Zumutung wird zu einem prophetischen Trostwort, das dem Leiden Israels ein Leiden JHWHs an diesem Leiden an die Seite stellt.. Die poimenische Ausrichtung nimmt dem Brief seine pro-vocatio, ebnet ihn in gewisser Weise sogar ein und macht ihn zu einem „Sprungbrett“. 3. Weiterführung: V.14 (ab ne’um jhwh) ist der jüngste Zuwachs, der in der LXX auch fehlt. Es geht nicht nur um ein Ende der Exilszeit, sondern um eine Sammlung aus allen Völkern. Die Diasporageschichte des Volkes Gottes wird als bekannt vorausgesetzt, aber nicht als ewig hingenommen. An dieser Stelle wird der Blick weit und offen, legt den – ursprünglichen - Brief aber so aus, als ob die Heimkehr das Ziel wäre, nicht aber das gemeinsame, wenn auch begrenzte Leben in der Fremde.Zur Predigt
Ich will drei Vorschläge machen: 1. Schreiben wir einen Brief! Eine Antwort auf den Brief des Jeremia. Fühlen wir uns in die (ersten) Leser ein: wir wollen nach Hause. Wir wollen nicht bleiben. Wir wollen uns nicht einrichten. Wir wollen die fremde Umgebung, die fremden Menschen nicht. Wir verstehen Gott nicht. Wir haben doch nichts getan … Aber: In dem Brief müsste immer wieder auf den Brief des Jeremia eingegangen werden. Sonst würden wir nur unser Ringen mit dem Text sichtbar machen, aber nicht seine Zumutungen (Mutmachungen gleich Verheißungen). Hinter Jeremia ist schon seine Rezeption gefallen – um Christi willen ist uns dieser Weg versperrt! 2. Die Predigt könnte auch eine Erzählung sein. Die Geschichte einer Flucht. Fremder Fluss. Babel. Geknickte Hoffnungen, gebrochene Biographien, Lebensentwürfe am Ende. Trotz relativer Selbständigkeit. Keine Sklaven, aber … Da kommt Elasa (V. 3). Ein Brief aus der Heimat. Aufregung. Erinnerungen. Und dann: Im Brief steht alles, nur nicht das … was? Kein Wundenlecken. Kein: Weißt du schon. Keine Durchhalteparole. Aber: Eine Hand voller Hoffnungen. Neue. Andere. Mit, in und unter ihnen: Gottesoffenbarung. Herr auch über Verbannung und Verbannte. Herr auch über Ehen und Gebete. Herr auch über fremde Erde. Immer wieder: „Ich will mich finden lassen.“ Das gibt dem Suchen Gewissheit und Freiheit. 3. Eine Liebesgeschichte. Einer aus Israel, vor kurzem erst gekommen (wir können doch nicht dafür, haben auch nichts zu sagen) lernt ein Mädchen aus Babylonien kennen. Sie verlieben sich, wollen ihren Weg gemeinsam gehen … Was sagen die Väter (Mütter wurden nicht gefragt)? Plural: der Vater des Mädchens, der Vater des Jungen? Jeremia wird als Zeuge aufgerufen: Sein Brief hinterlässt auch in Babylonien Spuren. Und wenn dann der erste Enkel, die erste Enkelin mit großen Augen in die Welt schaut … Ein existentieller Zugang, der große Geschichte zu übersetzen vermag. Eine homiletische Grundentscheidung habe ich – für mich – getroffen: den Brief des Jeremia einzubringen. Seine Rezeption, sicher auch kanonisch, ist aber theologisch ein Rückschritt. Das ist kein Werturteil, schon gar keine Abwertung, aber eine Problemanzeige. Im christlichen Gottesdienst tut es gut, den Brief Jeremias zu lesen – und die Weiterführungen im Evangelium zu suchen.Literatur
Wilhelm Rudolph, Jeremia, HAT 12, 3. Aufl., 1968, 181-185. - Norbert Kilpp, Niederreißen und aufbauen. Das Verhältnis von Heilsverheißung und Unheilsverkündigung bei Jeremia und im Jeremiabuch (BThSt 13), 1990, 42-67. - E. Trier, Die Propheten-Figuren des Kölner Rathauses, in: Wallraf-Richartz-Jahrbuch 19, Köln 1957, 157. - Cornelia Krieg, Predigtmeditationen im christlich-jüdischen Kontext 2005/2006, 325-328. - Jörg Jeremias, GPM 95 (2006), 444-450.Ein unerwarteter Gruß aus der Heimat
Sie bekommen gerne Post? Von einem Brief muss ich Euch erzählen. Er hat vor langer Zeit eine lange Reise angetreten. In Jerusalem geschrieben, persönlich überbracht, im Zweistromland angekommen, war er wie ein Gruß aus einer untergegangenen Welt. Was hatte sich in den letzten Jahren nicht alles verändert! Als der babylonische Herrscher Nebukadnezar vor Jerusalem auftauchte, lag die Ahnung in der Luft, dass das nichts Gutes bedeuten könne. Der Jerusalemer König hatte auch zu viel herumlaviert, seine Kräfte falsch eingeschätzt, die richtigen Bündnispartner nicht gefunden. Aber zum Lamento blieb wenig Zeit. Jetzt waren viele Menschen, die Oberschicht besonders, an den Tigris verbannt. Es war ein langer Weg. Beschwerlich. Und mit jedem Meter waren die Hoffnungen, der Glaube, der Mut gebrochen. Das geht viel schneller als man denkt. Und dann der Brief aus der Heimat! Endlich! Ein Lebenszeichen! Neugierig wird er geöffnet. Aber hört selber.
(Lesung Predigttext 1. Teil, V.1.4-7)
Lange Gesichter. Betretenes Schweigen. Was? So lange soll es hier noch dauern? Dass man sich hier häuslich einrichten, sogar heiraten und dann auch noch für dieses fremde Land, diese fremde Stadt beten soll – so eine Enttäuschung! Als sich die erste Überraschung gelegt hat, dann das Wirrwarr der Stimmen, die Widersprüche, die Klagen. Herzzerreißend. Wir wollen nach Hause!
Im Haus einer jüdischen Familie
Elasa und Gemarja heißen die beiden, die den Brief überbringen. Als sie sich auf den Weg nach Hause machen, lassen sie Menschen ratlos und wütend zurück. Klar. Sie waren Opfer einer großen Politik, die sich ihnen entzog. Das wussten die Boten, das ahnten die anderen. Aber wir besuchen jetzt einmal eine jüdische Familie in Babel. Die Tochter, ein hübsches Mädchen, hat sich in einen jungen Babylonier verguckt. Den Eltern und Geschwistern bleibt das nicht verborgen. Nicht auszudenken! Ein Babylonier als Schwiegersohn! Mit Familienanschluss auch für seine Eltern und Geschwister! Freunde, die dann ein und ausgehen! Fremde Sitten und Gebräuche! Ein fremder Glaube! Es ist, als ob die Welt einstürzt. Nicht nur, dass die Babylonier uns einfach die Heimat genommen haben, jetzt setzen sie sich schon an unseren Tisch und legen sich zu uns ins Bett. Aufregung. Das Mädchen wird nicht gefragt, Sie hat nichts zu lachen. Bis einer in der Runde auf den Brief verweist, der aus Jerusalem gekommen ist. Da hat Jeremia doch geschrieben: „…Nehmt für eure Söhne Frauen und gebt eure Töchter Männern, dass sie Söhne und Töchter gebären; mehrt euch dort, dass ihr nicht weniger werdet…“
Während die Familie sich die Köpfe heiß redet, wagen wir einen Blick über den Tellerrand. Was Jeremia schreibt, ist schon eine Zumutung. Nicht nur, dass er den Verbannten keine Hoffnung auf baldige Heimkehr machen kann, nein, dass er sie einlädt, mit den Babyloniern ganz und ungeteilt zusammenzuleben, sitzt wie ein Stachel im Fleisch. Und dann das: Gott hat sein Volk weggeführt. Nicht die Babylonier. Die sind wie Erfüllungsgehilfen. Sie führen nicht den Befehl ihres Gottes, Marduck, aus, nein, sie gehorchen dem Gott Israels. Dem Vater Abrahams, Isaaks und Jakobs. Warum hat Gott wohl sein Volk nach Babylon geführt? Die Antwort führt weit zurück. In schuldbeladene Geschichte. Zu Untreue und Verrat. Aber sie führt auch weit hinaus: zu einer neuen Erkenntnis Gottes. Er heiligt auch die fremde Erde. Sein Wort gilt auch in Babel. Seine Treue ist ungebrochen. „Suchet der Stadt Bestes, dahin ich euch habe wegführen lassen, und betet für sie zum HERRN; denn wenn’s ihr wohlgeht, so geht’s auch euch wohl.“ So ist das in dem Brief Jeremias formuliert. Wohlgehen. Gut leben. Gott hat die Grenzen zwischen Israel und den Nachbarvölkern aufgemacht. Auch die Feindbilder. Auch die alten Rechnungen, die noch nicht beglichen sind. Auch das Ghetto, in das sich Menschen aus Angst zurückziehen. In Babel wird etwas entdeckt: Gott lässt sich nicht in einen Tempel einsperren. Auch nicht in dem von Jerusalem. Große Geschichte her, heilige Tradition hin.
Im Haus einer babylonischen Familie
Sie möchten wissen, wie das Gespräch in der jüdischen Familie weitergegangen ist? Ob Jeremias Rat – Entschuldigung, es ist viel mehr als ein Rat, es ist ein Gebot – angenommen wurde? Aber lauschen wir doch einmal in eine babylonische Familie hinein! Der Sohn des Hauses hat eine Freundin – aus dem Volk der Deportierten, aus Israel. Dass die Familie nicht freiwillig hier ist, wissen alle. Aber in Rede und Gegenrede geht es heiß her: Es ist eine Fremde! Junge, es gibt doch bei uns so viele schöne Mädchen – warum gerade die? Musst du uns jetzt schon so eine ins Haus holen? So groß ist die Stadt nicht, dass es verborgen bleiben könnte. Es fallen die Worte „Schande“, „guter Ruf“, „Familienehre“… Und während in der babylonischen Familie Worte gewechselt werden wie Unterwäsche, könnte uns, den Zuhörern lange danach, etwas aufgehen: Jeremia hat mit seinem Brief auch bei den Babyloniern Unruhe ausgelöst. Im besten Fall: eine heilsame Unruhe. Denn nach dem Gespräch – oder nennen wir es ruhig auch eine Auseinandersetzung – kommen die Beteiligten anders heraus als sie hineingingen. Sie mussten sich darüber klar werden, ob und wo sie die Grenzen ziehen, die sie von den anderen trennen. Jeremia hat in seinem Brief Gottes Weite auch in das Herrschaftsgebiet eines Götzen Marduck gebracht. Der wird zwar als Sieger gefeiert, wenn an den Fall Jerusalems erinnert wird, aber der Gott Israels verschafft sich in Babylon einen Raum, der immer weiter hinausgeschoben wird: bis an die Enden, bis an die Grenzen der Erde. Die Mächtigen werden zu Spielbällen in seiner Hand – und spielen die ihnen zugemuteten Rollen gut. Nur das letzte Wort haben sie nicht. Gott vertraut seinem Volk eine große Aufgabe an: „Suchet der Stadt Bestes, dahin ich euch habe wegführen lassen, und betet für sie zum HERRN; denn wenn’s ihr wohlgeht, so geht’s auch euch wohl.“ So ist das in dem Brief Jeremias formuliert.
Was ein Brief anrichtet
Jeremia schreibt den Verbannten in Babel, dass sie in ihrer neuen Heimat ankommen sollen. Mit Häusern und Gärten, mit Kindern und Enkeln, nicht zuletzt: in dem Gebet für die „neue“ Heimat. Wer sie Gott anvertraut, hat auch seine Vorurteile, seinen Hass, seine Angst bei ihm abgegeben. Was so ein Brief anrichtet! Elasa und Gemarja haben das alles nicht mehr mitbekommen, aber unbestritten: Als sie den Brief Jeremias in Jerusalem in Empfang nahmen und ihn im Zweistromland abgaben, wussten sie nicht, dass sie mitgeholfen haben, Weltgeschichte neu zu schreiben. Eine Geschichte, die die Sehnsucht nach Frieden ebenso birgt wie den Mut, Frieden zu schaffen. Der Stein, den Jeremia in den Tigirs geworfen hat, zieht noch bis heute Kreise auf dem blutigen Wasser. In späterer Zeit – aber was heißt das schon, wenn uns die Verheißung so nahe ist – haben Menschen dem Brief, den Jeremia geschrieben hat, einen hoffnungsvollen Schluss gegeben.
(Lesung Predigttext 2. Teil, V. 10-14)
Ihr werdet es gemerkt haben: In diesem Schluss hat auch der Wunsch, wieder nach Hause zu kommen, in Jerusalem neu anzufangen und Babylon hinter sich zu lassen, eine Stimme bekommen. Aber die Erfahrung in Babylon wird fortan die Geschichte des Volkes Gottes prägen. „Suchet der Stadt Bestes“ heißt „Suchet Frieden“ – und der Schluss fügt hinzu: „Denn ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe, spricht der HERR: Gedanken des Friedens und nicht des Leides …“
Jeremia bewacht das Rathaus
Einen Brief, der Geschichte geschrieben hat, haben wir heute im Gottesdienst gelesen. Wir waren mit einem halben Ohr in zwei Häusern in Babel. Das Gefühl, nichts zu verstehen, hatten wir nicht. So fremd uns die Namen Elasa und Gemarja auch sind. Unsere Vorfahren hatten schon, als sie Rathäuser bauten, auch die Bitte, der Stadt Bestes zu suchen, vor Augen. Den Brief konnten sie nicht in Stein hauen, aber den Propheten. So ist denn als einer der sogenannten „Rathauspropheten“ Jeremia zu sehen, wie er, auf der Fassade, die Geschichte Gottes erinnert. „Suchet der Stadt Bestes, dahin ich euch habe wegführen lassen, und betet für sie zum HERRN; denn wenn’s ihr wohlgeht, so geht’s auch euch wohl.“ Diesen Brief möchte ich weitergeben!