Loben aus der Stille
Mit allen Sinnen jubeln
Predigttext: Lukas 1,67-79 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
67 Und sein Vater Zacharias wurde vom heiligen Geist erfüllt, weissagte und sprach: 68 Gelobt sei der Herr, der Gott Israels! Denn er hat besucht und erlöst sein Volk 69 und hat uns aufgerichtet eine Macht des Heils im Hause seines Dieners David 70 - wie er vorzeiten geredet hat durch den Mund seiner heiligen Propheten -, 71 daß er uns errettete von unsern Feinden und aus der Hand aller, die uns hassen, 72 und Barmherzigkeit erzeigte unsern Vätern und gedächte an seinen heiligen Bund 73 und an den Eid, den er geschworen hat unserm Vater Abraham, uns zu geben, 74 daß wir, erlöst aus der Hand unsrer Feinde, 75 ihm dienten ohne Furcht unser Leben lang in Heiligkeit und Gerechtigkeit vor seinen Augen. 76 Und du, Kindlein, wirst ein Prophet des Höchsten heißen. Denn du wirst dem Herrn vorangehen, daß du seinen Weg bereitest, 77 und Erkenntnis des Heils gebest seinem Volk in der Vergebung ihrer Sünden, 78 durch die herzliche Barmherzigkeit unseres Gottes, durch die uns besuchen wird das aufgehende Licht aus der Höhe, 79 damit es erscheine denen, die sitzen in Finsternis und Schatten des Todes, und richte unsere Füße auf den Weg des Friedens.Exegetisches
Lk 1,68-79 ist eines der vier Cantica aus dem Lukasevangelium (Lk 1,46-55: Magnificat [Vesper]; Lk 1,68-79: Benedictus [Laudes]; Lk 2,14: Gloria in excelsis; Lk 2,29-32: Nunc Dimittis [Complet]). Das Benedictus besteht aus zwei ursprünglich selbständigen Teilen/Strophen. Die erste Strophe (Lk 1,68-75) ist ein „eschatologischer Hymnus“ (Gunkel), der viele Ähnlichkeiten zu den Psalmen aufweist. Die „zukünftigen Taten Gottes werden als bereits geschehen verherrlicht“ (Gunkel). Die zweite Strophe (Lk 1,76-79) ist ein sog. Genethliakon (Erdmann), ein Preislied auf ein neugeborenes Kind, hier auf Johannes den Täufer. Die Heilstaten sind im Modus der Verheißung gehalten. Die beiden Strophen sind durch zahlreiche Stichworte und Leitmotive miteinander verbunden (z.B. besuchen, Herr, Volk, Rettung, Prophet, Barmherzigkeit). Wie die narrativen Traditionen in Lk 1, die christlich überarbeitete Täuferlegenden darstellen, stammt das Benedictus wohl aus Täuferkreisen (nach Vielhauer aus Kreisen, die Johannes als Messias verehren und somit Lk 1,76 (kyrios) auf Gott, nicht auf Christus beziehen). Das Benedictus wurde christianisiert, christologisch gedeutet (Lk 1,76.78), lukanisch überarbeitet (z.B. Lk 1,70) und sekundär mit der Geburtsgeschichte des Johannes verbunden (Scharniervers: Lk 1,67; ursprünglicher Anschluss an Lk 1,64?). Eine sukzessive Einbindung ist wahrscheinlich; ob zuerst das Genethliakon mit der Legende verbunden und der Lobpsalm in einem zweiten Schritt hinzugefügt wurde oder umgekehrt, ist umstritten. Schmithals hingegen sieht im Benedictus eine lukanische Schöpfung, die ein Gegengewicht gegen prämarkionitische Tendenzen im frühen Christentum setzen will.Homiletische Entscheidung
Der Predigttext enthält etliche Schwierigkeiten („hymnisch-dogmatische“ Sprache; „Verheißung-Erfüllung“) und viele Aspekte (Erinnerung an Gottes Heilstaten, jüdische Messianologie, Treue Gottes, eschatologische Hoffnung, befreites Leben vor Gott, Gott lässt sich in einem Kind finden, Einheit von Altem und Neuem Testament, der Prophet Zacharias prophezeit seinem Sohn das höchste Prophetenamt, Erwählung Israels und Erwählung in dem Kind u.a.). Es gilt auszuwählen. Entscheidend sind für mich a) der Festkasus (der erste Advent setzt ein Signal für die kommende Adventszeit) und b) der Gedanke, dass Gott uns - in Christus - besucht (Lk 1,[68].78). Wie sollen wir „Gottes Besuch“ erwarten? Wie bereiten wir uns vor? Hier ist für mich ein Blick auf die Einbettung des Hymnus in die Narration des Lukas aufschlussreich: Nach langem Schweigen spricht Zacharias den Lobpsalm. Ausgerüstet und zugerüstet im Schweigen durch den Geist. Das ist auch der eigentliche Sinn der Adventszeit. Eine Zeit der Einkehr, Besinnung, Buße – und Stille. Um aus ihr heraus zu loben! Hallelujavers: Aus Zion bricht an der schöne Glanz Gottes. Unser Gott kommt und schweiget nicht! (Psalm 50,23a)Literarische Kontexte
Wenn Blüten Worte sind, umgeben Blätter sie wie gesammeltes Schweigen. (Rabindranath Tagore). Verstehen – durch Stille. Wirken – aus Stille. Gewinnen – in Stille. „Soll das Auge die Farben gewahren, so muss es selber zuvor aller Farben entkleidet sein.“ (Dag Hammarskjöld) Das Schweigen der Christen ist ein hörendes, ein demütiges Schweigen. (Dietrich Bonhoeffer) Es liegt im Stillsein eine wunderbare Macht der Klärung, der Reinigung, der Sammlung auf das Wesentliche. (Dietrich Bonhoeffer) Wenn das Meer all seine Kräfte anstrengt, so kann es das Bild des Himmels gerade nicht spiegeln (...); doch wenn es still wird und tief, senkt sich das Bild des Himmels in sein Nichts. (Sören Kierkegaard) Erst das Schweigen tut das Ohr auf für den inneren Ton in allen Dingen. (Romano Guardini)Liedvorschläge
„Macht hoch die Tür“ (EG 1) „Wie soll ich dich empfangen“ (EG 11) „Tochter Zion“ (EG 13, nach der Predigt) „Das Volk, das noch im Finstern wandelt“ (EG 20) „Steht auf und erhebt eure Häupter“ (EG 21) Reizvoll wäre zudem, eine Vertonung des „Benedictus“ in die Predigt einzubauen, um den Lobgesang auch „erklingen“ zu lassen und nicht nur darüber zu reden. Deswegen kann die Predigt ruhig kürzer sein.Liebe Gemeinde!
Zacharias lobt – nach neun Monaten Schweigen
Neun Monate Schweigen. Neun Monate schweigt Zacharias. Von dem Zeitpunkt an, als der Engel ihm verkündet: „Fürchte dich nicht, denn ich habe dein Gebet erhört, und deine Frau Elisabeth wird dir einen Sohn gebären, und du sollst ihm den Namen Johannes geben. Und du wirst Freude und Wonne haben, und viele werden sich über seine Geburt freuen.“ (Lukas 1,13-14). Zacharias ist alt und seine Frau Elisabeth auch; ein ganzes Leben lang haben die beiden vergeblich auf ein Kind gewartet, um ein Kind gebeten und gebetet, dass Gott sie nicht vergesse. Der, an den Gott sich nun erinnert (so die Bedeutung des Namens Zacharias), freut sich nicht, sondern fragt: „Wie, lieber Engel, soll das gehen? Ich bin alt und meine Frau ist es auch.“ Über all das Warten hat Zacharias wohl die Erwartung verloren. Der Priester Zacharias rechnet nicht mit einem Wunder, drum redet er. „Wie, lieber Engel, soll das gehen?“ Der fromme Zacharias dankt nicht, er denkt. Er überschlägt sich nicht vor Freude, er überlegt. Er preist nicht, er problematisiert. „Schweig, Zacharias!“, – sagt der Engel – „Schweig, bis du es siehst!“ Zacharias muss erst die Worte verlieren, um zu verstehen, dass Gott sein Wort hält.
Zacharias schweigt – neun Monate, damit die Worte sich ordnen zum Jubel. Ein Kind wächst in seiner Frau Elisabeth heran, ein wortgewaltiges Kind, der Rufer in der Wüste, Johannes der Täufer. Zacharias schweigt. Wie Elisabeth ist auch er in freudiger Erwartung. Schwanger mit dem Wort.
Als sein Sohn am achten Tag nach der Geburt beschnitten wird, beginnt Zacharias zu reden. Nicht von sich und seiner Geschichte. „Stellt euch vor, auf einmal war ein Engel da und…“ Nein, Zacharias beginnt zu loben. Nicht unbeholfen. Keine holprigen Sätze. Sondern Worte wie Engel sie singen und Propheten sie verkünden. Gereift jede Silbe. Voller Jubel jeder Ton. Geisterfüllt.„Und sogleich wurde sein Mund aufgetan und seine Zunge gelöst, und er redete und lobte Gott.“ (Lukas 1,64)
Zacharias versteht – aus der Stille
Der Priester Zacharias ist zum Propheten geworden. Neun Monate ging er mit den alten Wahrheiten schwanger, um neue Hoffnungen zu gebären. „Gelobt sei der Herr, der Gott Israels! Denn er hat besucht und erlöst sein Volk!“ (Lukas 1,68). Herausgeführt aus der Gefangenschaft, errettet aus der Hand der Feinde, seinen Bund gehalten, Barmherzigkeit und Macht erwiesen, furchtloses Leben in Heiligkeit und Gerechtigkeit ermöglicht. Alte Gewissheiten schon jetzt. Und neue Sehnsüchte. Visionen von der „herzlichen Barmherzigkeit unseres Gottes, durch die uns besuchen wird das aufgehende Licht aus der Höhe, damit es erscheine denen, die sitzen in Finsternis und Schatten des Todes, und richte unsere Füße auf den Weg des Friedens (Lukas 1,78f).
Neun Monate sind diese Worte in Zacharias gereift. Um so sprechen, musste Zacharias stumm werden. Verstummen, um zu verstehen. Zacharias hat diesen himmlischen Maulkorb gebraucht. Vielleicht hat der Priester über all seine Gebete das Beten verlernt? Über all das Worte machen das Reden? Über all die heiligen Handlungen das Heilige selbst vergessen? „Es liegt im Stillsein eine wunderbare Macht der Klärung, der Reinigung, der Sammlung auf das Wesentliche“ (Dietrich Bonhoeffer). Wesentlich sind die Gewissheiten, die Nährboden neuer Hoffnung sind. Gott war da, ist da und wird da sein – „gestern, heute und in Ewigkeit (Hebräer 13,8). Das hat Zacharias verstanden – in der Stille. Nun ist er bereit zum Lob.
Chor/Musik (z.B. Jan Dismas Zelenka, Benedictus Dominus Deus Israel [Canticum Zachariae])
Vorfeiern statt Vorbereiten?
„Zwei Tage noch! Stell, dir vor: Katja kommt in zwei Tagen!“ – Nur für einen kurzen Moment verschlug es Anne die Sprache. „Wow! Das ist ja toll!“ Seit vier Monaten hatte sie ihre Freundin nicht gesehen. Vier Monate: Katja in den USA. Und sie hier. Und nun kommt Katja. Was hat sie ihr nicht alles zu erzählen! Sofort stürzt sich Anne in die Vorbereitung. Zwei Tage ist bald. Die Zeit muss genutzt werden! Anne legt sofort ihre gemeinsamen Lieder auf und es geht los: Fotos raussuchen, Freundinnen anrufen, Partyprogramm planen, Outfit zusammenstellen, Kochbücher wälzen. Zwei Tage fiebrige Hektik und hysterische Freude. Noch zwei Stunden. Katja hat angerufen. In zwei Stunden ist sie bei Anne! Noch mal schnell das gemeinsame Lied voll aufdrehen, dreimal Umziehen, Anekdoten zurechtlegen, noch einmal ein Probelöffelchen Chili, ein Gläschen Prosecco. Inszenierte Vorfreude. 10 Minuten noch. Anne ist leicht schlecht vom vielen Probieren und eigentlich kann sie dieses Lied nicht mehr hören. „Hi, Katja!“ – „Hi, Anne!“ Endlich ist Kaja da. Und Anne – ausgepowert, erschöpft, angetrunken, mundfaul. „Ich hab wohl zuviel vorgefeiert.“
Vorbereiten in der Stille – Loben aus der Stille
Vier Wochen Advent. Wir warten auf die Ankunft des Herrn. Darauf, dass „das aus der Höhe aufgehende Licht uns besuchen wird“ (Lukas 1,78). Die Adventszeit ist eine Zeit der Sammlung und Einkehr. Eine Zeit der Zurüstung und Vorbereitung. Viel ist davon heute nicht zu spüren. Oder zu viel. Überall Weihnachtslieder, Weihnachtsmänner, Weihnachtsgebäck, das ja bekanntlich vor Weihnachten am besten schmeckt. Weihnachtsmärkte, Weihnachtsdüfte, Weihnachtfeiern. Mit jeder Feier scheint der Überdruss zu wachsen: an Plätzchen satt gegessen, an Liedern satt gehört, an Engeln statt gesehen. Manchmal frage ich mich in dieser Zeit: Warten wir noch oder feiern wir schon? Haben wir eigentlich noch Lobgesänge zu geben, wenn Weihnachten da ist, oder haben wir uns in der Vorweihnachtszeit schon ganz verausgabt? In dieser oft zu geräuschvollen Zeit kann man schon Gefahr laufen, Gottes Ankunft zu überhören. Dann, wenn das Vorbereiten zum Vorfeiern wird und der Jubel zum Trubel…
Vier Wochen Advent. Vier Wochen im Wartesaal des Lichtes. Mit jeder Woche wird es heller. Eine Gelegenheit, das Warten zu lernen und die Erwartung zu leben. Sich auf das zu besinnen, was einen trägt und Flügel verleiht. Als ich ein kleines Kind war, hat meine Großmutter nach dem Anzünden der ersten Adventskerze immer gesagt: „Jetzt beginnt die besinnliche Zeit!“ Eine schöne Bezeichnung für Advent. Die Zeit, in sich zu gehen, still zu werden, sich vorzubereiten. Um dann besinnt mit allen Sinnen zu jubeln. Weniger „Advent“ ist mehr Advent. Weniger Weihnachtsmärkte, Weihnachtsfeiern, Weihnachtsgeschenke ist mehr Zeit zur Besinnung. Vielleicht brauchen auch wir wie Zacharias einen adventlichen Maulkorb, einen alternativen Adventskalender.
24 Stunden Stille
Hinter jeder Tür eine Stunde Schweigen. 24 Tage. Hörendes Schweigen. Vielleicht entdecken wir vergessene Wurzeln. Vielleicht begegnen wir versteckten Ängsten. Vielleicht wachsen uns ungeahnte Sehnsüchte. Dann formen sich Worte, entstehen Visionen. Dann ist er zu hören, der „innere Ton in allen Dingen“ (Romano Guardini). Die Gewissheit, dass Gott auf dem Weg zu uns ist – „gestern, heute und in Ewigkeit” (Hebräer 13,8). „Aus Zion bricht an der schöne Glanz Gottes. Unser Gott kommt und schweiget nicht!” (Psalm 50,23a). Erwarten wir ihn – in Stille. Aus ihr erklingt unser Jubel!
Amen.